Sol 9, MfA-Expedition
»Außenteam an Commander, sind bereit zur Abfahrt.« Theo spricht in sein Helmmikrofon. Er sitzt am großen, runden Lenkrad des offenen Rovers, den ihnen die NASA-Leute geliehen haben. Das Gefährt wirkt mit seinen großen Vollgummi-Ballonreifen auf insgesamt vier Achsen, als hätte man drei Quads hintereinander montiert. Durch diese Konstruktion ist das Fahrzeug sehr geländegängig, kann aber trotzdem größere Lasten transportieren. Und in seine drei Abschnitte aufgeteilt, ließ es sich bequem im Laderaum der Endeavour durch das All befördern.
»Verstanden. Ich wünsche euch eine gute Fahrt«, sagt Ewa.
Die Endeavour, das Raumschiff, mit dem die NASA-Astronauten auf dem Mars gelandet sind, ist geräumiger als die alte Dragon-Landekapsel. Aber sie sind auch vierzehn Menschen an Bord eines Schiffes, das für vier konstruiert wurde. Vierzehn Menschen teilen sich zwei Toiletten und eine Dusche. Die vier winzigen Kabinen nutzen sie abwechselnd. Jeder soll den Luxus der Privatsphäre genießen dürfen, und sei es nur für eine Nacht. Ewa hat sich dagegen entschieden, sich als Kommandantin eine Kabine zu reservieren, obwohl die anderen ihr das sogar angeboten hatten. Auf die Moral der Mannschaft hat sich das positiv ausgewirkt, und Ewa arbeitet nun Arbeitspläne für die gesamte Crew aus, sodass niemand an Langeweile leidet. Eine eigene Unterkunft können sie sich erst bauen, wenn die NASA-Crew ihnen die Technik dafür überlässt. Deshalb besteht die wichtigste Aufgabe im Moment darin, den optimalen Bauplatz zu finden. Er sollte möglichst viele Ressourcen bieten – dazu gehören Minerale im Boden ebenso wie Wasser, Sonnenlicht und nicht zu extreme Temperaturen.
Zunächst hatte Ellen Theo bei der Rover-Expedition begleiten sollen. Doch dann hatte Rebecca darum gebeten. Nach ihrer vermutlichen Lebensmittel-Vergiftung war sie überraschend schnell genesen. Theo freut sich, denn die schwarze Südafrikanerin hat er bisher kaum kennengelernt. Beim Briefing war sie noch nicht dabei, also muss er ihr zunächst einiges erklären.
»Lass uns erst einmal ein paar Kilometer fahren«, sagt er, »wenigstens bis wir die Basis nicht mehr sehen.«
»Einverstanden«, sagt Rebecca.
Das achtbeinige Gefährt setzt sich langsam in Bewegung. Theo lässt es absichtlich gemütlich angehen. Er hat den Rover bisher nicht gefahren, also muss er sich erst an die Steuerung gewöhnen. Da jede Achse einzeln angetrieben wird, muss das Fahrzeug zu weitaus mehr in der Lage sein, als man ihm auf den ersten Blick ansieht.
Es geht in Richtung Norden. Auf dem Mars geht die Sonne ebenso im Osten auf und im Westen unter wie auf der Erde. Heute ist es ungewöhnlich hell und klar. Die rötliche Ebene scheint sich unendlich vor ihnen auszudehnen.
»Es sieht aus, als müssten wir die nächsten drei Wochen durch diese Ebene fahren«, sagt Theo.
»Oh, das täuscht«, antwortet Rebecca. »Durch den geringeren Radius des Mars ist der Horizont viel näher. Ich schätze, es sind kaum mehr als drei Kilometer. In einer Viertelstunde ist von der Endeavour nichts mehr zu sehen.«
»Du bist Geologin?«, fragt er.
»Eigentlich bin ich Architektin. Für die MfA habe ich mich in Geologie eingearbeitet. Ich habe aber auch mal ein halbes Jahr in einem Vermessungsteam gearbeitet.«
Theo wundert sich, dass er so wenig über seine Kollegin weiß. Dabei haben sie sechs Monate gemeinsam auf engem Raum verbracht. Anscheinend hat erst die Katastrophe die Verhältnisse im Team verändert. Vorher haben sich alle abgekapselt.
