A ls ich aufwache, schmerzt jeder Muskel und jeder Knochen in meinem Körper. An den unzähligen Abschürfungen und kleinen Schnitten in meiner Haut sitzen Insekten und trinken mein Blut. Aber ich lebe noch. Ich muss mindestens zwölf Stunden geschlafen haben, die Sonne scheint schon stark durch das Wurzelgeflecht über mir. In einem trichterförmigen Blatt finde ich Regenwasser, das ich in gierigen Schlucken trinke. Wohin jetzt? Hat es Sinn, überhaupt weiterzugehen? Da ich in der Wildnis nicht überleben werde, kann ich genauso gut hierbleiben. Ich beginne, am ganzen Körper zu zittern.
Ich schließe die Augen und sehe das Gesicht des Mädchens beim Morgenopfer vor mir. Sie hat nicht gezittert, sie ist weitergegangen, direkt in den Schlund der Großen Schlange. Stufe um Stufe ist sie ihrem Schicksal entgegengestiegen, sie hat sich nicht in einer Höhle verkrochen, so wie ich das tue. Zumindest ihr bin ich es schuldig, nicht aufzugeben. Ich verlasse mein Versteck, ich atme die üppige, fleischige, schwere Luft des Waldes tief ein. Ich ziehe weiter, immer weiter, in die Richtung, die ich für Osten halte, bis ich plötzlich am Ende der Welt stehe.
Das Meer ist so, wie Skarf es beschrieben hat, und doch ist es ganz anders. Es atmet, es lebt. Aber in einem hatte Skarf recht: Es muss unendlich sein. Ich taste mich vorsichtig durch den Sand, ich weiß nicht, welche Gefahren darin lauern. Als mir nichts geschieht, traue ich mich, mit den Füßen ins Wasser zu gehen. Das Meer umschließt meine Knöchel, lässt sie wieder los, umschließt sie wieder. Ich könnte ewig so stehen. Ich schmecke das Wasser, es ist salzig, wie Skarf gesagt hatte, aber viel salziger, als ich es mir vorgestellt hatte. Es ist kalt und frisch. Auch der Wind, der hier weht, ist kalt und frisch. Er hat einen einzigartigen Duft. Aus den Tiefen dieses Meeres ist die Große Schlange gekommen. Gibt es weitere Götter in diesem Meer? Leben sie alle dort? Gibt es Sterne, dort unten im Meer, so wie es sie oben am Himmel gibt?
Irgendwann löse ich meinen Blick vom Horizont und schaue zurück auf das Land. Die Küste sieht links und rechts von mir sehr ähnlich aus: ein breiter Streifen aus Sand, dazwischen immer wieder dunkler Stein, der bis in das Meer hinein reicht. Ich lasse eines meiner goldenen Amulette entscheiden, in welche Richtung ich gehen soll, ich werfe es in die Luft, und da das Zeichen der Göttin des Schwarzen Mondes mir aus dem Sand entgegenleuchtet, wende ich mich nach links. Außer ein paar weißen Vögeln über dem Wasser sehe ich keine Lebewesen, aber ich bleibe trotzdem auf der Hut. Ich untersuche die Gegenstände, die das Meer angespült hat: ausgeblichene Holzstücke, Teile von eigenartigen Pflanzen, die vielleicht unter Wasser wachsen, das Skelett eines großen Fisches. Plötzlich, als ich von einer hohen Felsenspitze herab in die kleine Bucht darunter blicke, entdecke ich etwas im Sand. Es könnte ein großes Stück Holz sein, ein Stoffbündel, oder auch ein Mensch. Es ist noch zu weit entfernt, um es zu erkennen. Schritt für Schritt klettere ich vom Felsen, ich gehe vorsichtig auf das Ding dort im Sand zu und blicke mich dabei immer wieder um. Je näher ich komme, desto sicherer bin ich, dass dort jemand an den Strand gespült wurde. Ich sehe nackte Füße, einen verdrehten Arm, nasses Haar. Ja, es ist ein Mensch, halb noch im Wasser, halb im Sand. Ich ziehe die Gestalt an den Schultern weiter auf den Strand hinauf, ich drehe sie um und erkenne, dass es ein Mädchen ist, sie könnte in meinem Alter sein. Ihr Gesicht ist fahl, ihre Lippen sind blau, die dunklen Kleider kleben an ihrem Leib, ein breiter Ledergürtel hält sie zusammen. Ist sie tot? Ich lege zwei Finger an ihr Handgelenk und spüre einen sehr schwachen Puls. Sie lebt, aber sie hat nicht mehr viel Leben in sich.
