Sol 59, Hebes Chasma
Das Ziel ist greifbar. Lance steuert den Rover mit höchster Geschwindigkeit über die trockene Landschaft. Es fühlt sich fast so an, als hätten sie Rückenwind. Sie sind sogar noch vor Sonnenaufgang losgefahren. So konnten sie auch ihre Position genau bestimmen. Die Satellitenbilder zeigen keinerlei echtes Hindernis mehr, also jagen sie auf geradem Weg auf die alte NASA-Sonde zu.
Einmal pro Stunde wechseln sie sich ab. Länger hält man als Fahrer das höllische Tempo kaum durch. Immer wieder gilt es, kleinen und größeren Brocken auszuweichen. Der Rover zieht eine lange Staubfahne hinter sich her. Lance fragt sich, ob sich die Anstrengung überhaupt lohnen wird. Wie groß kann die Leistung der Solarzellen schon sein? Andererseits dürfte die Sonde Komponenten enthalten, die sie in den kommenden zehn oder zwanzig Jahren sicher nicht selbst herstellen können. Technik, die ausfällt, können sie nur reparieren, wenn sie irgendwo Ersatzteile dafür finden. Lance sieht sich schon als moderner Schrottsucher im Rover den ganzen Mars umrunden. Es wäre immerhin eine sinnvolle Aufgabe, und sie sind ein gutes Team. Wenn man alles, was die Nationen der Erde in den vergangenen sechzig Jahren auf den Mars geschickt haben, zusammenrechnet, kommen schon einige Tonnen Schrott zusammen. Selbst die Sonden, die nicht so weich wie geplant gelandet sind, können noch brauchbare Ersatzteile enthalten.
Es ist Zeit für eine kleine Pause. Lance lässt den Rover ausrollen. Die Sonne steht fast im Zenith. Sie befinden sich in einer flachen Senke.
»Kurz die Beine vertreten, okay?«, sagt er.
Sarah sieht auf den Bildschirm der Steuerung.
»Nur noch drei Stunden! Wir könnten uns auch eine längere Pause leisten«, sagt sie.
»Ungern. Ich möchte jetzt endlich ankommen.«
»Das ist auch gut. Dann können wir ja einen schönen Abendspaziergang unternehmen. Du und ich, allein im Licht der untergehenden Sonne …«
»Oh ja, endlich mal allein sein!« Lance lacht.
»Irgendwann werden wir ohne den Anzug hier spazierengehen.«
»Da bin ich skeptisch. Die Atmosphäre wird nie so dicht sein wie auf der Erde.«
»Wenn nicht wir, dann unsere Kinder.« Sarah lächelt ihn an.
Lance schluckt. »Unsere Kinder?«
»Nein, ich bin nicht schwanger, jedenfalls nicht dass ich wüsste. Aber dir ist schon klar, was bei Sex ohne Verhütung passieren kann?«
»Ich … nein. Ich bin davon ausgegangen, dass du …«
»Hast du mich irgendwelche Pillen schlucken sehen?«
»Nicht direkt.«
»Die NASA ist wohl davon ausgegangen, dass wir uns alle zu beherrschen wissen. Wäre ja auch nur für eine begrenzte Zeit gewesen. Und wir hatten wohl alle andere Pläne, als hier eine Familie zu gründen.«
»Das stimmt.« Lance erinnert sich ungern.
»Nur dass du Bescheid weißt und dann nicht sagst, du hättest von nichts gewusst. Wir müssen das nicht machen.«
Sarah lächelt ihn an. Lance hat das Gefühl, dass es für diese Warnung zu spät ist. Die Vorstellung, mit ihr zusammen in das Zelt zu kriechen und sie dann nicht berühren zu dürfen, erscheint ihm grausam.
»Natürlich. Ich weiß Bescheid.« Er beißt die Zähne zusammen.
Etwa eine halbe Stunde vor dem Ziel prüfen sie noch einmal ihre Position. Es ist alles bestens. Die alte Sonde liegt direkt vor ihnen. In welchem Zustand wird sie sein? Wenn sie Pech haben, ist sie unter Staub begraben. Die Sonde war nicht sehr hoch.
Doch alle Befürchtungen erweisen sich als grundlos. Sie erkennen die Sonde schon aus großer Entfernung, weil ihre Solarpanele die im Südwesten befindliche Sonne reflektieren. Sarah stoppt den Rover mit etwa zehn Metern Abstand.
