KAPITEL 39

D ie Befreiten sind verschwunden. Sie haben die Ausrüstung, die Nahrungsmittel und die Waffen, die wir ihnen gegeben hatten, mitgenommen. Das Gold, das Saga ihnen überreicht hatte, haben sie zurückgelassen. Die Schmuckstücke liegen als erbärmlich kleiner Haufen im Staub. Ich bin ein wenig enttäuscht, ich hatte gehofft, dass sich diese Menschen mir anschließen würden. Gleichzeitig bin ich stolz, dass sie das Gold zurückgelassen haben. Es erscheint mir absurd, dass ich dieses gelb glänzende Metall einst getragen habe, nur um den Menschen zu zeigen, wer ihr zukünftiger König ist. Ich hole mir einen Spaten, der an der Wand einer Hütte lehnt, und beginne zu graben.

»Was tust du da?«, fragt mich Saga.

»Ich gebe den Bergen das Gold zurück. Hier gehört es hin. Oder willst du es wiederhaben?«

Anstatt mir zu antworten, schnappt sich auch Saga einen Spaten. Wir schaufeln, bis es dunkel wird, dann holen wir uns Laternen aus den Offiziershütten und graben weiter. Unsere Schultern, Arme und Hände schmerzen, aber wir gönnen uns keine Pause. Erst, als unsere Spaten auf Stein treffen, hören wir auf. Wir werfen die Schmuckstücke in die entstandene Grube, durchsuchen die Festung und werfen alles Gold, das wir finden, ebenfalls in dieses Grab. Als wir alles wieder zugeschaufelt und mit den Füßen festgestampft haben, fühlen wir uns unendlich erschöpft und erleichtert.

Wir verbringen die Nacht in der Festung. Die Smilos auf den Wachtürmen, die Unvorstellbaren vor den Toren und einige Kelano, die ihre Kreise über uns ziehen, halten Wache. In der Morgendämmerung brechen wir auf. Wir nehmen alles, was wir an Ausrüstung, Verpflegung und Waffen tragen können, mit.

Wir reisen schweigend, Saga und ich auf Hurakan gehen voran, dahinter folgen die restlichen Smilos und mit einigem Abstand die Unvorstellbaren, die Kukul, die Masakurr, die Wakos und all die anderen Wesen aus der Zeit vor unserer Zeit. Es geht nach Süden, nach und nach werden die Berge flacher, bald umschließt uns das erste Grün.

Nach drei Tagesreisen sind wir in den dichten, atmenden Wäldern, das Gebirge hinter uns scheint nur noch eine Erinnerung zu sein. Hier ist die Luft wieder schwer und feucht, hier schwirren Insekten aller Größen um uns herum, hier müssen wir uns auf jeden Schritt konzentrieren. Es tut gut, zurück in diesem Wald zu sein, es ist ein wenig so wie bei meiner ersten Reise mit Hurakan. Ich verliere mich in der Erinnerung, bis das Brüllen einiger Smilos vor uns meine Gedanken unterbricht. Gleichzeitig sirrt ein Pfeil von irgendwoher durch die Luft und bleibt zitternd in einem Baumstamm unmittelbar neben mir stecken.

Die Smilos reagieren sofort. Sie gleiten wie Phantome aus dem Dickicht, sie klettern mühelos und schnell an den Bäumen hoch und jetzt erkenne ich auch ihr Ziel: Überall in den Baumkronen sitzen Menschen, mit Blättern und Zweigen so gut getarnt, dass man sie leicht für einen Teil des Waldes halten könnte. Ein Smilo ist fast schon bei den Bogenschützen angelangt, die in der Baumkrone direkt vor uns hocken, sie haben ihre Pfeile bereits in seine Richtung gefeuert, doch so leicht lässt sich ein Smilo in seiner angestammten Umgebung nicht treffen. Nur noch wenige Herzschläge trennen sie von seinen todbringenden Pranken.

Halt! , sende ich meine Gedanken an den Smilo, und ich versuche, auch die anderen zu erreichen. Doch erst, als Hurakan kurz faucht, zieht sich der Smilo zurück. Ich habe diese Menschen erkannt, es sind dieselben, die die Unvorstellbare mit ihren Pfeilen erlegt hatten, als sie mit Hurakan kämpfte.

