Lance zieht die Gurte fest,
die das Zelt auf der Ladefläche des Rovers halten sollen. Er tritt einen Schritt zurück, dann überprüft Sarah, ob wirklich alles straff sitzt. So haben sie es vereinbart. Würden sie beim Abstieg das Zelt oder einen Teil ihrer Vorräte einbüßen, wäre das eine echte Katastrophe. So bequem die Anzüge auch sind – zwei Wochen darin zu überstehen, dürfte eine Quälerei sein, wenn nicht gar völlig unmöglich.
»Sieht gut aus«, sagt Sarah. Dann steigt sie auf den Fahrersitz. Sie haben gelost, wer den Rover heute zuerst lenken darf – und er hat verloren. Im Vergleich zu der Wüstentour der vergangenen Tage dürfte die Fahrt auf den Grund des Canyons ein echtes Abenteuer werden. Lance setzt sich hinter Sarah. Dann hakt er die Sicherheitsleine bei ihr ein. Falls der Rover zur Seite kippen sollte, müssen sie schnell abspringen, um nicht darunter begraben zu werden. Die Leine soll zumindest ein bisschen Sicherheit vor Abstürzen in die Tiefe bieten. Aber im Grunde ist beiden klar, dass sie ganz einfach keinen Fehler machen dürfen.
Zunächst geht
die Fahrt an der Kante entlang Richtung Norden. Lance genießt die Aussicht auf das Hebes Chasma. Der Tafelberg in der Mitte des Tals wirkt völlig deplatziert. Seine Hänge sind so steil wie die des Canyons selbst. Es sieht aus, als habe ein Riese einen dicken Teigfladen in das Chasma geworfen. Schade, dass sie nicht auf einer Forschungsmission sind. Gern würde er die Oberfläche der Mesa erkunden. Sie soll ja aus Sediment-Ablagerungen einer Wasserfläche entstanden sein. Das müsste doch der perfekte Ort sein, um nach Versteinerungen aus der fruchtbaren Zeit des Mars zu suchen!
»Ich glaube, wir sind da«, sagt Sarah in seine Gedanken hinein. Sein Blick folgt ihrem ausgestreckten Arm. Der Canyonrand scheint auf etwa einem Kilometer Breite eingebrochen, als hätte ein abstürzender Meteorit den Abhang gestreift. Doch es handelt sich nicht einfach um einen Einsturz der Canyonwand; vielmehr hat sich hier über lange Zeit ein Seitental gebildet. Sarah lenkt den Rover ein wenig nach Osten, um besser hineinfahren zu können. Von hier aus wird deutlich, was für die Entstehung des Tals verantwortlich war: Hier muss sich tatsächlich ein massiver Strom flüssigen Wassers in den Canyon ergossen haben. Lance stellt sich die Landschaft vor 3,5 Milliarden Jahren vor. Am Anfang war es vielleicht ein spektakulärer Wasserfall. Die Gischt muss bei klarem Wetter voller Regenbögen gewesen sein. Mit den Jahren grub sich das Wasser dann mehr und mehr in den harten Untergrund. Irgendwann muss sich das Klima des Mars dann so verändert haben, dass es kälter und kälter wurde, bis die einst dichtere Atmosphäre ausfror und den Prozess unumkehrbar machte.
»Stell dir mal den gigantischen Wasserfall vor, den es hier einst gegeben haben muss«, sagt Sarah.
Lance lächelt. »Schade, dass wir drei Milliarden Jahre zu spät kommen«, antwortet er.
»Oder ein paar hundert Jahre zu früh.«
»Meinst du, hier wird einmal wieder Wasser fließen?«
»Hier oben wohl nicht, aber da unten?« Sarah zeigt zum Boden des Canyons.