Er dreht sich um. Die Endeavour ist tatsächlich verschwunden. Vorsichtig geht er vom Gas. Der offene Rover wird wie sein geschlossenes Äquivalent mit einer Methan-Brennstoffzelle angetrieben. Das Fahrzeug kommt zum Stehen, und Theo steigt ab. Die Muskeln an den Innenseiten seiner Oberschenkel schmerzen. Er sieht, dass Rebecca ebenfalls breitbeinig geht.
»Dir geht es auch so?«, fragt er lachend.
»Der Raumanzug ist zum Reiten nicht optimal«, sagt sie. »Ich hoffe, wir gewöhnen uns daran.«
Theo fällt ein gut einen Meter hoher, nahezu würfelförmiger Felsblock ins Auge.
»Das wäre ein guter Tisch.« Er zeigt darauf.
»Wenn du jetzt noch Kaffee und Kuchen auspackst, können wir ein Picknick veranstalten«, sagt Rebecca.
»Dummerweise können wir die Helme nicht absetzen. Da musst du mit dem Zeug aus dem Trinkrohr vorliebnehmen.«
»Vielleicht in hundert Jahren«, sagt Rebecca, »Wenn das Terraforming erfolgreich war.«
Theo stützt sich mit den Armen auf dem Felsblock ab, zieht sich hoch und setzt sich. Rebecca folgt ihm. Sie sehen in Richtung Südosten. Die Sonne nähert sich ihrem Höchststand.
»Glaubst du daran?«, fragt er.
»Daran? Oh, das Terraforming. Ich weiß nicht. Es ist das ultimative Ziel. Eine zweite Erde, dafür bin ich zu MfA gekommen.«
»Aber als Geologin müsste dir ja klar sein …«
»Dass der Mars zu leicht ist, um eine Atmosphäre wie die Erde zu halten. Ja, das stimmt. Ich glaube, dass wir gar nicht in der Lage sind, uns die Zukunft vorzustellen. Vielleicht formen wir auch besser nicht den ganzen Planeten, sondern bloß uns selbst um, damit wir hier besser existieren können.«
»Du meinst, wie die Inuit, die sich eben warm anziehen, um in der Arktis zurechtzukommen?«
»Stärker noch. Ich meine unsere Biologie. Vielleicht kann unsere Haut dereinst als Druckanzug funktionieren?«
»Wir müssten trotzdem stets Atemluft mit uns herumtragen«, sagt Theo.
»Das ist mir lieber, als dauerhaft in Höhlen unter dem Boden zu leben, wie es manche vorschlagen.«
»Auf den Himmel könnte ich auch nicht verzichten.«
Theo sieht nach oben. Er bemerkt ein paar zarte Federwölkchen, die nach Norden ziehen. Sie bestehen aus gefrorenem Wasserdampf.
»Siehst du? Da ist das Wasser, das wir suchen«, sagt er.
»Dann folgen wir doch einfach den Wolken«, antwortet Rebecca und springt leichtfüßig von dem Felsblock hinab.
Es ist Zeit, die Fahrt ein bisschen zu beschleunigen.
»Achtung, festhalten«, warnt Theo, dann schiebt er den Gashebel nach vorn. Der Rover ist viel leichter als die geschlossene Variante, dadurch kann er bei ähnlichem Verbrauch schneller fahren. Das Gelände vor ihnen sieht jedoch nur auf den ersten Blick eben aus. Sie merken schnell, dass es jede Menge kleiner Buckel und Erhebungen gibt. Theo hat genug damit zu tun, den größeren Felsbrocken auszuweichen, die ein Riese wie Salzkörner auf der Ebene verteilt hat. Es ist eine wilde und laute Fahrt, ihr Gefährt springt in der niedrigen Mars-Gravitation wie ein Gummiball in die Höhe und landet wieder krachend auf seinen acht Rädern. Sie ziehen eine lange Staubfahne hinter sich her. Aus der Ferne, stellt sich Theo vor, könnte man sie für einen der riesigen Sandwürmer halten, wie sie die Wüstenei des Science-Fiction-Planeten Dune durchpflügen. Aber dies hier ist die Realität.
»Ich … fürchte, lange … halte ich … das nicht aus!« Rebecca presst den Satz stoßweise im Takt des Auf und Ab hervor.