»Könnte ja sein, dass sich Teile gelöst haben und nun hier verstreut sind«, erklärt sie.
»Sehr umsichtig«, sagt Lance.
Sie steigen ab. Die Sonde wirkt, als könne sie jederzeit erwachen. Wenn er sich recht erinnert, hatte die NASA nach drei Jahren den Kontakt abgebrochen, weil alle Wissenschaftsziele erreicht worden waren. Zwanzig Jahre später zeigt sie kaum Abnutzungserscheinungen. Die Solarpanele werden ihnen auf jeden Fall gute Dienste leisten. Das eine schwebt immer noch waagerecht über dem Boden, während das zweite etwas abgeknickt ist.
»Da hat wohl das Lager nicht mehr mitgespielt«, sagt Lance und zeigt auf das Panel.
»Hast du das HP3 schon entdeckt?«
Auf dieses Instrument war Mike besonders scharf gewesen. Es besteht aus einem Hammer, der eine Messsonde in den Boden getrieben hat. Da sie keinen Bohrer mehr besitzen, könnte das eine Alternative sein, um tiefere Schichten untersuchen zu können. Das HP3 ist zwar nur bis fünf Meter Tiefe ausgelegt, aber das lässt sich ja vielleicht ändern. Oder sie konstruieren nach seinem Vorbild einen größeren Bohrhammer.
»Das ist es«, sagt Sarah, und nun erkennt er es auch. Das Instrument sieht aus wie die Miniaturversion eines Bohrturms. Seitlich ist ein kleines Gehäuse angesetzt. Ein flaches Kabel führt vom HP3 in das Innere der Sonde. Ein paar Meter weiter, vor dem anderen Solarpanel, finden sie SEIS, das Seismometer. Lance nimmt die Abdeckung herunter. Dieses Instrument kann kleinste Erschütterungen auffangen. Wer weiß, wozu sie das mal brauchen können. Er nimmt es vorsichtig hoch und legt es erst einmal auf dem Fahrersitz ab.
»Am besten, wir fangen mit der Demontage nach der von Mike vorgeschlagenen Prozedur an«, sagt Sarah. »Ich schraube die Einzelteile ab, und du verstaust sie sicher auf dem Rover. Das Ding wiegt immerhin 350 Kilogramm.«
»Ich hätte es schwerer geschätzt.«
»Die Tanks sind leider leer, aber auch so wird uns das chemische Triebwerk noch sehr nützlich sein«, meint Sarah.
Sie beginnen mit der Arbeit. Als erstes sind die Solarpanele an der Reihe. Lance nimmt das Zelt vom Rover, dann befestigt er an seiner Stelle die sperrigen Panele. Sarah kümmert sich bereits um das Innere der Sonde. Es wird nichts hierbleiben, aber die Eingeweide, all die Elektronik, sind am wertvollsten. Mit der High-Gain-Antenne konnte sich die Sonde sogar in das Deep-Space-Network der NASA einklinken. Der Bordrechner ist zwar technisch völlig veraltet, aber er erfüllt seinen Zweck. Damit könnten sie problemlos den Rechner der Endeavour ersetzen und zur Erde zurückfliegen. Nur dass dort niemand mehr auf sie wartet, denkt Lance.
»Fertig.« Sarah reicht ihm das Landebein der Sonde, das sie sorgfältig in drei Einzelteile zerlegt hat. Selbst die Schrauben und Muttern könnten irgendwann sehr wertvoll werden. Wer kann denn schon sagen, wann sie in der Lage sein werden, Eisen zu gießen?
»Sehr gut«, sagt Lance. »Und noch zwanzig Minuten bis zum Sonnenuntergang. Es macht Spaß, mit dir zu arbeiten.«
»Das Kompliment gebe ich gern zurück. Was ist jetzt mit unserem Spaziergang?«
»Es ist mir eine Freude, Frau Jaeggli, Sie auf einen Spaziergang in den Sonnenuntergang einzuladen.« Lance macht eine Verbeugung und gibt ihr die Hand.
»Enchanté, Monsieur«, antwortet Sarah.