»Das bekommen wir nie hin. Wir sind doch viel zu wenige.«
»Sag das nicht. Der Homo sapiens hat seine Karriere auf der Erde auch mit relativ wenigen Individuen begonnen.«
»Dann sind wir so etwas wie Adam und Eva?«
»Wenn du so willst … es gibt jedenfalls realistische Pläne, wie man die Kohlendioxid-Atmosphäre wieder herstellen könnte. Ihr Treibhauseffekt würde die Temperaturen so weit erhöhen, dass flüssiges Wasser auf der Oberfläche existieren könnte.«
»Ich habe davon gelesen«, sagt Lance. »Wir müssten riesige Spiegel bauen und im Orbit über dem Südpol platzieren, die dann zusätzliches Sonnenlicht bündeln und damit das gefrorene Kohlendioxid auftauen. Zu viert?«
»Ja, das ist ein Problem. Ohne die MfA-Leute schaffen wir das nicht.«
»Mit ihnen auch nicht.«
»Auch da muss ich dir wohl leider Recht geben.«
»Ich schlage vor,
du hältst dich jetzt mal fest«, sagt Sarah.
Lance folgt der Anweisung. Dann spürt er, wie der Rover sich nach vorn neigt. Sarah fährt im Schritttempo. Meter für Meter wird es steiler. Lance richtet sich auf. Er hat das dringende Bedürfnis, sich nach hinten zu beugen. Der Untergrund besteht aus einer dünnen Schicht losen Schuttes. Der Rover ist schwer genug, sodass die Räder Sand, Staub und Kiesel zur Seite schieben und auf dem Vulkangestein Halt finden können. Alle vier Achsen bremsen mit, dadurch schiebt der hintere Teil mit seiner Ladung nicht noch zusätzlich. Nach dreihundert Metern wird es so steil, dass Sarah beginnt, Serpentinen zu fahren. Lance muss den Konstrukteuren des Rovers wirklich gratulieren. Seine Achsen geben den Rädern so viel Spiel, dass sich ihr Gefährt wie eine Bergziege den Abhang entlangbewegt. Der Ausblick ist noch immer grandios, Lance kann sich kaum sattsehen.
Dann wird es plötzlich dunkel. Sie sind in den Schatten der Hänge ihres Seitentals geraten, das sich immer tiefer in den Canyon einschneidet. Die Temperatur sinkt deutlich. Lance dreht die Anzugheizung hoch. Der Tafelberg in der Mitte leuchtet umso heller, doch die Sichtweite auf ihrem Weg verringert sich auf unter zehn Meter. Sarah schaltet die Scheinwerfer an. Im künstlichen Licht wirkt der Untergrund ganz anders. Es nimmt aber auch die Dichte der Staubschicht ab. Manche Flächen sind völlig blank. Sie erheben sich wie Muskelstränge oder riesige Wurzeln aus dem Boden.
»Das sind alte Lavaflüsse, die wohl der Wind immer wieder putzt«, erklärt Sarah.
Die Temperatur fällt weiter. Sind sie bereits im Bereich des ewigen Schattens? Sarah stoppt den Rover.
»Siehst du das?«
Sie zeigt nach vorn. Im Licht des rechten Scheinwerfers glitzern tausende winzige Diamanten.
»Das müssen Eiskristalle sein«, sagt Sarah. »Sie haben sich wahrscheinlich direkt aus der Luft abgesetzt.«
»Könnten wir die ernten?«
»Das lohnt nicht. Es ist sicher nur eine hauchdünne Schicht. Sie muss sich über viele tausend Jahre hier gesammelt haben. Es wundert mich aber, dass wir sie so nah am Äquator finden.«
Sarah startet den Motor wieder. Die Räder des Rovers begraben die Kristalle unter sich. Was in so langer Zeit entstanden ist, zerstören sie in Sekunden. Der Mensch hat es wirklich drauf, denkt Lance.
Allmählich wird es wieder heller. Die Talwände ziehen sich zurück. Sie fahren nun nicht mehr auf Gestein, sondern auf einer großen Zunge aus Schutt, die sich in den Canyon hinein erstreckt. Der Fluss, der das Seitental einst gegraben hat, muss all diese Brocken und den Sand hier abgelagert haben. Lance versucht zu erkennen, ob die Kiesel sichtbar von Wasser geformt wurden, doch das scheint nicht der Fall zu sein. Hatte der Fluss vielleicht nicht lange genug Zeit dafür?