»Aber … ist lustig!«, ruft sie.
»Sag … Bescheid, wenn … nicht mehr geht … stell … locker auf die … Füße und … abfedern«, sagt Theo. Bei einem Blick über die Schulter sieht er, wie Rebecca ihre Haltung ändert.
»Besser … so«, sagt sie.
Aber natürlich hat sie Recht. Schon nach einer halben Stunde spürt Theo die Muskeln in seinen Oberschenkeln. Locker zu bleiben ist da gar nicht so einfach. Er würde bis zum Sonnenuntergang in etwa neun Stunden gern wenigstens 200 Kilometer schaffen. Doch in diesem Tempo hält er nicht durch. Er zieht den Hebel wieder etwas nach hinten. Bei 20 Kilometern pro Stunde sind die Sprünge, die der Rover macht, nicht mehr so hoch, dass man nur im Stehen blaue Flecken vermeidet. Er setzt sich. Sein Hinterteil wird heute Abend sicher auch schmerzen, aber das ist Zukunft, hier ist jetzt.
»Würde jetzt gern meinen Helm abnehmen und die Haare im Wind flattern lassen«, sagt Rebecca. Sie hat sich ebenfalls gesetzt.
»Bei der dünnen Atmosphäre würde nicht viel passieren, fürchte ich«, sagt Theo.
»Ja«, Rebecca schlägt sich mit der Hand gegen den Helm, »das ist auch wieder wahr. Da müssten wir ja eher 100 fahren, damit sich etwas tut.«
»Wenn’s reicht«, mein Theo. »Aber schöne Vorstellung trotzdem, mit Sonnenbrille gegen den Staub durch die Marslandschaft zu rasen.«
»Müsste es nicht reichen, eine Atemmaske zu tragen?«
»Tagsüber, wenn es warm genug ist, bestimmt«, sagt Theo. »Dass dann die Augen herausspringen, ist jedenfalls Quatsch.«
»Du wirst es nicht glauben, aber meine Mutter hat mir tatsächlich solche Ammenmärchen erzählt. Aber ich kann es ihr nicht übelnehmen. Sie war ein einfacher Mensch, doch sie hat es mir mit ihrer Arbeit ermöglicht, erst ans College und dann an die Uni zu gehen.«
»Sie war?«
»Ja, meine Mutter und mein Bruder sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, sagt Rebecca leise. »Sonst wäre ich nicht hier. Bis dahin waren wir wirklich eine glückliche Familie.«
»Und dein Vater?«
Rebecca antwortet nicht sofort. Theo ärgert sich, dass er überhaupt gefragt hat. Rebecca ist ohne Rückflugticket zum Mars geflogen. Er hätte sich denken können, dass dann mit dem Vater auch nicht alles in Ordnung sein kann.
»Mein Vater …«, beginnt sie schließlich, als Theo schon gar nichts mehr erwartet, »mein Vater hatte am Steuer gesessen. Jemand hatte ihnen die Vorfahrt genommen. Mein Vater war eindeutig nicht der Verursacher des Unfalls, aber er hielt sich trotzdem für schuldig, denn er hatte den Autopiloten ausgeschaltet, um selbst das Fahren nicht zu verlernen. Die Systemdiagnose ergab, dass der Autopilot das nahende Fahrzeug eine Sekunde eher bemerkt hat. Er hätte vielleicht gerade noch ausweichen können.«
»Das ist hart«, sagt Theo. »Und es ist klar, dass jemand danach nicht mehr derselbe ist.«
»Das ist leider zu wahr. Es hat meinen Vater gebrochen. Er hat dann versucht, sich in den Alkohol zu retten.«
»Und das konntest du dir nicht mit ansehen.«
»Ich habe immer wieder versucht, ihn da rauszuholen. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass er mich mit in sein Loch zieht. Dann habe ich mich bei der Initiative beworben.«
»Das hast du bei der Bewerbung aber nicht so gesagt, oder?« In dem langwierigen Auswahlprozess hatten die Psychologen streng darauf geachtet, nur psychisch absolut stabile Kandidaten ohne Altlasten zu akzeptieren.
