»Es gibt da ein Problem, Ewa«,
sagt Theo.
»Nun spuck es schon aus«, antwortet sie mit zusammengekniffenen Augen. Ewa wirkt heute ziemlich genervt. Versucht sie vielleicht, ihr schlechtes Gewissen zu verdrängen? Aber das ist wohl Wunschdenken. Die skrupellose Frau, die den anderen ihr Raumschiff stiehlt, passt nicht in sein Bild von ihr.
»Wir bekommen nicht beide Rover in das Schiff«, sagt er.
»Auch nicht, wenn ihr sie auseinandernehmt?«
»Keine Chance.«
»Hm. Den geschlossenen Rover brauchen wir auf jeden Fall, sonst können wir die Tiere nicht in unsere neue Basis bringen.«
»Dann lassen wir den offenen hier?«, schlägt Theo vor.
»Der ist perfekt für die Erkundung geeignet. Wäre ein echter Verlust.«
»Wir haben doch schon das Schiff. Lassen wir den NASA-Leuten wenigstens den zweiten Rover.«
»Daher weht der Wind? Wir haben das doch in der Gruppe besprochen. Was wir vorhaben, ist im Interesse unserer Mission. Die NASA-Basis kommt schon zurecht.«
»Du kennst meine Meinung dazu, Ewa.«
»Ja. Aber warte mal, Ellen hatte eine Idee. Westlich von uns befindet sich eine NASA-Sonde, die unter anderem Solarpanele besitzt. Ich wollte sie eigentlich von der neuen Basis aus bergen, aber von hier aus wäre der Gesamtweg sogar kürzer. Wenn wir den Rover sowieso nicht in das Schiff bekommen, ziehen wir die Bergung einfach vor.«
»Ich hoffe, du rechnest da nicht mit mir, Ewa. Ich habe gerade viele Kilometer auf dem Rover in den Knochen.«
Ewa sieht ihn an. Ihr Blick scheint Verwunderung auszudrücken. Nein, er wird sich nicht um diese Mission bewerben, so schön die Fahrt mit Rebecca auch war.
»Gut, dann sollen Shashwat und Guillermo fahren. Shashwat ist ein guter Mechaniker, der nimmt die Sonde im Nu auseinander. Am besten, sie fahren heute noch los.«
»Die werden sich freuen.« Theo kann einen gewissen Sarkasmus nicht verbergen. »Erklärst du es ihnen? Ich kümmere mich dann um das Verstauen des geschlossenen Rovers.«
»Alles bereit?«,
fragt Ewa.
Den Platz des Piloten hat Ellen eingenommen. Sie ist wirklich ein Multitalent. Ewa hatte zuerst Theo gefragt, ob er sich die Steuerung der Endeavour zutrauen würde, doch er hatte dankend abgelehnt. Dann hatte sich herausgestellt, dass Ellen auf der Erde Simulatorstunden in einer der Endeavour sehr ähnlichen Kapsel gehabt hatte. Das muss nun reichen, hatte Ewa daraufhin entschieden.
»Sieht gut aus«, sagt Ellen. »Prop, LG, FC, alles bei hundert Prozent.« Die junge Frau hat eine tiefe Falte auf der Stirn. Theo möchte nicht in ihrer Haut stecken, denn vor ihr liegt kein normaler Start, sondern ein Suborbitalflug, bei dem das Raumschiff keine Umlaufbahn um den Mars erreicht. Sie werden kaum gestartet sein, dann muss Ellen schon wieder auf die Bremse treten.
Von der Konsole ertönt eine Automatenstimme, die langsam bis Null herunterzählt. Theo krallt sich in die Sitzlehnen. Er atmet tief ein und aus. Es ist sein erster Start ohne ausgebildeten Piloten am Steuer. Wenn Chuck noch hier wäre, hätte er weniger Angst. Aber Chuck hätte so einen Irrsinn gar nicht erst zugelassen. Er muss Ellen nach der Landung vor Ewa warnen. Ob es der Ehrgeiz ist, der an ihr nagt, oder doch die Angst vor dem Tod?
Ein tiefe Vibration geht durch das Schiff. Der Stahl, aus dem es gebaut wurde, ächzt. Die Triebwerke stellen sich der Anziehungskraft des Mars entgegen. Theo beobachtet Ellen. Sie geht absolut konzentriert vor. Ihrem Gesicht sind keine Emotionen anzusehen. Der Flugverlauf ist zwar vorprogrammiert, doch sie muss jederzeit eingreifen können, wenn es Abweichungen vom Plan gibt. Die Programmierung beruht auf Annahmen aus der Literatur – sie mussten den Start vorbereiten, ohne die NASA-Leute nach aktuellen Daten oder einer Anleitung fragen zu können.
