Vor ihm liegt
eine vier Meter tiefe, drei Meter breite und fünf Meter lange Grube. Sie besitzt, soweit er es beurteilen kann, glatte Wände und einen festen Boden. Die Roboter haben wirklich gute Arbeit geleistet. Lance ruft sich vor Augen, wie es hier an Sol 4 ausgesehen hat. Der Bohrer auf seinen zwei Ketten hatte gerade erst mit der Arbeit begonnen, und nun ist es schon an der Zeit, das Dach aufzusetzen.
Das ist alles erst sechs Marstage her, doch für ihn fühlt es sich nach »damals« an. Er ist bestimmt um drei Jahre gealtert seitdem. Wieder einmal hat sich gezeigt, wie schnell die schönsten Pläne zu Makulatur werden können. Wenn das Labor beendet ist, wird ihnen der Roboter noch bei der Konstruktion des Gewächshauses helfen. Das muss er nur einen halben Meter in den Marsboden graben, und statt des Dachs aus geschmolzenem Fels gibt es eine Abdeckung aus transparentem Plastik. Sie werden die Pflanzen trotzdem mit künstlichem Licht bestrahlen, aber zumindest zum Teil werden sie auch das Sonnenlicht nutzen, um Kohlendioxid aus der Mars-Atmosphäre in Biomasse umzusetzen.
Lance versucht, sich die Zukunft vorzustellen. Werden hier irgendwann Menschen ohne Anzug durch die Gegend laufen?
»Könnte man die Pflanzen nicht auch zum Terraforming nutzen, wenn die Atmosphäre doch so voller Kohlendioxid ist?«, fragt er.
Sarah berührt ihn an der Schulter. Die Biologin und Ärztin steht hinter ihm. »Du überschätzt die Dichte der Atmosphäre«, sagt sie. »Sie besteht zwar fast komplett aus CO2
, aber weil sie 100 Mal dünner ist als auf der Erde, ist das den Pflanzen immer noch zu wenig. Wir reichern die Luft im Gewächshaus deshalb extra mit Kohlendioxid aus der verbrauchten Atemluft an.«
»Das heißt, ihr trennt das CO2
vom Rest ab?«
»Das können wir uns sparen, wir leiten einfach die verbrauchte Luft in das Gewächshaus. Ein Teil der Mikroorganismen im Boden braucht Sauerstoff, eine reine CO2
-Atmosphäre wäre für sie tödlich.«
»Was man alles beachten muss …«
»Du sagst es. Ich bin schon gespannt, wie lange wir brauchen, um das Gewächshaus stabil zu bekommen. Wenn der Druck niedrig ist, verdunstet uns das Wasser schneller, die relative Luftfeuchtigkeit steigt … wusstest du, dass die trockene Marsluft tatsächlich manchmal hundert Prozent relative Feuchtigkeit erreicht? Bei einer so dünnen Atmosphäre reicht da schon sehr wenig Wasser.«
Lance betrachtet das Profil seiner Kollegin. Sarah geht selten aus sich heraus, aber wenn sie über Themen aus der Biologie spricht, wird ihre Begeisterung spürbar. Er kratzt sich am Knie. Die Frauen irritieren ihn. Ist das noch normal? Seine Freundin wartet auf ihn – und er überlegt dauernd, ob er sich stärker zu Ewa, Sarah oder Sharon hingezogen fühlt. Er sollte wohl doch lieber seine Arbeit machen, statt sich mit solchen Fragen zu beschäftigen.
Bevor sie den neuen Raum an die Basis anschließen können, braucht er ein Dach, das gegen Strahlung und Kälte abschirmt. Der Roboter arbeitet zwar weitgehend autonom, aber jetzt benötigt er ein neues Werkzeug.
»Hilfst du mir mal?«, fragt er Sarah.
»Klar.«
Sie laufen zum Depot, das auf der anderen Seite der Basis liegt. Es besteht aus kleinen Containern, die nicht druckdicht sind. Dort muss sich die Spezialtülle für das Gießen des Daches befinden. Außerdem lagern hier die Bleche, die den unteren Abschluss des Daches bilden.
»Bringst du bitte so ein Blech mit, Sarah?«
Seine Kollegin bückt sich und greift nach einem Blech. Wieder einmal freut sich Lance, dass die Anzüge so eng geschnitten sind, und dann hat er gleich wieder ein schlechtes Gewissen. Er beißt sich auf die Zunge; beinahe hätte er auch noch etwas gesagt.
Er nimmt das Roboter-Werkzeug. Es ist aus Stahl; auf der Erde hätte er es nicht tragen können, aber hier wiegt es nicht mehr als zwei Eimer Wasser. Langsam geht er damit zu der Maschine zurück. Er stellt das Werkzeug ab.
