»Kommst du?
Mike ist schon dran.«
Ewa hört Ellens Aufforderung, aber sie kann nicht so einfach aufspringen. Sie hat so lange gebraucht, Germaine zu beruhigen. Jetzt sitzt sie hinter ihr an der Wand und hält sie fest. Die Kamerunerin weint immer noch leise vor sich hin, aber es ist kein verzweifeltes Weinen mehr. Und sie ist nicht die einzige, die zusammengebrochen ist, als der Hinweis aus der NASA-Basis kam, dass die Erde schweigt.
»Ewa? Soll ich ihn um zehn Minuten vertrösten?«
Vertrösten. Das passt im Moment gerade wie die Faust aufs Auge, denkt sie.
»Nein, lass, ich komme gleich.«
Irgendwie muss es ja weitergehen. Eigentlich ändert sich doch für ihre Crew gar nicht so viel. Alle haben ein Oneway-Ticket, allen war klar, dass sie ihre Eltern, Freunde und Verwandten nie wiedersehen würden, alle haben sich für immer von ihnen verabschiedet. Warum macht es dann für manche immer noch einen so großen Unterschied, dass dieser Abschied nun wirklich für die Ewigkeit war? Sie sollten sich wirklich nicht so anstellen! Es gibt zwar immer noch die Möglichkeit, dass sich alles als großer Fehler herausstellt. Aber dafür sind die Umstände viel zu rätselhaft.
Sie schiebt Germaine sanft ein Stück von sich weg und befreit sich aus ihrer Position. Natürlich geht es weiter. Ihre Arbeit ist nicht beendet, das sagt eine Stimme tief in ihr, die sie manchmal überrascht, die ihr in diesem Moment aber gerade rechtkommt. Selbst nach dem Verlust ihres halben Gepäcks im Bauch der Santa Maria haben sie immer noch alles, was sie brauchen, um eine Siedlung zu gründen. Aber sie brauchen die NASA-Leute dafür, und deshalb muss sie jetzt ans Videopult.
Ewa streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Es kann nie schaden, dem Gesprächspartner optisch zu gefallen. Sie hat das Gefühl, dass Mike sie interessant findet.
»Hi Mike«, sagt sie, »schön dich zu sehen. Und entschuldige, dass es länger gedauert hat. Die Sache nimmt einige doch ganz schön mit.«
»Verständlicherweise«, sagt Mike. »Ich bin auch ganz schön durcheinander. Meine Mutter …«
»Das tut mir leid. Sollen wir unser Gespräch verschieben?«
»Bin schon wieder fit. Muss ja weitergehen.« Mike schneuzt sich. »Hast du …«
»Ich habe auf der Erde keine lebenden Verwandten mehr. Ich hatte, muss man ja wohl sagen. Freundschaften habe ich vermieden, seit ich mich bei der MfA beworben habe.«
»Das tut mir nun wieder leid.«
Ewa ist irritiert. Warum tut ihm das leid? Es ist doch nur gut für sie. Vermutlich ist sie deshalb so ruhig. Alles läuft wie geplant, von kleineren Schwierigkeiten abgesehen. Für die Mission ist das Schweigen der Erde definitiv kein Verlust, von dort hatten sie sowieso nichts zu erwarten.
»Danke«, sagt sie trotzdem. »Ich wollte mit dir über unsere künftige Zusammenarbeit sprechen. Es sieht ja so aus, als blieben wir uns länger erhalten.«
»Da sind wir uns noch nicht einig. Ich glaube fest, dass es sich um ein temporäres Problem handelt. Aber mir ist klar, dass wir für alles gerüstet sein müssen.«
»Gut. Bleibt es dabei, dass ihr uns den Bohrroboter leiht?«
»Ja. Wir würden das aber gern in einem Vertrag festhalten. Es ist ja so, dass wir dann über Monate nur eine geringe Lebensmittelproduktion haben werden.«
»Verstehe. Ihr möchtet garantierte Lieferungen. Ich kann euch anbieten, dass ihr vier Neunzehntel unserer auf dem Mars erzeugten Lebensmittel erhaltet. Das entspricht eurer Personalquote. Zusammen mit eurem eigenen Anbau seid ihr dann sogar besser gestellt als unsere Leute.«
»Einverstanden«, sagt Mike. »Wir erhalten den Roboter zurück, sobald ihr euren Lebensmittelbedarf selbst decken könnt.«
»Es gibt da noch ein Problem. Wir wollen ja möglichst nahe an Wassereis-Vorkommen bauen. Aber die Sonneneinstrahlung ist in den nördlichen Breiten geringer. Wir brauchen Energie, die unabhängig von der Sonne fließt.«
»Du denkst an einen KRUSTY?«
Ja, sie denkt an einen KRUSTY, NASA-Akronym für den »Kilopower Reactor Using Stirling Technology«.
»Ich weiß, dass ihr mehr als einen besitzt«, sagt Ewa. Tatsächlich ist sie sich dessen nicht sicher, aber sie muss es zumindest probieren. Die aktuellen Modelle erzeugen 100 Kilowatt Strom, und das wartungsfrei für zehn Jahre. Das wäre ein unglaublicher Schatz für die Siedlung. Allerdings ist nach dieser Zeit der Brennstoff erschöpft. Wenn Mike strategisch denkt, wird er alle KRUSTYs, die er besitzt, so lange wie möglich aufsparen. Selbst ohne Nachwuchs müssen sie schließlich noch mindestens 50 oder 60 Jahre hier zubringen.
Ewa hört Mike tuscheln. Er bespricht ihre Forderung wohl mit den anderen.
»Gut, wir sind einverstanden«, sagt Mike schließlich.
Sie ist überrascht. Mike war ihr immer wie ein kühler Rechner vorgekommen. Sie hat sich wohl in ihm getäuscht. Deshalb erlaubt sie sich nun ein Lächeln.
»Oh, da fällt mir ein Stein vom Herzen«, sagt sie. »Du glaubst gar nicht, wie sehr mich das beruhigt. Wir werden uns auf jeden Fall revanchieren.«
»Da bin ich aber gespannt«, sagt Mike.
»Nun, wir haben hier etwas, das ihr garantiert nicht habt.«
Jetzt vermutet er bestimmt, dass sie die Tiere meint. Wie er sich irrt! Ewa freut sich.
»Die Tiere? Ein bisschen frische Ziegenmilch wäre nicht verkehrt.«
»Die meine ich nicht«, sagt Ewa. »Wir haben Waffen, drei Pistolen samt Munition.«
»Ihr habt was?«
»Du hast richtig gehört.«
»Aber ich dachte immer, Mars für Alle wäre eine gemeinnützige Organisation, die eine neue, gerechte Welt aufbauen will?«
»Wir sind vielleicht ein bisschen unorganisiert, aber nicht dumm. Wir wollten schon immer auf diesem Planeten überleben. Und irgendwann werden andere kommen, auch das war immer klar. Also müssen wir uns wehren können. Ihr könnt in dieser Hinsicht auf uns zählen.«
Mike sieht nicht sehr glücklich über ihr Versprechen aus. Er gehört wohl zu den Menschen, die Gewalt generell ablehnen. Vielleicht hat er ihr Angebot auch zum Teil als Drohung verstanden. Das wäre ihr gar nicht so unrecht.