KAPITEL 34

» A rkyn!« Aus der Mitte der Gefangenen schiebt sich jemand nach vorn und deutet mit dem Finger auf mich, es ist ein Mädchen, etwa in meinem Alter, zierlich und doch muskulös. In ihren Augen liegt Mut, echter Mut. In diesem Moment erkenne ich sie: Es ist das Mädchen, das mich angeschaut hat auf den Stufen des Tempels, damals am Tag der Dankbarkeit, kurz bevor ich die Stadt mit Hurakan verlassen habe. Sie war das letzte der Opfer, das sich in den Schlund der Großen Schlange gestürzt hat. Wie kann es sein, dass sie lebt? Warum ist sie hier?

»Arkyn!«, sagt sie wieder und erst jetzt bemerke ich den Hass in ihrer Stimme.

»Arkyn!« Sie fügt etwas auf Warak hinzu, das ich nicht verstehe. Die anderen Gefangenen beginnen ebenfalls, meinen Namen zu rufen, auch in ihren Stimmen liegt Hass. Einige spucken durch die Stäbe, Steine und Schmutz werden nach mir geworfen.

»Es ist ein Irrtum, ich will euch befreien.«

Trotz des Bombardements aus Schimpfworten, Dreck und Spucke nähere ich mich der Gefängnistür. Der Mechanismus, der sie verschließt, sieht kompliziert aus. Ein größerer Stein trifft mich an der Schulter und ich zucke zusammen.

»Lass es, Prinz Arkyn«, höre ich Sagas Stimme neben mir. »Sie hassen dich. Es ist offensichtlich.«

Als die Gefangenen Saga neben mir bemerken, werden die Flüche und Drohungen noch lauter. »Gormkin! Gormkin!«, höre ich immer wieder. Auch Saga wird beworfen und bespuckt, sie versuchen vor allem das Gold an ihrem Körper, das einmal mir gehörte, zu treffen.

»Mich mögen sie wohl auch nicht besonders«, bemerkt Saga. »Wir können hier nichts ausrichten. Lass uns gehen, bevor die Wachen zurückkommen.«

Ich rüttele an den Stäben der Gefängnistür, einer Faust, die durch die Stäbe nach mir zielt, kann ich nur knapp ausweichen.

Saga zieht mich an der Schulter zurück. »Komm jetzt, sonst landen wir auch da drin, und damit ist keinem geholfen.«

Es fällt mir unendlich schwer, aber ich sehe ein, dass sie recht hat. Ich mache einen Schritt zurück.

»Ich komme wieder«, rufe ich den Gefangenen zu, auch wenn ich weiß, dass sie mich nicht verstehen. »Ich komme wieder, und ihr werdet frei sein. Ihr werdet freie Menschen in einer freien Stadt sein. Ihr werdet ohne Furcht leben.«

Meine Augen suchen die des Mädchens, das mich erkannt hat. Sie flucht nicht und wirft nichts durch die Gitterstäbe. Sie sieht mich einfach nur an, doch ihr Blick trifft mich mehr als alles andere. Ich schicke meine Gedanken zu ihr, ich versuche das Versprechen, das ich mit Worten gegeben habe, in meinen Blick zu legen. Ich hoffe, dass sie versteht, ich bete darum, dass sie mir glaubt. Dann drehe ich mich um und folge Saga zurück in den dunklen Stollen. Saga entzündet eine Fackel, ich stolpere hinter ihr her, durch immer engere, stickigere Tunnel, streckenweise ist die Decke so niedrig, dass wir über den Fels robben. Als wir nach unzähligen Abzweigungen, Sackgassen und Irrwegen endlich an die frische Luft gelangen, ist es bereits Nacht. Über uns strahlen die Sterne ungerührt ihr kaltes Licht aus, die Umrisse der Berge heben sich schwarz gegen den nachtblauen Himmel ab. Alles scheint so zu sein wie immer, aber in mir ist etwas zerbrochen. Ich lege mich auf den kalten Stein und starre in den Nachthimmel.

»Ich habe Hurakan verloren. Ich werde von meinem Volk gehasst. Ich …«

»Ja«, unterbricht mich Saga, »du bist ein Nichts. Man sollte dich Prinz Nichtsnutz von Waraka nennen. Aber weißt du, was dir überhaupt nicht steht? Selbstmitleid. Du hast ein Versprechen gegeben, dir selbst und deinem Land gegenüber. Halte es. Nutze die Zeit, die du hast, um voranzukommen. Wir sind noch auf dem Gelände der Mine, wahrscheinlich sind wir durch einen Tunnel gekommen, der zur Probe gebohrt wurde, oder zur Belüftung. Wir sind noch nicht in Sicherheit, Arkyn. Komm, es geht weiter.«

Ich richte mich auf, ich straffe meine Schultern, aber mein Herz ist schwer. »Ja, Saga. Es geht weiter. Immer weiter.«

Vom Kampf der Adlerkrieger gegen die Kelano ist nichts mehr zu sehen. Von der Festung her, die in einiger Entfernung im Fackellicht steht, hören wir leise Stimmen und metallisches Geklapper. Ab und zu bewegen sich Fackeln in verschiedene Richtungen.

»Das könnten Suchtrupps sein«, meint Saga. »Weiter!«

Im kargen Licht der Sterne finden wir einen Weg über einen Grat, hinaus aus dem Talkessel, in dem sich das Bergwerk befindet. Ich weiß nicht, wie wir es schaffen, ohne Ausrüstung, ohne Licht und ohne ein Geräusch machen zu dürfen, aber wir schaffen es. Wir reißen uns die Haut an scharfen Kanten ein, wir stolpern durch Geröllfelder, aber wie durch ein Wunder gelangen wir zurück an die Stelle, an der wir unser Gepäck gelassen haben. Jede einzelne Faser meines Körpers schmerzt, jeder Schritt ist eine Qual, als ich mich in das spärliche Gras fallen lasse.

Du wirkst erschöpft , meldet sich eine bekannte Stimme in meinem Kopf. Du hättest etwas Sättigendes essen sollen, so wie ich. Es gab Adler. Sehr schmackhaft, bis auf die die vielen Federn.

Trotz meiner Erschöpfung, trotz der Schmerzen in allen Gliedern, springe ich auf und schlinge meine Arme um Hurakan.

»Das habe ich mir gedacht«, murmelt Saga neben mir, während sie die Pfeile im Köcher ihres Jagdbogens ordnet. »Bei uns sagt man: Katzen haben sieben Leben. Scheint auch für die mit besonders großen Zähnen zu gelten.«