»Das Blech einfach am Rand der Grube einrasten«, sagt er. Sarah trägt es zur Baugrube. Er folgt ihr sicherheitshalber. An den beiden Längsrändern hat der Roboter einen 30 Zentimeter tiefen Absatz gefräst. Hier lässt sich das Blech einhängen. Sarah hat kein Problem damit. Sie marschiert auch von selbst zum Depot, um das nächste Blech zu holen.
Lance kümmert sich wieder um den Roboter. Er entfernt das Bohrwerkzeug. Bisher hat die Maschine damit Gestein gefördert und in einem Kessel eingelagert. Nun wird sie das Gestein erhitzen, bis es zähflüssig ist, und dann unter Druck durch das von Lance montierte Werkzeug auf die Unterlage schichten. So wächst ein Dach, das aus einem riesigen, künstlichen Felsblock besteht.
Er wackelt noch einmal an dem neu montierten Werkzeug, doch es sitzt sicher. Also wählt er am Bedienpanel das neue Programm und startet es. Der Roboter weiß nun selbst, was zu tun ist, also kann er Sarah beim Tragen der Bleche helfen. Fünf Minuten später ist ihre Arbeit hier draußen getan.
Eigentlich müsste jetzt das Interview starten. Nur dafür ist Sarah überhaupt mit ihm ins Freie gekommen. Die Kamera steht auf einem Stativ neben der Ausgangsluke. Sie werden gemeinsam im Bild sein. Das Publikum, hat der Sender behauptet, sei primär männlich. Sarah wird deshalb die Fragen stellen, die der Sender ihnen zeitnah schicken will, und er, der Retter der Mars-für-Alle-Crew, wird sie beantworten.
»Mike, hast du schon etwas gehört?«
»Nein, der Sender hat sich noch nicht gemeldet.«
»Fragst du mal nach?«
»Hast du es denn so eilig, Lance?«
»Ich würde es gern hinter mir haben. Interviews liegen mir nicht.«
»Na gut, ich frage nach, auch wenn es sinnlos ist. Die Antwort kommt doch sowieso erst in vierzig Minuten. Bis dahin sind die Fragen bestimmt längt da.«
»Mach einfach.«
»Jahaaa. Bin schon dabei. Macht euch doch noch eine schöne Zeit da draußen.«
»Mike meint,
wir sollen uns hier eine schöne Zeit machen.«
Sarah stemmt die Arme in die Seite. »Glaubt der etwa, ich hätte sonst nichts zu tun?«
»Er denkt, die Fragen kommen in ein paar Minuten. Da lohnt es nicht, durch die Schleuse zu gehen.«
»Das stimmt wohl. Und wie vertreiben wir uns dann die Zeit?«
»Du könntest mir eine Geschichte aus deiner Jugend erzählen.« Oh, das war dumm, merkt Lance, das klang wie eine Anspielung auf Sarahs Alter. »Ich meine, aus der Vergangenheit.«
»Ich habe eine bessere Idee. Hast du schon mal auf einem anderen Planeten getanzt?«
»Ge-was?«
»Getanzt! Kommt vom Verb tanzen, sich zu Musik bewegen.« Sarah lacht.
»Wie kommst du denn ausgerechnet darauf?«
»Ich habe es bei der Anreise in der Schwerelosigkeit probiert. Ging nicht gut. Aber hier? Bei der niedrigen Schwerkraft funktioniert es bestimmt großartig.«
Na toll, sie will tanzen. Das gehört nicht zu den Kernkompetenzen eines Mechanikers. Vor dem Uni-Abschluss hat er mal zwei Monate lang jede Woche eine Tanzstunde absolviert. Es sind nur grauenvolle Erinnerungen.
»Ach, lass mal«, sagt er, »andere können das bestimmt besser.«
In seinen Helm-Kopfhörern erschallt rhythmische Musik. Das muss von Sarah kommen.
»Du bist doch sportlich«, sagt sie, »du bist bestimmt ein toller Tänzer. Komm, lass es uns probieren.«
»Aber du führst«, sagt Lance.
»Gern!«, ruft Sarah und greift nach seiner rechten Hand. Dann legt sie eine Hand auf seine linke Schulter.
»Schließ die Augen, hör auf die Musik und spüre meine Bewegungen«, sagt sie.
Lance macht die Augen zu. Er lässt die Musik in sein Bewusstsein dringen. Andere Gedanken verschwinden von selbst. Dann bemerkt er ihren Impuls. Nach hinten, zur Seite, er braucht bloß aufzupassen, die Schritte nicht bewusst zu setzen, dann passiert alles ganz automatisch.