Hand in Hand gehen sie langsam in Richtung Westen. Die Sonne revanchiert sich, indem sie den Himmel beeindruckend violett färbt. Die Landschaft ist auf ihre ganz eigene Weise spektakulär, das muss Lance zugeben, aber noch aufregender ist die Frau, die seine Hand genommen hat und jetzt mit ihm leichtfüßig durch den flachen Sand läuft.
»Was unser Gespräch von vorhin betrifft«, sagt er.
»Ja?«
»Falls du den Eindruck bekommen hast, es wäre mir unangenehm, wenn du schwanger wärst …«
»Ja?«
»Das ist nicht wahr. Ich war noch nie in einer solchen Situation, und es ist vermutlich für ein Kind hier nicht die allerbeste Umgebung, aber besser wird es in absehbarer Zeit kaum werden. Ich glaube, dass ich mich freuen würde. Sehr.«
Jetzt ist es heraus. Sarah bleibt stehen. Bestimmt lacht sie ihn gleich laut aus. War doch nur ein blöder Scherz, wird sie sagen. Ich kann doch gar nicht schwanger werden. Es macht ja Spaß, mit dir zu schlafen, aber ein Kind würde ich unter diesen Umständen doch lieber abtreiben. Ja, so etwas wird sie sagen, denkt er.
Sarah nimmt seinen behelmten Kopf in beide Hände. Sie zieht ihn zu sich. Dann deutet sie einen Kuss an.
»Irgendwann«, sagt sie, »werden wir uns im Sonnenuntergang küssen. Richtig. Nicht unsere Kinder, wir. Das glaube ich fest.«
»Das wäre schön«, sagt Lance. Mehr kann er nicht sagen. Ihm fällt kein einziges Wort mehr ein, er ist völlig sprachlos, aber das ist ganz und gar kein Problem.
Die Sonne sinkt hinter den Horizont. Sie drehen sich um. Es ist Zeit, das Zelt aufzubauen. Langsam schlendern sie zum Rover zurück. Von der Sonde ist nichts mehr zu sehen. Da bemerkt Lance zwei graue Striche, die sich an ihrem Fahrzeug zu schaffen machen. Sie sind nicht allein.
Lance hält Sarah am Arm fest.
»Warte hier«, sagt er. »Ich kläre erstmal, wer das ist und was sie wollen.«
»Das kommt gar nicht in Frage. Wir gehen zusammen.« Sarah reißt sich los und geht auf die zwei Gestalten zu. Die beiden stehen mit dem Rücken zu ihnen und haben sie anscheinend noch nicht bemerkt. Sie tragen klobige, altmodische Raumanzüge, wie sie die MfA besitzt.
»Das müssen MfA-Leute sein. Wie haben die uns gefunden?« Lance senkt seine Stimme, obwohl die Fremden sie garantiert nicht hören können. Würden sie auf der gleichen Frequenz funken, hätten sie sie viel eher bemerkt.
»Da hinten, der Rover, der kommt mir bekannt vor«, sagt Sarah.
In etwa zehn Metern Entfernung steht ein zweiter Rover. Es ist der gleiche Fahrzeugtyp wie ihrer. NASA-Produktion. Die beiden Besucher gehören zu den Leuten, die ihnen gerade ihr Schiff gestohlen haben. Im Moment sind sie offenbar dabei, Sondenteile von ihrem Rover abzuladen. Das passt, denkt Lance, aber so leicht wird er ihnen die Sache nicht machen.
Er schaltet seinen Außenlautsprecher an. Dann dreht er die Lautstärke hoch. Durch die dünne Marsluft kommt sonst nur ein Flüstern bei den beiden Dieben an.
»He, nehmt eure Hände von unserem Rover«, ruft er.
Die linke Figur dreht sich daraufhin um. Der andere hat anscheinend nichts gehört, denn er versucht weiter, ein Seil zu lösen. Der Mensch im linken Anzug klopft ihm auf die Schulter.
Lance läuft auf die beiden zu. Die unförmigen Anzüge verraten ihm nicht, ob ein Mann oder eine Frau darin stecken. Aber das ist auch egal. Die beiden Figuren haben hier nichts verloren. Sarah versucht, ihn zurückzuhalten, aber so geht es doch nicht! Wenn sie sich nicht freiwillig zurückziehen, muss er sie eben dazu zwingen. In ihren altmodischen Raumanzügen haben sie keine Chance gegen ihn. Wenn man in so einem Ding steckt, braucht man dreimal so lange, um zuzuschlagen.