Erinnerst du dich? , frage ich Hurakan in Gedanken.

Ja. Wer sind sie?

Ich weiß es nicht.

Ich hebe die Hände über den Kopf, um den Men schen in den Bäumen zu zeigen, dass wir für sie keine Gefahr bedeuten.

»Wir …«, beginne ich, werde jedoch von einem rauen Lachen aus einer der Baumkronen unterbrochen.

»Chturri !«, ruft eine Stimme, die mir bekannt vorkommt. »So sehen wir uns wieder, Prinz Arkyn.«

»Kul!«

Ja, er ist es, Kul, der Adlerkrieger, dem Saga und ich die Rüstung abgenommen hatten, der allein in die Wälder gegangen war, während Saga und ich Hurakan aus Skarfs Käfig befreiten.

Kul klettert geschickt von dem Baum herunter. Er sieht selbstbewusst und optimistisch aus, kein Vergleich mit dem eingeschüchterten, missmutigen Adlerkrieger, als den wir ihn kennengelernt hatten.

Ich lasse die Hände wieder sinken.

Kul bleibt einige Schritte vor mir stehen und beäugt Hurakan kritisch. »Was ist mit diesen Smilos?«, fragt er auf Gormdrak.

»Sie werden euch nichts tun. Uns folgen noch weitere Wesen aus den Wäldern. Auch sie werden euch nichts tun.«

Kul nickt, er hebt eine Hand und die Menschen in den Bäumen senken ihre Bögen.

Ich schwinge mich von Hurakans Rücken, stelle mich vor den ehemaligen Adlerkrieger und senke den Kopf. »Bitte verzeih, dass wir dir deine Rüstung genommen haben. Wir mussten Hurakan befreien.«

»Ihr habt auch mich befreit. Sieh, ich spreche ganz normal mit dir, Prinz Arkyn. Die Verbote von Kuri gelten nicht mehr für mich. Ich habe diese Menschen gefunden, und mich ihnen angeschlossen. Sie sind jetzt meine Familie.«

»Wer sind diese Leute?«

»Das weißt du nicht? Es sind die Vidari, die Herrscher der Wälder.«

Es durchfährt mich eiskalt, als ich den Namen meines Vaters höre. »Vidari?«

»Ja.«

»Wo ist Vidar? Was ist mit meinem Vater geschehen? Bringt mich sofort zu ihm!«

Kul legt mir eine Hand auf die Schulter. »Du solltest mit unserer Anführerin reden. Sie wird dir alles erklären können.«

Saga und ich folgen Kul und den anderen Vidari auf einem verborgenen Pfad durch den dichten Wald. Hurakan und die Smilos bleiben auf meine Bitte hin zurück. Hurakan gefällt das nicht, aber das hier ist eine Sache, die uns Menschen angeht. Wir gehen weit, es ist fast Abend, als wir an einem kreisrunden See ankommen, der sich plötzlich mitten zwischen den Bäumen auftut. Meine Mutter hat mir manchmal von diesen geheimnisvollen Seen erzählt, die es in den Wäldern geben soll. Sie werden Yachai genannt, das bedeutet Auge auf Warak. Sie sollen so tief sein, dass man an ihrem Grund dieselben Sterne findet wie oben am Himmel. Die Wasseroberfläche schimmert wie ein schwarzer Spiegel.

»Dies ist ein Ort aus der alten Zeit«, sagt Kul. »Die Gormkin wagen sich nicht hierhin. Kommt mit.« Kul stellt sich an den Rand des Sees. »Der Eingang zur Stadt befindet sich unter der Wasseroberfläche. Seid ihr bereit?«

»Aber ich kann nicht schwimmen.«

»Das müsst ihr nicht.« Kul deutet auf ein Seil, das kaum sichtbar neben einigen Schlingpflanzen aus dem Wasser ragt und dessen Ende an eine Wurzel am Ufer geknotet ist. »Haltet euch daran fest, lasst es auf keinen Fall los. Wenn ihr festen Boden unter den Füßen spürt, geht geradeaus. Dreht euch nicht um, geht einfach weiter. Verstanden?«

