M eine Armee bahnt sich ihren Weg durch den Wald. Aber es werden keine Lianen zerhackt, keine Bäche überbrückt, keine Büsche niedergetrampelt, wie es bei einer Gruppe von Adlerkriegern der Fall wäre. Die Vidari leben im Wald und mit dem Wald, sie bewegen sich fast so lautlos und gleitend wie Smilos durch die Bäume, mal auf dem Boden, mal auf den tief hängenden Ästen und manchmal in der Nähe der Baumkronen. Nur das Rascheln und Flirren um mich herum zeigt mir, dass hier Hunderte von Menschen mit mir unterwegs sind. Saga und ich befinden uns auf Hurakans Rücken in der Mitte dieses verborgenen Marsches.
Trotzdem ist Mohio überzeugt davon, dass Skarf nicht unvorbereitet sein wird. »Sie haben hervorragende Späher. Sie haben es sogar geschafft, Jaware abzurichten und für ihre Zwecke einzusetzen. Sie wissen, dass wir kommen.«
Ich nicke und denke an den großen Jawar, der Hurakan bei der Mine angegriffen hatte. Ja, sie wissen, dass wir kommen. Doch Mohio ballt kämpferisch die Fäuste. »Aber es ist gut, dass sie es wissen. So haben sie noch mehr Zeit, ängstlich zu sein. Denn Angst werden die Adlerkrieger haben, das ganze System, das die Gormkin aufgebaut haben, beruht auf Angst. Es funktioniert nur, solange die Krieger mehr Furcht vor ihren Vorgesetzten haben als vor ihren Feinden. Aber ist Skarf Furcht einflößender als eine Horde von Unvorstellbaren, die an den Stadttoren von Kuri rütteln? Ich glaube kaum.«
»Unterschätze Skarf nicht, Mohio«, entgegne ich. »Ich habe mein ganzes Leben mit ihm verbracht, bis zu dem Tag, an dem ich mit Hurakan aus Kuri geflohen bin. Skarfs Art, durch Furcht zu herrschen, ist nicht plump oder grob. Er droht nie. Er ist immer freundlich. Ich habe Jahre gebraucht, um überhaupt zu verstehen, dass er Furcht verbreitet. Die Adlerkrieger werden nicht aus Angst vor ihm kämpfen, sondern aus Angst vor der Großen Schlange. Skarf wird ihnen erzählen, dass sie die ganze Stadt, das ganze Land, die ganze Welt zertrümmern wird, wenn sie ihren Tempel nicht verteidigen. Skarf kann lügen, ohne dass eine Lüge sichtbar wird. Die Menschen in Kuri werden glauben, dass ihr, die Waldmenschen, sie zerstückeln und essen werdet, falls ihr gewinnt. Sie werden glauben, dass die Bestien aus den Wäldern und den Bergen, die Smilos, die Unvorstellbaren, die Kelano, sie zerfetzen und auslöschen werden, wenn sie sie nicht selbst vorher vernichten. Ja, sie werden Angst haben in Kuri. Aber nicht vor Skarf, nicht vor den Gormkin. Sie werden panische Angst haben, und deshalb sind sie gefährlich. Sie werden kämpfen, mit der Verzweiflung einer Meerkatze, die in die Enge getrieben wurde. Und je mehr sie kämpfen, desto größer wird ihre Angst, und je größer ihre Angst wird, desto mehr werden sie kämpfen.«
Mohio schweigt ein paar Schritte lang, bevor sie antwortet. »Ich fürchte, du hast recht, Prinz Arkyn. Aber möchtest du gegen dein eigenes Volk kämpfen?«
»Nein«, entgegne ich. »Das möchte ich natürlich nicht. Und wenn es irgendwie geht, werde ich es vermeiden. Aber frag mich bitte nicht wie.«
Wie damals, als ich allein mit Hurakan unterwegs war, reisen wir zehn Tage, bis wir nach Kuri gelangen. An jedem dieser zehn Tage werde ich schweigsamer, ich denke an meine Mutter, die hoffentlich noch lebt, an meinen Vater, der eins mit den Pflanzen geworden ist, an die Tempelkatze Mala, die mich gelehrt hat, mit den Tieren zu sprechen, an die Stunden über Stunden, die ich mit Skarf, meinem Lehrer und Mentor verbracht habe. Ich habe diese Stunden mit Skarf genossen, seine Erzählungen von der Welt, bei denen ich die Augen geschlossen hielt, als er mich mit Worten mitgenommen hat an das Meer, in die Berge, an die vielen Orte Warakas, die mir immer verborgen bleiben sollten. Ich habe es genossen, wenn Skarf mir gesagt hat, dass ich in der Gunst der Großen Schlange stehe, dass ich zu den Auserwählten gehöre, dass ich in die Fußstapfen meines Vaters treten werde, des größten Königs, den Waraka je hatte. Skarf, der Schmeichler und Lügner. Ich sehe sein Gesicht vor mir, seine hellen Augen. Ich drehe mich um zu Saga, die hinter mir auf Hurakans Rücken sitzt. Auch sie hat diese Augen. Saga hat Gormkin-Augen, Skarf-Augen, Hüterin-der-Großen-Schlange-Augen, die sich in meine bohren.
»Saga«, frage ich sie an diesem Abend vor der Schlacht um Kuri, »warum begleitest du uns? Was willst du wirklich?«
»Ich will, dass wir niemals nach Waraka aufgebrochen wären. Dass wir meiner Vision niemals gefolgt wären. Dass unsere Schiffe nicht untergegangen wären. Dass meine Familie noch lebte. Dass die Weltenschlange sie nicht verschlungen hätte. Das ist, was ich wirklich will. Doch das kann ich nicht bekommen. Deshalb will ich das Zweitbeste. Ich will ihnen folgen. Ich werde sie wiedersehen, wahrscheinlich schon morgen. Doch sollten eure Große Schlange und die Weltenschlange wirklich eins sein, dann würde ich ihr gerne noch eine verpassen, bevor ich diese Erde verlasse. Deshalb werde ich dich begleiten, Prinz Arkyn, bis in diesen Tempel im Zentrum eurer Stadt, bis in den Schlund dieser gefräßigen Gottheit, und dort werde ich ihr das Ragnik ins Herz stoßen, wenn du es nicht schon getan hast.«
»Du weißt, was ein Ragnik ist?«
»Natürlich. Deines besteht aus Eisen aus Vineta, und es trägt die Runen unseres Königreiches und die der Weltenschlange. Doch du musst wissen, Arkyn: Ein Ragnik ist immer nur so stark wie die Träume dessen, der es geschmiedet hat.«
»Und wer hat dieses Ragnik geschmiedet?«
Als Saga nicht antwortet, fahre ich einige der Zeichen auf der Klinge mit dem Zeigefinger nach. Das Zeichen der Großen Schlange ist das einzige, das ich erkenne. Unter den restlichen fällt mir eines ins Auge, eine geschwungene, kräftige Form, die mich besonders anspricht. Es ist, als würde von diesem Zeichen eine besondere Kraft ausgehen, es wirkt wie ein uneingelöstes Versprechen an die Zukunft.
»Was bedeutet dieses Zeichen?«
»Schlaf, Prinz Arkyn«, entgegnet Saga. »Morgen ist ein großer Tag.«