Aus drei Metern Abstand kann er die Namen lesen, die an ihren Anzügen aufgestickt sind. Es sind zwei Männer, links steht Shashwat, rechts Guillermo.
»Guillermo«, ruft Lance wütend über den Lautsprecher, »lass sofort unser Fahrzeug in Ruhe!«
Plötzlich greift Guillermo in eine Tasche des Anzugs und zieht ein schwarzes Werkzeug heraus. In seinen überdimensionalen Handschuhen ist kaum zu erkennen, worum es sich handelt.
»Er hat eine Pistole!«, ruft Sarah, und nun bemerkt er es auch: Der Mann zielt mit der Waffe auf ihn. Lance bleibt sofort stehen.
»Scheiße, die Typen sind bewaffnet«, sagt er über den Helmfunk.
»Provozier sie nicht, Lance, bitte, das lohnt sich doch nicht«, sagt Sarah.
Er dreht sich zu ihr um. Sie hat die Arme gehoben und kommt langsam näher.
»Sag ihnen, dass du mit ihnen auf Kanal 22 sprechen willst«, sagt sie leise per Funk.
»Wieso? Wir sind doch auf der 15?«
»Frag nicht.«
Lance aktiviert wieder sein Außenmikro.
»Kanal 22. Können wir reden?«, sagt er laut.
Die beiden Männer scheinen ihn verstanden zu haben. Sie tippen auf einen Knopf an ihren Helmen.
»Das ist ja eine Überraschung«, hört Lance eine Stimme. Er kann den Akzent nicht zuordnen, also wird das Shashwat sein.
»Tja, das ist ausgesprochenes Pech«, sagt der zweite Mann mit spanischem Akzent. Guillermo also. Er ist der, der die Pistole auf ihn richtet.
»Kannst du nicht das Ding da runternehmen, Kumpel?«, versucht es Lance.
»Damit du mich außer Gefecht setzt? Du hältst uns wohl für sehr dumm. Typischer NASA-Hochmut eben. Nein, die Waffe bleibt da, wo sie ist.«
»Und was wollt ihr?«, fragt Sarah.
»Dasselbe wie ihr, die Sonde«, sagt Shashwat.
»Und wenn wir schon dabei sind: auch alles andere, das ihr entbehren könnt«, sagt Guillermo. »Das dritte Segment eures Rovers würde hervorragend an unseren passen. Ist ja alles NASA-Produktion, wie praktisch, ha ha. Außerdem habt ihr doch bestimmt mehr Vorräte dabei, als ihr für die Rückfahrt braucht. Ist das nicht NASA-Routine, immer doppelt so viel mitzunehmen, wie man im schlimmsten Fall benötigt?«
Shashwat signalisiert seinem Kollegen irgendetwas. Vermutlich haben sie das vorher nicht abgesprochen. Die Sonde beanspruchen, das ist das eine, aber die Konkurrenz auch noch beklauen … Shashwat hat damit vielleicht ein Problem. Oder Lance bildet sich das nur ein, und dieser Shashwat will vielmehr, dass sie ihm den Rover komplett überlassen. Das wäre allerdings ihr Todesurteil.
»Nun mal langsam. Du glaubst doch nicht, dass du mit deiner mickrigen Pistole hier irgendetwas ausrichten kannst, Guillermo. Wo soll denn der Sauerstoff herkommen, um das Pulver in der Patrone zu zünden?«
Lance gibt sich betont ruhig. Anders als Sarah nimmt er auch nicht die Arme hoch. Er geht aber auch nicht weiter auf Guillermo zu.
»Was will er?«, fragt Guillermo.
»Lass dich nicht für dumm verkaufen. Dieses hübsche Ding«, Shashwat zieht nun ebenfalls eine Pistole aus der Tasche, »schießt hier hervorragend. Der Sauerstoff steckt in der Treibladung. Die niedrige Schwerkraft und die dünne Atmosphäre geben der Kugel sogar noch ein bisschen mehr Bums.«
Der Bluff hat leider nicht funktioniert. Aber sie können sich von den MfA-Männern doch nicht ausnehmen lassen wie zwei Weihnachtsgänse! Erst die Endeavour, dann die Sonde und ihre Vorräte. Demnächst stehen sie dann vor ihrer Haustür und fordern die Übergabe der Basis?