Saga und ich nicken. Kul springt elegant mit dem Kopf voran in das Wasser, es macht fast kein Geräusch. Rings um ihn verschwinden auch die anderen Vidari, so schnell und leise wie Alligatoren. Nur Saga und ich bleiben zurück. Ich packe das schwere, glitschige Seil. Ich versuche, mich mit den Füßen abzustützen, während ich in das Yachai steige, aber schon sehr bald strampeln meine Beine hilflos im Wasser. Es ist wie in meinem Traum, nachdem mich die Kelano in den Ozean geworfen hatten, doch diesmal kann ich nicht unter Wasser atmen. Ich schlucke ein wenig, fange an, unter Wasser zu husten, fast lasse ich das Seil los. Doch ich besinne mich, ich zwinge mich, ruhig zu bleiben und das Seil mit meinen klammen Händen weiter festzuhalten. Vidar, Vidar, Vidar schlägt mein Herz. Vorsichtig ziehe ich mich an dem Tau herunter. Wahrscheinlich bin ich zu langsam, oder mein Herz schlägt zu schnell, die Luft geht mir aus. Also sinke ich schneller. Ich öffne die Augen, doch alles um mich herum ist pechschwarz. Endlich stoße ich auf etwas Hartes, das Seil ändert die Richtung, es macht einen Knick nach oben und verläuft jetzt parallel zur Oberfläche. Ich zerre wie ein Wahnsinniger daran, endlich spüre ich festen Boden unter meinen zappelnden Füßen. Mein Kopf taucht aus dem Wasser, ich will nur noch atmen, ich sauge die feuchte, kalte Luft gierig ein. Als ich wieder zu Sinnen komme, sehe ich, dass ich mich in einem breiten Tunnel befinde, der schräg nach oben verläuft. Es muss eine Art Schleuse sein, die das Wasser davon abhält, in die Gänge einzudringen, die von hier aus abzweigen. Kul hockt in der Nähe, hält mir lächelnd eine Hand entgegen und zieht mich vollständig aus dem Wasser.

»Siehst du? Es ist ganz einfach. Holst du deine Begleiterin?«

Mich schaudert es bei dem Gedanken, das alles noch einmal zu machen.

Kul grinst. »Der Weg nach draußen ist einfacher. Und man gewöhnt sich dran.«

Also greife ich wieder nach dem Seil und hangele mich durch die Dunkelheit bis zur Oberfläche. Kul hat recht, es ist gar nicht so bedrohlich, wenn man weiß, dass der Weg durch das Wasser ein Ende findet.

»Kommst du, Saga?«

Doch Saga schüttelt den Kopf. »Nicht ins Wasser. Nie mehr unter Wasser, es sei denn, um zu sterben.«

Ich erinnere mich daran, wie Saga an der Küste aufgesprungen und in das Meer gerannt war. Da war sie noch überzeugt davon, in Wirklichkeit ertrunken zu sein und sich in der Welt der Toten zu befinden. Vielleicht ist es tatsächlich so. Ich bin mir inzwischen nicht mehr sicher, ob ich nicht nur ein Teil von Sagas Fieber bin, ob nicht Hurakan, die Smilos, die Wälder, ganz Waraka nur einer von Sagas Fieberträumen sind. Doch ein Traum, einmal geträumt, wird zu einer Wahrheit, die in der Welt ist. Und was in der Welt ist, ist Teil der Welt.

Saga steht fest mit den Füßen auf dem Boden. Die Arme hat sie vor der Brust verschränkt. »Kein Wasser, niemals«, wiederholt sie. »Ich werde hier warten.«

»Gut, ich komme bald zurück.«

»Noch etwas, Arkyn. Ich weiß, wie dir zumute ist. Aber vielleicht ist es für mich etwas leichter. Ich habe beide Eltern verloren, ich habe Gewissheit. Du hast Hoffnung, aber die Hoffnung kann grausam sein.«

»Ich verstehe. Danke, Saga.«

Sie umarmt mich kurz, dann lasse ich mich an dem glitschigen Tau wieder ins Wasser gleiten.