»Natürlich nicht«, sagt Rebecca. »Ich habe mir eine schönere Geschichte ausgedacht. Du bist der einzige hier, der die Wahrheit kennt.«
Theo ist gerührt. Er kann sich nicht erinnern, dass ihm schon einmal jemand eine so intime Lebensgeschichte berichtet hat. Womit hat er sich Rebeccas Vertrauen denn überhaupt verdient? Er macht doch bloß immer seinen Job.
»Du könntest mich noch über unser Ziel aufklären«, sagt Rebecca. »Ich habe das Briefing verpasst.«
»Richtig. Die wichtigste Ressource, die wir für unsere Siedlung brauchen, ist Wasser.«
»Klar.«
»Gefrorenes Wasser gibt es am Nordpol jede Menge, aber dort ist es uns zu kalt. Man geht aber davon aus, dass bis etwa 40 Grad nördlicher Breite Eis bis einen Meter unter der Oberfläche stabil sein müsste. Auf der Erde ist das ungefähr der Breitengrad von Ankara, Peking oder Philadelphia. Wir wollen dieses Eis finden. Dazu haben wir ein Bodenradar, wir brauchen also nicht zu graben.«
»Und du hast mich«, sagt Rebecca. »Es gibt Geländeformen, bei denen Wasser mit höherer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.«
»Damit habe ich mich ehrlich gesagt noch nicht befasst.«
»Am Grund von Kratern zum Beispiel, oder an nordwärts ausgerichteten Hängen. Eigentlich überall dort, wo früher mal Wasser oder auch Gletscher geflossen sein könnten, die später von Material bedeckt wurden.«
»Gut, dann wissen wir, wo wir suchen müssen. Hast du dich deshalb gemeldet?«
»Nein, ich habe mich mal wieder nach ein paar Nächten unter freiem Himmel gesehnt«, sagt Rebecca.
»Davon wirst du wohl einige erleben. Denn leider ist der 40. Breitengrad vom 15. Breitengrad, an dem sich die NASA-Basis befindet, etwa 1450 Kilometer entfernt.«
»Oh.«
»Das hat man dir doch gesagt?«
»So … direkt nicht. Nur dass wir ein paar Tage unterwegs sein werden und ich Wäsche zum Wechseln mitbringen soll.«
»Das ist nicht falsch. Ich schätze, die Fahrt wird uns etwa zwei Wochen kosten, plus die Zeit, die wir für die Wassersuche brauchen.«
»Also zwei Wochen Campingurlaub. Das klingt doch gut.«
»Vielleicht haben wir ja Glück und finden eher etwas. Es wäre völlig okay, wenn das Eis etwas tiefer liegt. Das Radar dringt etwa fünf Meter tief.«
»220 Kilometer«, sagt Theo, »das reicht für den ersten Tag.«
»Mir reicht es auch«, antwortet Rebecca.
»Willst du dich noch etwas draußen umsehen? Das Zelt können wir bis morgen früh nicht verlassen.«
»Und wenn ich mal muss?«
»Glaub mir, bei minus 80 Grad willst du nicht raus, auch wenn es ganz dringend ist.«
»Also wieder diese Einmaldinger.«
»Tut mir leid, Camping ist nun mal nicht so komfortabel wie unser 5-Sterne-Raumschiff«, sagt Theo.
»Und wie funktioniert das Zelt?«
»Gleich«, sagt Theo und geht zum hinteren Teil des Rovers. Zwischen den beiden Achsen ist eine fast zwei Meter lange und einen Meter breite Platte festgemacht. Er nimmt sie ab.
»Das wird unser Bett.«
Rebecca befühlt das Material. Die eine Seite ist gepolstert, die andere fühlt sich wie Hartplastik an.
»Scheint ganz bequem zu sein. Aber auch sehr kuschelig«, sagt sie.
Theo lacht. »Ja, ist nicht sehr breit. Aber mehr Platz ist unter dem Rover nicht. Wie groß bist du?«
»Einsachtundsiebzig.«
»Dann hast du Glück. Die Matratze ist einsachtzig lang. Mir fehlen zwei Zentimeter an den zwei Metern.«
»Wie passt du dann da rauf?«
»Mit angezogenen Knien, denke ich. Es hat schon seinen Grund, dass die NASA nur Kandidaten bis einsneunzig nimmt.«
»Jetzt bin ich aber gespannt, wie es weitergeht.« Rebecca mustert den kompletten Rover. Sie sucht wohl nach dem Zelt. Theo lächelt. Sie stellt sich ihre Unterkunft ganz falsch vor. Er öffnet eine Kiste auf der Ladefläche des Rovers und nimmt etwas heraus, das wie ein Sack aussieht.