»Nun mal langsam. Es muss doch niemand zu Schaden kommen«, sagt Sarah. »Ihr habt die Waffen, wir haben nichts. Welche Wahl haben wir denn? Wir übergeben euch, was ihr wollt, da brauchen wir nicht lange drumherum zu reden.«
Was soll denn das jetzt? Hat Sarah schon aufgegeben? Sie hat zwar Recht: Gegen die zwei Revolverhelden werden sie mit Argumenten nicht ankommen. Warum gibt die NASA ihren Astronauten eigentlich keine Waffen mit? In Lance brodelt der Zorn. Doch er ist immer noch zu vernünftig, um es auf einen Angriff ankommen zu lassen. Vielleicht traut sich Guillermo nicht, auf einen anderen Menschen zu schießen, aber vielleicht hat er hier auch einen ehemaligen Mafia-Killer vor sich. Konnte sich bei Mars für Alle nicht jeder bewerben?
»Deine Kollegin scheint ja sehr vernünftig zu sein«, sagt der Mann zu seiner Linken.
»Wir wollen doch wirklich nur euer Bestes«, ergänzt der andere und lacht.
Die Typen machen es ihm wirklich nicht leicht, diese Schmach über sich ergehen zu lassen. Aus dem Augenwinkel bemerkt er, dass Sarah langsam zum Rover geht.
»Was machst du denn da?«, fragt Shashwat, dem das auch aufgefallen sein muss.
»Ich kopple das hintere Segment für euch ab«, antwortet Sarah. »Ihr wollt das hier doch bestimmt auch nicht länger als nötig hinauszögern?«
»Das ist sehr vernünftig.«
Sarah löst die Kupplung an der einen Seite, dann geht sie um den Rover herum, um sich um die andere Seite zu kümmern. Ob sie etwas im Schilde führt? Für Shashwat ist sie jetzt nicht mehr zu sehen, denn die Ladung auf dem Mittelteil ist im Weg, und Guillermo wendet ihr sowieso den Rücken zu, weil er immer noch auf Lance zielt. Von Minute zu Minute wird es dunkler. Plötzlich kommt von hinten ein Schatten angeflogen. Lance hat so etwas nur in Ninja-Filmen gesehen, wo Stuntmen irrwitzige Tricks vollbringen, doch hier ist es echt. Sarah hat die niedrige Mars-Schwerkraft genutzt und springt Guillermo von hinten ins Kreuz. Der Mann sackt auf die Knie. Er versucht noch, sich umzudrehen und die Waffe gegen Sarah zu richten, doch die windet sie ihm katzengleich aus der Hand und benutzt seinen Körper gleichzeitig als Deckung gegen den anderen MfA-Mann.
»Tut mir leid, Shashwat«, stöhnt Guillermo. Sarah hat ihn von hinten sicher im Griff.
»Das ist dann wohl ein Patt«, sagt Shashwat. Er zielt inzwischen mit seiner Pistole auf Lance.
Es knallt. Lance lässt sich instinktiv fallen. Dann hört er einen Aufschrei.
»Ein Patt? Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagt Sarah, während Lance sich wieder aus dem Staub aufrappelt.
»Hilfe, Hilfe«, ruft Shashwat, »mein Anzug hat ein Loch. Ich werde ersticken.«
Lance erkennt, was Sarah angerichtet hat. Der Raumanzug des Mannes ist am Oberarm perforiert. Dort ist die Kugel hindurchgegangen, die Sarah abgefeuert hat. Der Mann hat die Waffe fallengelassen und versucht, das Loch mit der anderen Hand zuzuhalten. Guillermo, der nun ganz am Boden liegt, reagiert nicht.
»Muss man denn hier alles allein machen?«, fragt Sarah. Sie läuft zu Shashwat. Dann kickt sie die Pistole, die vor seinen Füßen liegt, zu Lance, der sie aufhebt. Sie öffnet ihre Werkzeugtasche und nimmt das Notfallspray heraus.