Das Außenmikrofon des Helms fängt ein dumpfes Kratzen auf. Es kommt von hinten. Lance dreht sich schnell um. Sarah muss es auch gehört haben, denn sie stoppt den Rover. Mist, denkt er. Der hinterste Teil des Rovers rutscht langsam ab. Die dünne Atmosphäre verändert das schabende Geräusch. Sarah hat ebenfalls erkannt, was gerade passiert, denn sie gibt sofort wieder Gas. Sie dürfen sich nicht von der Masse des Rovers nach unten schieben lassen. Die Räder der Vorderachse drehen durch. Lance bekommt einen Schreck, doch Sarah scheint ganz ruhig zu bleiben, während der Rover sich schon bedenklich in Richtung Talgrund neigt. Sie schaltet in den ersten Gang und lässt die Räder schön langsam anrollen. Sie macht das perfekt. Bis zum Grund des Canyons, schätzt Lance, sind es noch zwei Kilometer. Wenn der Rover endgültig ins Rutschen kommt, werden sie ihn erst dort unten wiederfinden. Im Notfall müssen sie abspringen, doch wenn sie zu früh springen, verringert sich die Masse über der ersten Achse, und die Räder drehen erst recht durch. Pest und Cholera, denkt Lance, Pest und Cholera. Aber Sarahs Strategie funktioniert. Der hintere Teil des Rovers zeigt schon senkrecht nach unten, doch nun greifen die beiden Vorderachsen wieder. Sarah steuert schräg nach oben. Sie müssen es schaffen, auch die hinteren beiden Achsen aus dem losen Schutt herauszubekommen, oder wenigstens eine davon. Die Neigung des Rovers nimmt ab. Lance überlegt, ob er helfen kann. Wenn er nun von der Talseite aus schieben würde? Aber dann fehlt seine Körpermasse auf dem Rover, und die Räder drehen vielleicht wieder durch. Nein, er muss Sarah einfach machen lassen.
Nach zehn Minuten in Zeitlupenfahrt erreichen sie festes Gestein. Sarah stellt den Motor ab und sinkt in sich zusammen.
»Danke, Sarah«, sagt Lance und umarmt sie von hinten. Sie dreht sich zu ihm um. Da bemerkt er, dass sie weint.
»He, du hast es geschafft«, sagt er.
»Ich bin so erleichtert.«
»Ruh dich aus. Soll ich das Steuer übernehmen?«
»Gern«, sagt Sarah. »Aber bevor wir weiterfahren, laden wir alle Felsbrocken auf den Rover, die wir finden. Wir verbrauchen dann zwar mehr Methanol, aber dafür greifen die Räder besser. Noch haben wir die Schuttpiste nicht überwunden.«
»Eine gute Idee«, sagt Lance. Er steigt ab und beginnt, kleinere Felsbrocken einzusammeln.
»Wenn wir noch Platz haben«, sagt er, »sollten wir die mit zur Basis nehmen. Vielleicht finden wir ja Lebensspuren darin.«
Er muss
sich wirklich sehr konzentrieren. Selbst am Steuer sitzend schätzt er Sarahs Leistung noch mehr. Was er als Beifahrer nicht bemerkt hat: Er bekommt ein Gefühl für jedes einzelne Rad. Haftet es noch auf dem Untergrund – oder rutscht es bereits? Wenn er gut aufpasst, kann er den Rover immer wieder gerade noch abfangen. Die zwei Kilometer Höhenunterschied werden zum Zehnfachen an Strecke, und das fast immer im Schritttempo. Sie erreichen den Grund des Canyons etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang.
»Ein Stück noch, okay?«, fragt Lance. Er würde gern einen Teil der verlorenen Zeit wieder aufholen. Am besten fährt es sich in der Mitte des Canyons. Rechts ist eine Vertiefung, die aussieht wie ein ehemaliges Flussbett. Links ist es sehr sandig. Der Tafelberg besteht nicht aus Vulkangestein, sondern aus ungleichmäßig fest zusammengebackenem Sand. Die einzelnen Schichten lassen sich gut voneinander trennen. Das Gestein erodiert viel stärker als das vulkanische Material in den Seitenwänden der Schlucht. Momentan ist Lance doch froh, dass sie die Oberfläche des Tafelbergs nicht erforschen wollen. Mit dem Rover dürfte es nahezu unmöglich sein, dort hinaufzufahren. Mindestens das erste Drittel erinnert fast an eine besonders steile Düne – nur dass diese hier gleich ein paar Kilometer hoch ist.