Seine eigene Trägheit drückt Theo in den Sitz. Er faltet die Hände jetzt über dem Bauch. Mit jeder Sekunde wird er nervöser, denn bald kommt der Trick, für den die Endeavour eigentlich nicht konstruiert wurde. Das Haupttriebwerk schaltet sich ab. Er zählt im Kopf die Sekunden herunter. Jetzt ist es so weit. Der Druck in seinem Rücken verschwindet. Sie sind schwerelos. Ellen hat sich weit über den Bildschirm gebeugt. Mit einer Hand hält sie sich fest, denn nun aktiviert sie die Korrekturdüsen. Die Endeavour muss sich um 180 Grad drehen, bis das Haupttriebwerk in Flugrichtung zeigt. Eine leere Tüte schwebt durch Theos Blickfeld. Langsam steigt sie zur Decke. Das muss die Bremswirkung der dünnen Atmosphäre sein.
»Triebwerk zündet wieder in 10 – 9 – 8 …«, sagt Ellen ins Mikrofon.
Ein Triebwerk in so kurzer Zeit zum zweiten Mal zu starten, ist nicht ganz unproblematisch. Normalerweise braucht es eine längere Pause. Aber die können sie ihm nicht geben, wenn sie nicht über das Ziel hinausschießen wollen.
»3 – 2 – 1 – Zündung.« Im selben Moment ist sie wieder da, die Vibration, und erneut drückt ihn die Trägheit seiner eigenen Masse in die Kissen seines Sessels. Hinten applaudiert jemand, obwohl es dafür zu früh ist. Die Endeavour hat soeben ein beeindruckendes Solo gezeigt, aber das Konzert, der Flug, ist noch nicht vorüber.
»Glückwunsch, wir liegen fast perfekt auf Kurs«, sagt Ewa.
Muss das denn sein? Theo ist sonst nicht abergläubisch, aber solche Vorhersagen bringen bloß Unglück. Er holt sich die Flugdaten auf das Display an seinem Sitz. Sie werden in einer halben Stunde an einem Ort landen, der auf der Oberfläche viele Tagesreisen von ihrem Startpunkt entfernt ist. Hätten sie genug Treibstoff, könnten sie bequem von Ort zu Ort reisen. Aber nach ihrer Landung wird die Endeavour lange auf das Auftanken warten müssen – zunächst steht der Aufbau der Basis im Vordergrund. Die NASA-Leute werden wütend sein, und er kann sie gut verstehen.
Theo klatscht.
Ellen hat sie sauber wieder nach unten gebracht. Sie sind an dem Ort angekommen, der ihre Heimat werden soll. Er holt sich Bilder der Außenkameras auf den Schirm. Es ist noch viel Staub in der Luft, aber den Krater, den er vor über drei Wochen mit Rebecca besucht hat, erkennt er gleich wieder. Dort vorn, in den schwarzen Schatten, lagert ein großer Schatz: Wasser in Form von uraltem Eis. Vielleicht kommt es aus einem See, der vor über drei Milliarden Jahren eingefroren ist. Angesichts der Umgebung dürfte es aber wahrscheinlich später auf den Mars gekommen sein, zusammen mit dem Kometen-Fragment, das diesen Krater entstehen ließ. Sie haben Glück, dass sich zuerst ewiger Schatten und dann eine Sandschicht darüberlegten, sonst wäre heute nichts mehr davon übrig.
Ellen steht auf und geht an ihm vorbei zu Ewa. Der Stolz auf ihre Leistung ist ihr anzusehen. Sie umarmt die ältere Frau. Ewa lächelt, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Auffällig ist nur ihre Nase; sie sieht aus, als sei sie mehr als einmal gebrochen gewesen. Hinter sich hört er lautes Lachen. Eine Frau stimmt ein Lied an, das er nicht kennt. Ewas Lächeln bleibt merkwürdig steif. Es verändert seinen Ausdruck nicht, es reagiert nicht auf die Fröhlichkeit, die sie umgibt. In diesem Moment ist Theo sich sicher, dass Ewa ein düsteres Geheimnis verbirgt.