Sol 45, NASA-Basis
»Lasst es euch schmecken«, sagt Sarah und sieht stolz in die Runde.
Lance gibt vorsichtig zwei Tropfen Dressing auf das Salatblatt. Dann nimmt er es bei seinem festen, hellgrünen Ende und schiebt es sich langsam in den Mund. Er schließt erst die Augen und dann den Mund, bis ein zartes, frisches Knacken zu hören ist. Dann hält er inne. An seiner Zunge spürt er, wie sich das Dressing verteilt: die feine Säure hier, das sämige Fett des Öls dort, und an der Spitze ein Hauch von Süße. Er beginnt zu kauen. Ein Salatblatt besteht vor allem aus Wasser und Zellulose, sein Nährwert ist kaum größer als der eines Blattes Papier, aber im Mund fühlt sich das großartig an, vor allem, wenn man wie er seit Monaten nur Fertignahrung zu sich nimmt.
Er schluckt, öffnet die Augen wieder und nimmt sich ein Radieschen. Sie sind kleiner, als er es erwartet hatte.
»Wie heißen die nochmal?«, fragt er.
»Rambo Raddish«, antwortet Sarah.
Lance lacht und beißt hinein. Seine Zähne dringen durch die zarte Haut. Er steckt die gesamte Knolle in den Mund. Das Radieschen ist scharf, er spürt die Schärfe sogar in der Nase.
»Rambo beißt ganz schön zu«, sagt er.
»Das hoffe ich doch«, meint Sarah.
Sharon und Mike sagen gar nichts. Sie scheinen in den Genuss dieser ersten frischen Mahlzeit versunken. Lance überlegt, was sie alles anbauen könnten, wenn sie bloß genug Platz und Energie hätten. Niemand hat damit gerechnet, dass die Erde verstummen würde. Deshalb hat man ihnen bloß einige wenige Samen mitgegeben. Wenn Essig und Öl alle sind, wird es keinen Nachschub geben. Sie müssen unbedingt mit der MfA-Fraktion sprechen. Vielleicht haben die ja eine größere Auswahl an Pflanzen mitgebracht. Für Raps zur Ölgewinnung sieht er ganz gute Chancen, beim Essig wird es schon schwieriger.
»Sharon, wenn der Essig irgendwann aufgebraucht ist, könnten wir nicht einen Ersatz chemisch herstellen? Ist doch im Grunde nur Zitronensäure?«
»Es ist vor allem Essigsäure. Die lässt sich vermutlich noch einfacher synthetisieren. Allerdings ist mir kein Verfahren bekannt. Auf der Erde produziert man sie aus natürlichen Rohstoffen. Aber das ist ein lösbares Problem.«
»Wir müssen unbedingt unsere Anbaufläche erweitern«, sagt Lance. »Wenn wir es hier für immer aushalten sollen, brauchen wir wenigstens ein Highlight am Tag.«
»Das werden wir«, antwortet Mike. »Aber jetzt bekommen die MfA-Leute erst einmal den Bohr-Roboter. Das haben wir ihnen versprochen.«
»Ist mir schon klar, ich unterstütze das ja auch. Die hatten es bisher wirklich nicht leicht«, sagt Lance.
»Aber wir könnten inzwischen schon unsere Stromproduktion ausbauen.«
»Bin ja schon dabei, Mike, oder hast du eine neue Idee dazu?«
»Solarzellen.«
»Oh, um die selbst herzustellen, fehlen uns die Ressourcen.«
»Müssen wir ja gar nicht. Denk an all die herrenlosen Rover, die auf dem Mars herumstehen.«
Lance legt die Gabel ab. Wie viele automatische Erkundungs-Rover sind in den letzten vierzig Jahren hier gelandet? Es müssen zwanzig oder mehr sein, die bloß darauf warten, dass jemand sie recycelt.
»Das ist eine großartige Idee«, sagt er. »Wir brauchen sie ja bloß einzusammeln. Die gehören ja sowieso fast alle der NASA.«
»Am besten nehmen wir die Geräte selbst auch mit, als Ersatzteillager«, sagt Sharon.
»Können wir das bitte nachher besprechen? Ich würde mich gern auf die herrliche Mahlzeit konzentrieren.«
»Natürlich, Sarah, und entschuldige die Störung«, sagt Lance. »Wir reden später weiter.«
Er schließt die Augen und schiebt sich das nächste Salatblatt in den Mund.
»Gibt es denn Daten, welche Sonde damals wann und wo gelandet ist?«, fragt Mike. Alle reiben sich ihre vollen Bäuche. Jetzt ein Schnaps zur Verdauung, denkt Lance. Wenn sie Methanol herstellen können, warum dann nicht auch Ethanol? Er muss sich die Anlage mal mit Sharon, der Chemikerin, gemeinsam ansehen. Ethanol kann man ja auch wunderbar als Treibstoff verwenden.
»Wir haben da leider nichts. Auf der Erde …«
Niemand sagt etwas, wieder einmal. Immer, wenn das Gespräch auf die stumme Erde kommt, drückt das sofort die Stimmung. Ob es mit den Jahren besser wird? Sie haben sich nicht verabschieden können, das ist wohl das Problem. Lance fällt seine Freundin ein, die auf ihn wartet, nein, auf ihn hatte warten wollen. Sie ist tot, Lance, sagt er sich. Sarah dagegen lebt. Er muss mehr Geduld mit sich selbst haben.
»Wir könnten ja einfach mal losfahren und suchen«, schlägt Sharon irgendwann vor. »Das ist immer noch besser, als nur hier herumzusitzen.«
»Die Oberfläche des Mars ist größer als sämtliche Landflächen der Erde«, sagt Mike. »Per Zufall finden wir die Rover nie.«
»Es gibt hochauflösende Marsfotos, die die Sonden im Orbit angefertigt haben«, sagt Sarah. »Sie sind so scharf, dass auch die alten Rover erkennbar sind. Aber es könnte natürlich lange dauern, bis wir sie auch ausfindig machen.«
»Ich könnte versuchen, einen Algorithmus zu schreiben, der für uns die Fotos nach Spuren der gelandeten Sonden absucht«, sagt Mike.
»Dann nichts wie ran an die Arbeit. Was schätzt du, wie lange du brauchst?«
»Gib mir zwei Sol, Lance.«