»He, du machst das gut«, sagt Sarah. Lance freut sich. Sie führt wirklich gut. Er braucht nicht auf den Rhythmus zu hören, er muss nur fühlen, wohin sie sich gerade bewegt. Seine Beine folgen dem Körper ganz automatisch.
»Du machst das hervorragend«, sagt er.
»Danke.«
Die Musik ist in seinem Kopf. Lance entspannt sich. Seine Muskeln lassen locker, sie haben gar keine andere Wahl, aber trotzdem klappt er nicht zusammen. Danke für das Erlebnis, Sarah, denkt er. Er traut sich nicht, es ihr zu sagen. Sie könnte es missverstehen.
Die Musik verstummt.
Sarah bleibt stehen. Lance weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist.
»Das war schön«, sagt sie.
»Fand ich auch.«
Vielen Dank, denkt er, aber die Worte klemmen auf seiner Zunge. Es war wirklich schön. Sie haben getanzt. Er sollte da nichts hineininterpretieren.
»Wie lange noch, Mike?«, fragt er.
»In zehn Minuten müsste die Antwort da sein.«
»Und, wer hatte Recht?«
»Du.«
»War es gut, dass du nachgefragt hast?«
»War es, Lance.«
Vielleicht sollte er schon einmal nach der Kamera sehen. Lance läuft in Richtung Schleuse. Die Kamera ist ein älteres Modell, aber dafür besonders robust. Die allerneuesten Chips haben so schmale Elektronik-Strukturen, dass sie unter der kosmischen Strahlung Artefakte produzieren. Dieses alte Modell hingegen funktioniert überall. Wer weiß, aus welchem Museum die NASA die Kamera geholt hat. Lance nimmt sie vom Stativ und richtet sie auf die Sonne. Sie ist zwar deutlich kleiner als auf der Erde, aber wenn er direkt hineinsieht, blendet sie trotzdem noch. Er betrachtet sie auf dem kleinen Bildschirm auf der Rückseite der Kamera. Dann zoomt er, so stark es geht. Das Bild verschwimmt. Das ist vermutlich die Bewegung der Atmosphäre. Er hält die Kamera auf Sarah. In der Beinahe-Dämmerung wirkt ihre Figur wie ein Scherenschnitt. Sie steht einfach nur da. Ob sie früher Leistungssport betrieben hat? Sie sieht locker und angespannt zugleich aus. Er ist physisch ebenfalls sehr fit, aber diese Kombination bekommt er nicht hin. Wenn er sich anstrengt, sieht man ihm das an.
»Lance? Sarah?«
Das ist Mikes Stimme. Er klingt atemlos. Wahrscheinlich hat er gerade auf dem Fahrrad gesessen und trainiert. Lance setzt die Kamera wieder auf das Stativ. Sarah kommt zu ihm gelaufen. Dann geht es jetzt wohl gleich los.
»Hast du die Fragen endlich?«, fragt er.
»Das … kann man so nicht sagen.«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, dass ich sie nicht habe. Wollt ihr nicht erstmal reinkommen?«
Mike klingt äußerst angespannt. So kennt er ihn gar nicht.
»Dann kommen sie eben in fünf Minuten. Ich kenne diese Pressefuzzis. Erst machen sie sonst was für Hektik, und dann kommen sie zu spät. Wir warten besser hier draußen auf das Interview.«
»Du verstehst mich nicht, Lance.«
»Na wie soll ich denn deine kryptischen Ansagen verstehen?«
»Ich wollte es euch gern hier drinnen sagen, von Angesicht zu Angesicht.«
»Was denn, Mike? Diese Geheimniskrämerei nervt. Was ist denn mit dir los? Ist jemand gestorben, gibt es eine Revolution?«
Lance regt sich nun ebenfalls auf. Mike stellt sich heute aber auch an! Sarah legt ihm die Hand auf die Schulter.
»Es wird kein verdammtes Interview geben. Also bewegt euch endlich hier runter.«
»Mike, du vergreifst dich im Ton, merkst du das nicht?«
Plötzlich ist Lance wieder die Ruhe selbst. War das Sarahs Hand?
»Scheiß auf den Ton, Lance. Es geht um die Erde. Sie gibt keinen Mucks mehr von sich. Wäre sie ein Lebewesen, würde ich sagen, sie ist tot.«
»Was soll das heißen? Ist die Leitung tot? Einer der Satelliten defekt?« Lance kann nicht fassen, was Mike da gerade behauptet hat.
»Nein, es ist die Erde. Sie antwortet nicht mehr. Niemand dort. Es muss etwas Schreckliches geschehen sein, aber ich weiß nicht, was«, antwortet Mike leise.