»Wir schlafen in einem Sack?«, fragt Rebecca.
»Fast. Es funktioniert aber anders. Zuerst suchen wir uns einen Platz, der einigermaßen glatt sein sollte.«
Rebecca dreht sich um und zeigt auf die Stelle vor dem Rover. »Hier?«
Theo wirft einen kurzen Blick darauf. »Warum nicht«, sagt er dann und legt das Plastik-Brett dort ab.
»Alles, was wir heute noch brauchen, muss auf die Matratze.«
Rebecca nimmt eine kleine Tasche vom Rover und legt sie ab. Theo holt den Proviantbeutel und eine weitere Tasche. Außerdem packt er eine Sauerstoffflasche dazu und ein Gerät, das wie ein Lüfter aussieht.
»Hast du irgendwelche elektrischen Geräte dabei? Die lassen wir lieber draußen. Wir schlafen in reinem Sauerstoff, da steigt die Brandgefahr.«
Rebecca schüttelt den Kopf. »Der Anzug zählt nicht, nehme ich an.«
»Den können wir tatsächlich schlecht draußen lassen.«
Theo beginnt, den Sack auseinanderzufalten. Er ist erstaunlich groß. Dann zieht er ihn über das hintere Ende des Brettes, bis es komplett darin liegt.
»Letzte Chance«, sagt er, »irgendwas draußen zu erledigen.«
»Wie wäre es mit einem romantischen Sonnenuntergang, du und ich, ganz allein?« Rebecca zwinkert ihm zu.
»Ich schätze, wir werden sowieso nicht besonders gut schlafen. Dann können wir uns auch den Sonnenaufgang ansehen.«
»Wie du willst«, sagt Rebecca, und Theo glaubt, wirklich ein bisschen Enttäuschung herauszuhören.
»Dann komm. Knie dich hier vorn hin.« Er zeigt auf ein leere Stelle am vorderen Ende des Brettes. Dann zieht er den Sack nach oben. Er reicht über sie hinweg.
»Jetzt braucht nur noch jemand dort oben zuzubinden«, sagt Rebecca.
»So ähnlich. Siehst du die Schnur im Rand? Wenn ich sie zusammenziehe, schließt sich der Sack.«
»Und das hält?«
»Beim letzten Stück hilft mir ein kleiner Motor, und den winzigen Rest verschließe ich mit Spezialschaum, der außen sofort gefriert.«
Theo hantiert an der Schnur, dann lässt er den Sack los, sodass der Stoff Rebecca locker auf die Schultern fällt.
»Moment, das war es noch nicht.«
»Das beruhigt mich.«
Es ist jetzt fast dunkel in dem Sack. Theo erkennt nur noch Rebeccas Umriss. Er dreht sich um und sucht die Sauerstoffflasche. Dann öffnet er sie.
»Was zischt denn da?«, fragt Rebecca.
»Ich lasse uns Luft ein.«
Noch ein letzter Schritt, dann hat er es geschafft. Mike hatte ihm alles ganz genau erklärt, aber in der Realität fühlt es sich dann doch ganz anders an, besonders, wenn er sich unter Beobachtung einer attraktiven Frau fühlt. Er erinnert sich an die Bemerkung vorhin – aber das war bestimmt bloß ein Scherz. Wo hat er den Austauscher hingelegt? Er tastet mit den Händen die Matratze ab.
»Das war mein Bein«, sagt Rebecca.
Endlich hat er das Gerät. Er drückt den großen, runden Knopf an seinem Vorderende.
»Der Austauscher überwacht, reinigt und trocknet die Luft hier drin«, erklärt er. »Außerdem dient er als Lichtquelle. Falls er mal rot leuchten sollte, stimmt etwas nicht, dann weckst du mich schnellstens.«
»Das heißt, er leuchtet die ganze Nacht?«
»Das ist aus Sicherheitsgründen so vorgeschrieben.«
Allmählich baut sich im Zelt der Luftdruck auf. Der Sack zeigt langsam seine wahre Form – er nimmt Kugelgestalt an.