Ich richte sie auf und beginne, auf sie einzureden: »Halte durch! Ich bringe dich in den Schatten. Ich hole dir Wasser. Ich hole dir etwas zu essen. Bitte stirb nicht. Du hast es fast geschafft. Du wirst wieder zu Kräften kommen. Halte durch.«
Irgendwie schaffe ich es, den reglosen Körper über die Klippen bis zum Waldrand zu tragen. Im Schatten eines Baumes lege ich das Mädchen auf weiches Moos. Ihre Haut ist gleichzeitig vom Wasser aufgedunsen, vom Salz rissig und von der Sonne gerötet. Ich trete in hektische Aktion, sammle Früchte, Wurzeln und Kräuter, von denen ich weiß oder vermute, dass man sie essen kann. Ich finde eine Blume, in deren Stängeln ein milchig weißer Saft fließt, den meine Mutter oft benutzt hat, um ihre Haut zu pflegen. Ich sammle so viel von diesem Saft wie möglich und reibe ihre Haut damit ein. Die ganze Zeit spreche ich zu dem Mädchen, auch, wenn sie keine Regung zeigt. Ich entfache ein Feuer und versuche, in einem Napf aus Rinde eine Art Suppe zu kochen. Nach dem dritten Anlauf gelingt es mehr oder weniger. Ich gebe mir Mühe, dem Mädchen etwas davon einzuflößen, doch sie schluckt nicht und die Suppe rinnt aus ihren Mundwinkeln.
Am Abend decke ich sie mit meinem Umhang zu, streiche ihr über das Haar und spreche unablässig zu ihr. So verbringe ich die Nacht. Ab und an sinkt mir der Kopf auf die Brust und ich schlafe kurz ein, dann wache ich mit einem Ruck auf und spreche weiter. Ich verliere vollkommen mein Gefühl für die Zeit. Es scheint mir, als würde diese Nacht ewig währen und als wäre ich überall und nirgends zugleich. Doch irgendwann glitzert der erste Sonnenstrahl über die spiegelglatte Wasserfläche im Osten, und im selben Moment schlägt das Mädchen die Augen auf. Sie sind hell wie der Himmel über uns. Ich gebe ihr Wasser, endlich trinkt sie ein paar vorsichtige, kleine Schlucke. Sie sieht mich an, als wäre ich ein Dämon, der sie heimgesucht hat.
»Ich bin Arkyn«, sage ich. »Ich habe dich am Meer gefunden.«
Sie legt ihre Stirn in Furchen, ihre Augen verengen sich. Als sie spricht, ist ihre Stimme brüchig wie ein welkes Blatt. »Wo bin ich?«
»Ich weiß es selbst nicht genau. Irgendwo an der Küste.«
»Welche Küste?«
»Es gibt nur eine Küste. Dort, wo das Land aufhört, und das Meer beginnt.«
»Welche Küste?«, wiederholt sie, trotz ihres Zustands voller Ungeduld.
Jetzt verunsichert sie mich. »Es gibt nur eine Küste, soweit ich weiß, so wie es nur ein Waraka gibt …«
»Waraka!« Sie spricht das Wort aus, als wäre es eine Zauberformel, eine Beschwörung von etwas, das nicht von dieser Welt ist. »Hier ist Waraka?«
Ich nicke. »Natürlich ist hier Waraka. Überall, wo nicht der Himmel ist, oder das Meer, ist Waraka.«
Sie schüttelt den Kopf, beginnt zu husten. Ich reiche ihr Wasser und eine Frucht, die ich geschält und mit einem flachen Stein so gut wie möglich in Streifen geschnitten habe. Sie kaut gierig, sie trinkt und lässt den Kopf auf das Mooskissen sinken, das ich ihr aufgeschichtet habe.
»Waraka, Waraka, Waraka«, flüstert sie. Dann schließen sich ihre Augen, sie bewegt sich nicht mehr. Habe ich die ganze Nacht durchgehalten, nur um sie jetzt, im ersten Licht des Tages, zu verlieren? Ich prüfe wieder ihren Puls und beruhige mich etwas, als er mir noch etwas kräftiger vorkommt als gestern. Das Mädchen schläft. Sie schläft bis in den frühen Nachmittag. Als sie aufwacht, nimmt sie etwas von meiner Wurzelsuppe. Sie ist wie ausgewechselt, wirkt rebellisch, fast zornig.
»Was tust du in meinem Kopf?«, fragt sie mich.
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Waraka gibt es nicht. Ich habe geglaubt, dass es existiert, aber ich habe mich getäuscht. Es ist ein Wahn, alle haben es immer gewusst. Nur Saga wollte es besser wissen, Saga musste ihrem Fieber glauben. Und sie haben Sagas Fieber geglaubt. Nun sind wir alle tot. Ich bin tot, und trotzdem geht mein Fieber weiter. Du bist nichts als Fieber, verschwinde.«
»Du bist also Saga?«
»Ich war Saga. Jetzt bin ich tot.«
»Du warst fast tot, aber jetzt lebst du. Du atmest, du sprichst, du hast sogar gegessen.«
»Nein, ich bin tot, oder ich sterbe gerade. Warum erscheinst du mir, Arkyn? Bist du ein Bote der Unterwelt?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Ich bin bereit, das Reich der Toten zu betreten, lass mich ein, Arkyn.«
»Wenn hier jemand das Reich der Toten bewacht, bist du das. Ja, so muss es sein. Ich habe den Smilo nicht befreit, ich bin beim Hier und Jetzt umgekommen. Oder bei meiner Flucht aus Kuri. Ich habe das Meer niemals gefunden. Ich bin im Reich der Toten, du bist die Wächterin.«
Erst sieht sie mich mit ihren hellen Augen durchdringend an. Dann lächelt sie. »Wir drehen uns im Kreis. Erzähl mir deine Geschichte, und dann können wir immer noch entscheiden, wer hier wen in die Unterwelt lässt.«