»Warum hast
du vorgestern die NASA-Leute eigentlich im Unklaren über den Standort unserer Siedlung gelassen?«
Theo hat lange gewartet, bis er Ewa endlich einmal außer Hörweite der anderen erwischt hat.
»Was meinst du, Theo?«
»Du hast diesem Lance bei der Übergabe gesagt, es wären nur 500 Kilometer.«
»Ach so. Ich weiß nicht, es erschien mir in diesem Moment richtig. Nicht dass sie es sich nochmal anders überlegen. Vor Ablauf von drei Monaten werden sie ihren geschlossenen Rover und den Roboter kaum zurückbekommen.«
»Ich finde das nicht gut. Sie werden sich wundern, wenn es dann länger dauert, als sie es erwarten.«
»Bis dahin sind wir weit weg.«
Ewas Worte klingen kalt. So abgebrüht kennt er sie gar nicht. Er weiß, dass sie wie eine Löwin für die MfA kämpft, aber würde sie auch zu weit gehen?
»Trotzdem, das schafft nicht gerade Vertrauen«, sagt er.
»Theo, falls du es noch nicht gemerkt haben solltest, Vertrauen ist nicht unser dringlichstes Problem. Jetzt geht es erst einmal ums Überleben. Die NASA-Basis ist hervorragend ausgestattet, um die müssen wir uns keine Sorgen machen.«
Eine halbe Stunde
später ruft Ewa die ganze Mannschaft in der Kommandozentrale zusammen. Es ist sehr eng; zum ersten Mal vermisst Theo die Schwerelosigkeit, in der er sich einfach quer über die anderen hätte legen können. Was hat Ewa bloß vor, und warum hat sie ihn nicht bei ihrem Gespräch vorhin schon eingeweiht? Er hat immer gedacht, ihr Vertrauen zu genießen. Liegt es daran, dass er ihre Heimlichtuerei vor den NASA-Leuten nicht gutgeheißen hat?
»Ich störe euch nicht lange, versprochen«, beginnt Ewa, »aber ich brauche eure Meinung zu einer Idee. Ihr wisst ja selbst, wie weit der Krater entfernt ist, den Theo und Rebecca großartigerweise für uns ausfindig gemacht haben. Ein Beifall für die beiden, bitte!«
Die Anwesenden klatschen.
»Wenn wir uns zu Lande dorthin bewegen, sind wir ewig unterwegs, und dort angekommen, müssen wir, fünfzehn Menschen und ein paar Tiere, in der Kabine des geschlossenen Rovers leben, bis unsere erste Unterkunft fertig ist. Ich finde, das ist unmenschlich.«
Theo ahnt, was Ewa gleich vorschlagen wird. Trotzdem hofft er, dass sie eine ganz andere Idee hat.
»Es ist besonders deshalb unmenschlich, weil es eine Alternative gibt. Wir könnten mit der Endeavour binnen weniger Stunden am Ort unserer künftigen Siedlung landen. Wir hätten sofort eine brauchbare Unterkunft, und vielleicht vier Wochen später könnten wir das Raumschiff dann auch schon zurückgeben, wenn wir das wollen.«
»Du willst die Endeavour stehlen?«, fragt Theo laut dazwischen.
»Ich will sie ausleihen, für eine bestimmte Zeit. Die NASA-Leute brauchen sie doch sowieso nicht.«
»Und warum fragen wir sie nicht einfach?«
»Weil sie dann vielleicht ‚nein‘ sagen und es uns dann unmöglich machen, den Plan doch noch umzusetzen.«
Dieser Logik kann er nichts entgegensetzen – außer der Moral.
»Die Leute haben uns gerettet! Ohne sie wären wir im All gestrandet und vermutlich längst tot. Sie leihen uns zwei Rover und ihren Bohr-Roboter. Und das willst du ihnen vergelten, indem du ihr Schiff stiehlst?«
»Das hat doch nichts mit Dank und Undank zu tun. Es geht hier um unser aller Leben. Die NASA-Basis ist hervorragend ausgestattet. Sie werden für einige Zeit auf das verzichten können, was wir uns ausleihen, die Endeavour eingeschlossen. Es schadet ihnen nicht, aber es hilft uns enorm. Was sollte dagegen zu sagen sein?«
»Es tut mir leid, aber das fühlt sich für mich wie ein ausgesprochen schäbiges Verhalten an.«
Theo versteht Ewa nicht mehr. Wie kann man denn so kaltherzig argumentieren? Das ist nicht die Ewa, die er kennt.
»Das ist dein gutes Recht«, sagt Ewa. »Deshalb habe ich das auch nicht allein entschieden. Ich möchte eine Abstimmung durchführen. Wir sind vierzehn Personen, vierzehn Stimmen. Stimmt die Mehrheit für meinen Plan, führen wir ihn durch. Bei einem Gleichstand verzichte ich.«
Ewa ist wirklich schlau. Sie gibt den potenziellen Nein-Sagern einen kleinen Vorsprung. Tatsächlich wäre eine Patt-Situation kein »Ja« für sie, aber sie stellt es so dar, als ob sie dann großmütig auf ihr Recht verzichten würde.
»Besteht jemand auf einer geheimen Abstimmung?«, fragt sie. Niemand meldet sich.
»Ich möchte, dass du diesen verrückten Plan ohne Abstimmung abbläst«, sagt Theo. »Es ist zutiefst unmoralisch und nicht mit den Zielen unserer Initiative vereinbar. Wir wollen eine Siedlung aufbauen, in der wir die Fehler der Alten Welt nicht wiederholen. Mit dem Diebstahl beginnt alles schon ganz falsch, wie soll es dann enden?«
»Wenn wir diese Entscheidung nicht treffen«, sagt Ewa, »gibt es vielleicht niemanden mehr, der die Siedlung aufbaut, von der du träumst. Wir dürfen nicht nur an die Zukunft denken. Die Zukunft entsteht durch unsere mutigen Entscheidungen in der Gegenwart. Lasst uns jetzt abstimmen.«
Theo schüttelt den Kopf. Sie begehen einen riesigen Fehler. Aber die anderen scheinen mit der Abstimmung einverstanden.
»Wie sieht es aus? Wer ist dafür?«, fragt Ewa und hebt ihren eigenen Arm.
Theo sieht in die Runde. Zwei, dann drei Arme gehen nach oben. Gabriella, die Ärztin, stimmt ebenfalls zu. Das hätte er ihr nicht zugetraut. Es gibt zehn Ja-Stimmen. Ewa hat gewonnen.
Sie macht trotzdem die Gegenprobe. Theo meldet sich, und auch Rebecca stimmt dagegen. Darüber freut er sich. Iris und Ellen zögern zunächst, stellen sich dann aber auf seine Seite. Er sieht sie dankbar an, auch wenn das Ergebnis eindeutig ist.
Vielleicht war er naiv. Er hat immer gedacht, sie würden eine gemeinsame Vision teilen, die Vorstellung einer besseren Welt, die auf der Erde nicht mehr zu verwirklichen sein würde – aber hier, auf dem Mars. Diese Vorstellung hat sich gerade als ein zerplatzter Traum erwiesen. Rebecca legt ihm einen Arm um die Schultern.