»Habt ihr so etwas nicht dabei? Das gehört zu diesem verdammten NASA-Luxus«, sagt Sarah, »aber manchmal ist es ganz praktisch, wenn man ihn hat. Soll ich?«
»Ja«, sagt der Mann, »schnell!«
»Sag bitte.«
»Bitte.«
»Und dass du nie wieder jemanden bestehlen wirst.«
»Werde ich nicht.«
»Was wirst du nicht?«
»Jemanden bestehlen.«
»Geht das auch in einem ganzen Satz?«
»Bitte, ich werde nie wieder jemanden bestehlen.«
»Gut«, sagt Sarah und drückt auf den Sprühknopf. Aus der Düse dringt ein weißer Schaum, der das Loch verschließt.
»Dreh dich um, bitte«, sagt sie.
Der Mann dreht sich um. Sarah hebt seinen Arm etwas an, und er schreit vor Schmerz.
»Ich muss das tun. Das Loch liegt in einer Falte«, sagt sie. »Das Spray kann es sonst nicht richtig verschließen. Aber ich kann auch nicht behaupten, dass es mir besonders leidtäte.«
»Danke«, sagt der MfA-Mann.
»Und nun zu dir.« Sarah geht zu Guillermo. »Was sollen wir mit dir anstellen?«
»Bitte tut mir nichts. Es war nicht meine Idee. Der Diebstahl, meine ich.«
»Doch, das war es«, widerspricht sein Kollege.
»Dann muss ich dir jetzt leider eine Kugel in den Kopf jagen«, sagt Sarah, hebt aber die Waffe nicht.
»Bitte nicht«, sagt Guillermo. »Ich mache alles, was Sie von mir verlangen.«
»Na gut, das habe ich nicht so gemeint, das war nur die Rache für die Todesangst, in der mein Kollege Lance schweben musste. Dann schlage ich vor, ihr zwei Hübschen fahrt wieder in eure Siedlung zurück und überzeugt eure Chefin davon, dass es eine gute Idee ist, den NASA-Leuten ihr Schiff zurückzugeben.«
Sarah liefert eine großartige Vorstellung, findet Lance. So kennt er sie noch gar nicht. Fehlt eigentlich nur, dass sie eine Peitsche schwingt.
»Das ist … nicht so einfach«, sagt Shashwat.
»Versucht es wenigstens. Ihr seid bestimmt nicht die einzigen, die das wollen. Wenn ich euch besuche und höre, dass ihr es nicht probiert habt, gibt es Ärger, verstanden?«
»Verstanden«, antwortet Guillermo.
»Ach ja, ein kleines Pfand bräuchte ich noch von euch.«
Lance würde sich nicht wundern, wenn sie jetzt nach der Seele des Erstgeborenen fragen würde, oder nach dem kleinen Finger.
»Ja?«, fragt Shashwat.
»Unser Funkgerät hat auf der Hinfahrt den Geist aufgegeben. Wir konnten auf einem Teil der Hinfahrt nicht kommunizieren, ihr auf der Rückfahrt nicht, das ist doch nur fair, oder? Zufälligerweise passt es ja direkt auf unseren Rover. Ist eben alles NASA-Technik.«
»Natürlich«, sagt Guillermo, »darauf können wir verzichten.«
Sie fahren eine halbe Stunde durch die Dunkelheit, bevor sie ihr Lager aufschlagen. In der Nähe der MfA-Leute zu nächtigen, erscheint ihnen trotz des Ausgangs der Auseinandersetzung nicht ratsam. Schließlich wissen sie nicht, ob die beiden in ihrem Fahrzeug vielleicht noch weitere Waffen versteckt haben.
»Rover an Basis, bitte kommen.«
Sarah spricht ins Mikrofon. Endlich können sie ihre beiden Freunde aus der Ungewissheit erlösen.
»Basis an Rover. Sharon hier. Toll, euch zu hören! Was war denn los? Geht es euch gut?«
»Alles bestens. Es waren ein paar interessante Tage, aber davon berichten wir nach unserer Rückkehr.«
»Verstehe. Mike hat schon gedacht, die MfA hätte etwas mit eurem Verschwinden zu tun.«
»So kann man es nicht sagen. Ein Steinschlag hat unser Radio zerstört.«
»Aber ihr habt es wieder reparieren können?«
»So in etwa.«
»Na gut, ich freue mich sehr, dass es euch gut geht. Wir waren wirklich in Sorge.«
»Das tut mir leid.«
»War ja nicht eure Schuld. Großartig, dass wir wieder Verbindung haben. Wir haben dann auch ein paar interessante Neuigkeiten für euch.«