»Was schätzt du, wie lange wir dann noch unterwegs sein werden?«, fragt Sarah.
»Wenn ich Mikes Routenplanung vertraue, müssen wir von drei Tagen ausgehen.«
»Verstehe.«
Der Boden wird holpriger. Das Flussbett drängt sich nun zur Mitte hin. Lance betrachtet den Berghang. Dort scheint einmal ein Lavastrom heruntergekommen zu sein. Das Wasser des Flusses ist dem Basalt ausgewichen. Er lenkt den Rover weiter nach links. Die Sandschicht auf dem Boden ist hier dicker, sodass sich die Räder tiefer eingraben. Es ist wohl besser, wenn er in Bewegung bleibt, damit er auf diesem Untergrund nicht neu anfahren muss. Als Kind hat er es gehasst, mit dem Fahrrad durch nassen Sand zu fahren. Aber hier hat er vier Achsen unter sich; dass alle Räder gleichzeitig im Sand steckenbleiben, scheint unwahrscheinlich. Lance sieht nach oben. Gerade ist eine riesige Wand über ihnen. Leider ist es nun zu dunkel, um geologische Studien an der Schichtung zu betreiben. Das Material hier muss aber härter sein, sonst wäre es noch stärker verwittert. Plötzlich knallt etwas hinter ihm. Das Geräusch ist sehr leise, aber es muss aus unmittelbarer Nähe kommen. Lance dreht sich kurz um, aber es ist nichts zu bemerken. Noch an dieser Wand vorbei, denkt er, dann bauen wir das Zelt auf. Er freut sich schon darauf, mit Sarah die Suche nach Leben auf dem trostlosen Mars fortzusetzen.
Sie erreichen eine Ausbuchtung des Canyons. In der Mitte befindet sich eine fast kreisrunde, sandige Fläche. Der Tafelberg hat sich etwas zurückgezogen.
»Fehlt eigentlich nur eine Palme«, sagt Sarah. »Hier machen wir Pause.«
Lance nickt und hält den Rover an. Sarah steigt als erste ab. Sie läuft nach hinten und will dort wohl das Zelt holen. Lance folgt ihr. Plötzlich zuckt ihre Hand zurück.
»Mist«, sagt sie, »schau dir das mal an.«
»Was ist denn?«
Er stellt sich neben sie und sieht es sofort. Das muss der Knall von vorhin gewesen sein. Kurz vor dem Ende des Rovers ist das Funkgerät befestigt. Es befindet sich in einer stabilen Metallhülle, aber der Kraft des Objekts, das vorhin daraufgestürzt sein muss, hatte sie nichts entgegenzusetzen. Das Gerät ist völlig zerstört.
»Da haben wir ja nochmal Glück gehabt«, sagt Sarah.
»Glück?«
»Ein halber Meter weiter nach vorn, und es hätte das Zelt zerfetzt. Oder anderthalb Meter, und es hätte mich erwischt.«
Jetzt ist Lance wirklich schockiert. Er hat zuerst nur daran gedacht, was der Verlust des Funkgeräts für sie bedeutet.
»Das stimmt«, sagt er, »wir hatten wirklich Glück. Wir müssen uns morgen unbedingt von den Steilwänden fernhalten.«
»Ich hoffe, Mike und Sharon machen sich keine Sorgen, wenn wir uns nicht mehr melden«, sagt Sarah.
»Das kannst du vergessen. Natürlich machen sie sich Sorgen. Aber wenn wir zurück sind, ist ja alles gut. Es gibt aber ein kleines Problem.«
»Ja?«
»Wir haben mit dem Funkgerät über die vier aktiven Satelliten im Orbit auch unsere Position erfasst. Da müssen wir uns nun etwas anderes ausdenken. Das Dumme ist, dass der Mars kein Magnetfeld besitzt. Die Navigation rein nach der Sonne ist dann doch sehr ungenau.«
»Da habe ich schon eine Idee«, sagt Sarah. »Du musst dir keine Sorgen machen. Morgen früh erkläre ich es dir.«