»Wie ein hässliches Entlein, das zum Schwan wird«, sagt Rebecca.
»Ja, nicht schlecht, ich sehe das auch zum ersten Mal.«
Nach zehn Minuten liegen sie in einem gut zwei Meter hohen Ballon. Er ist nicht völlig kugelrund, dafür sorgen sie mit ihrem Gewicht, aber es ist trotzdem ein majestätischer Anblick. Je stärker sich das Gewebe dehnt, desto mehr Licht kommt wieder von außen. Die Sonne ist wohl noch nicht ganz untergegangen. Von innerhalb der Kugel erkennt man sie als verwaschenen Fleck.
»Und wenn ich den Ballon aus Versehen mit etwas Spitzem berühre?«
»Das Material ist sehr robust, da musst du schon absichtlich daran herumschnipseln. Ist aus einer Art Nylon gemacht, wie Strumpfhosen.«
»Das beruhigt mich jetzt nicht. Hast du je Strumpfhosen getragen?«
Theo schüttelt den Kopf. »Gehört nicht zu meinen Vorlieben. Aber wir können uns jetzt ausziehen.«
»Na, du gehst ja ran«, sagt Rebecca und lacht. Zum Glück hat Theo seinen Helm noch auf, dadurch sieht sie nicht, wie er rot wird.
Eine Weile raschelt es nur. Theo stellt sich vor, wie das von außen aussehen mag, wo die Dunkelheit kommt: zwei Silhouetten, die allmählich immer schlanker werden.
»Wenn du musst …« Er zeigt auf seine Tasche. Dann fällt ihm ein, dass er selbst noch seine Windel trägt. Ein erwachsener Mann in Windeln, dieser Beruf verlangt schon einiges ab. Theo seufzt.
»Alles okay bei dir?«, fragt Rebecca. Sie muss sein Seufzen gehört haben.
»Ja, alles bestens«, antwortet er. Dann fällt ihm auf, dass das nicht stimmt. Dabei war Rebecca vorhin so aufrichtig zu ihm. Das hat sie nicht verdient.
»Ich hatte gerade einen kurzen Anfall von Einsamkeit«, sagt er.
»Weil wir so weit weg von den anderen sind? Hast du dich an die Gruppe gewöhnt?«
Theo schnieft. »Im Gegenteil, über den räumlichen Abstand bin ich froh. Ich habe nur das Gefühl, dass wir zwar eine Crew sind, aber nicht mehr. Was du mir heute erzählt hast, es war das erste Mal in den vielen Monaten, dass ich mich jemandem wirklich nahe gefühlt habe.«
»Danke«, sagt Rebecca.
Irgendwie mag er sich selbst nicht, wenn er so herumjammert. Er sieht sich als zupackend und pragmatisch. Was ist daran pragmatisch, die Verhältnisse zu bedauern, wie sie eben sind? Aber es tut ihm auf seltsame Weise gut.
»Was mir besonders zu schaffen macht, oder besser wer: unsere Kommandantin.«
Er sieht Rebecca an. Sie lächelt über das ganze Gesicht. Vielleicht sollte er nicht mit ihr über andere Frauen sprechen. Macht er da nicht alles kaputt? Er muss das jetzt beenden.
»Ich hatte immer das Gefühl, dass ihr gut zusammenarbeitet«, sagt Rebecca.
»Das ist sicher richtig. Trotzdem – ich glaube, ich weiß gar nichts über sie. Manchmal wirkt sie auf mich ganz verloren. Kennst du das? So, als ob man einen bestimmten Weg geht, aber vergessen hat, warum. Man weiß dabei ganz genau, dass am Ende dieses Weges ein Unglück lauert, und trotzdem kommt man nicht auf den Gedanken umzukehren. Und warum? Weil man diesen Weg nun schon so weit gegangen ist, dass das Ende näher scheint als der Anfang.«
»Das ist ein schreckliches Gefühl«, sagt Rebecca. Theo bemerkt im Schein der Lampe, dass sie eine glitzernde Träne im Auge hat. »Ich glaube, mein Vater befand sich lange auf diesem Weg. Inzwischen hat er das Ende erreicht.«