Plötzlich spürt Lance, wie kalt der Mars wirklich ist. Das Thermometer hat die null Grad noch nicht erreicht. Die Kälte überfällt ihn, er hebt erschrocken den Fuß, weil sie darüber in seine Beine kriecht wie ein ekliger, nasser Wurm. Sie erreicht sein Becken, wählt den Weg über das Rückgrat und kommt im Kopf an. Und dann fühlt er gar nichts mehr.
Mike zittert am ganzen Körper.
Lance würde ihn am liebsten umarmen. Würde? So ein Quatsch. Er stellt sich vor ihn und legt seine kräftigen Arme um ihn. Langsam zieht sich das Zittern zurück. Lance spürt, wie Mikes Muskeln erschlaffen.
»Ich stelle dich jetzt wieder auf die Füße«, sagt er und schiebt ihn sanft über seine Mitte.
»Danke«, sagt Mike.
Damit ist alles gesagt. Lance fühlt sich leer. Sollte er nicht seine Freundin vermissen, ihre gemeinsamen Pläne, das Kind, das sie haben wollten? Vielleicht hat sich gerade seine gesamte Zukunft in Luft aufgelöst! Aber es ist wohl zu früh, das wirklich zu spüren, und er ist nicht böse darüber. Wenn sie etwas brauchen, dann einen kühlen Kopf. Vielleicht war das alles sowieso nicht viel mehr als eine fixe Idee. Ideen verändern sich, mutieren, verschwinden ins Nichts. Für sie gelten keine Erhaltungsgesetze.
»Ich kann das immer noch nicht glauben«, sagt Sharon. Sie sitzt an die Wand gelehnt auf dem Boden und scharrt mit den Füßen.
»Aber ihr habt doch alles geprüft?«, fragt Sarah.
»Ja, alles, jeden einzelnen Kanal. Von der Erde kommt nichts mehr an, auch nicht bei den vier Satelliten im Orbit.«
»Warum ist es uns bloß nicht eher aufgefallen? Vielleicht hätten wir noch etwas tun können?«
»Nein, Lance. Die 20 Minuten Laufzeit … wir haben nichts erwartet, wie sollten wir uns da wundern, dass nichts kommt?«, sagt Sharon.
»Und die Satelliten?«, fragt Lance.
»Die haben sich schon gewundert. MRO 2 und ExoMars 3 zuerst, die anderen dann, als sie aus dem Funkloch hinter dem Mars kamen. Aber der Fall ist nicht vorgesehen. Sie sind nicht so programmiert, dass sie uns bei einem kompletten Verbindungsabbruch Bescheid geben. Andersherum, ja, wenn wir uns nicht mehr melden, dann schlagen sie Alarm.«
»Gab es denn keinerlei Anzeichen?«
»Nein, Lance. Gestern Abend kam noch das Tagesbriefing für heute«, sagt Sharon.
Mike läuft schlurfend durch den Raum und lässt sich schließlich neben Sharon an der Wand entlang zu Boden sinken. Sarah steht ganz ruhig neben Lance, der nichts mit sich anzufangen weiß.
»Wir müssen herausfinden, was mit der Erde passiert ist«, sagt er.
»Aber wie denn?«, fragt Sharon. »Wir haben nicht mal ein Teleskop. Die Erde ist gerade verdammt weit weg. Die Beobachtungssatelliten im Orbit betrachten den Mars, nicht die Erde.«
»Können wir nicht einen zurück zur Erde schicken?«
»Dafür haben sie doch gar nicht genug Treibstoff. Und das nächste Startfenster öffnet sich in knapp sechs Monaten. Unser Startfenster.«
»Wir können die Erde doch nicht einfach aufgeben, vielleicht brauchen sie Hilfe.«
»Und die sollen wir ihnen bringen?«
»Wer sonst?«
»Bevor sich das Startfenster nicht öffnet, brauchen wir das nicht zu entscheiden«, mischt sich Sarah ein. »Bis dahin haben wir eine andere Aufgabe – wir müssen uns selbst helfen.«
Niemand antwortet. Lance würde jetzt gern die Augen schließen, aber er hält sie krampfhaft offen. Er ist noch nicht bereit aufzugeben. Oder hat Sarah Recht? Müssen sie sich zuerst um sich selbst kümmern? Sie haben genügend Ressourcen für knapp drei Jahre, aber nicht für die Ewigkeit. Wenn die Erde bis zum nächsten Startfenster nicht antwortet, müssen sie länger als geplant hier durchhalten. Sarah hat einen wichtigen Punkt angesprochen: Sie dürfen damit nicht abwarten. Sie haben, was sie zum Überleben benötigen, aber sie müssen ihre Werkzeuge auch benutzen.
»Das stimmt, Sarah«, sagt Lance. »Wir müssen uns für längere Zeit hier einrichten, und wir sollten bald damit anfangen.«