KAPITEL 45

E s ist der Tag, der alles entscheiden wird. Die Vidari kontrollieren ihre Bögen, zählen ihre Pfeile, bemalen sich die Gesichter mit Schlamm aus dem Fluss. Wir sehen den Widerschein der Feuer, die auf den Wachtürmen der Stadtmauer Kuris brennen. Über allem liegt eine gespenstische Stille. Ich suche Mohio, die sich mit Kul über die besten Positionen für die Bogenschützen in den Bäumen rings um die Stadt berät. Ich nehme sie zur Seite.

»Mohio, wie war es, als du in den Schlund der Großen Schlange gesprungen bist, und sie dich verschmähte? Was hast du gesehen?«

»Es gab ein unglaublich helles, blitzendes Licht. Dann völlige Dunkelheit. Langes Warten in dieser absoluten Dunkelheit. Dann kamen die Hüter der Großen Schlange, sie sagten, dass die Gottheit uns nicht akzeptiert hat. Dass wir nun die Untersten seien, und das sei schlimmer, als tot zu sein. Dass wir nun arbeiten müssten, um Buße zu tun, dass wir niemals nach Kuri zurückkehren dürften. Man hat uns gefesselt, geknebelt und irgendwie nach draußen gebracht. Ich glaube in Kisten, die von Kawi gezogen wurden.«

Ich kenne das Bild der großen Holzkisten, die von den massigen Kawi aus dem Stadttor gezogen werden, nur zu gut. Abfall sei darin, sagte Skarf. Abfall, der entsorgt werden müsse. Ich habe ihm immer geglaubt.

»Danke, Mohio. Das wird nie wieder geschehen.«

Ich verlasse Mohio und rufe Hurakan in meinen Gedanken. Wie so oft taucht der Smilo unvermittelt aus dem Dickicht neben mir auf. Ich weihe ihn in den Plan ein, der sich in meinem Kopf geformt hat.

Das ist selbstmörderisch, aber auch unterhaltsam , meint die große Katze, als ich ihm alles erläutert habe. So schließt sich ein Kreis, nicht wahr, Menschenjunges? Wann geht es los?

»Ich muss mich von Saga verabschieden. Dann gehen wir.«

Unterwegs bitte ich Kul, einen möglichst geraden, schweren und hohen Baum fällen zu lassen und von allen Ästen zu befreien.

»Das werden die Vidari nicht gerne tun«, merkt er an, »aber ich kann ihnen versichern, dass es für einen guten Zweck ist, oder?«

»Für den besten, den man sich denken kann.«

Kul gibt seine Anweisungen und ich mache mich auf die Suche nach Saga. Ich finde sie am Rand des freien Feldes, das zwischen der Stadtmauer und dem Wald liegt. Hier wurde ein Streifen gerodet, damit wir, die Angreifer, keine Deckung haben. Ich kauere mich neben sie.

»Ist es hier nicht zu gefährlich? Ein Katapult könnte dich erreichen.«

»Sie werden keinen Speer von einem Katapult schleudern, um ein einziges Mädchen zu treffen, das im Gras sitzt.«

»Nur, weil sie nicht wissen, dass dieses Mädchen eine Königin ist.«

Ich reiche Saga das Ragnik. »Nimm es. Du weißt, dass es dir gehört. Es trägt deinen Namen.«

»Es hat meinen Urgroßvater getötet.«

Saga hält das Schwert prüfend in der Hand. Sie lässt es durch die Luft zischen, und plötzlich zersplittert etwas kurz vor ihrem Gesicht. Ein Pfeil, den das Schwert abgewehrt hat, bevor er sie erreichen konnte. Sofort ziehen wir uns zurück in den Schatten der Bäume. Auf einer Zinne der Stadtmauer können wir einen Adlerkrieger mit einem besonders langen Bogen erkennen, der einen neuen Pfeil auf die Sehne legt.

»Langbögen, wie die Schwarzsegel sie benutzen«, flüstert Saga. »Na gut, ich werte das als Zeichen, dass das Ragnik wirklich bei mir bleiben möchte.«

»Saga, hier müssen wir Abschied nehmen. Ich werde …«

»Nein«, schneidet sie mir das Wort ab. »Was auch immer du vorhast, ich bin dabei. Das habe ich dir schon einmal gesagt, und ich habe meine Meinung nicht geändert.«

Ich sehe, dass es keinen Sinn hat, ihr Widerworte zu geben. Sie ist die Urenkelin Gorms.

»Na schön. Ich werde mit den Vidari reden.«

»Wo ist Hurakan?«

»Er spricht sich mit den Unvorstellbaren und den anderen Wesen ab. Ich hoffe, sie stimmen meinem Plan zu.«

»Welchem Plan?«

»Es ist vielleicht besser, wenn du ihn nicht kennst.«

»Ich muss ihn ja nicht kennen, Hauptsache ist, dass ich dabei bin.«

»Ja, du bist dabei.«

Mohio hat die Vidari schon auf einer Lichtung versammelt. Sie alle sind bereit für den Kampf, sie halten die Bögen in den Händen, ihre Köcher sind gefüllt. Ich blicke in Augen, in denen Entschlossenheit, aber keine Furcht liegt.

»Vidari«, beginne ich, »dort drüben, hinter den Mauern, warten unsere Familien, unsere Geschwister, unsere Eltern, unsere Freunde. Sie sind nicht unsere Feinde. Selbst die Adlerkrieger nicht, die den Befehlen der Gormkin gehorchen. Selbst die Gormkin nicht, die den Befehlen Skarfs gehorchen. Vielleicht nicht einmal Skarf, der auch nur ein Mensch ist, und den menschliche Gier und menschliche Sucht nach Macht und Reichtum antreiben. Es gibt nur einen Feind jenseits dieser Mauern, und das ist die Große Schlange selbst. Sie ist unbesiegbar, sagt ihr? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Ihr wisst, dass ich eine Gabe habe. Ich kann in Gedanken mit Tieren reden, auch mit den Wesen aus der Alten Zeit, mit den Smilos, den Kelano, den Unvorstellbaren. Und ist die Große Schlange nicht auch ein Tier, ein Wesen vom Anbeginn der Zeit? Ich werde mit ihr reden. Und wenn sie nicht reden will, werden wir kämpfen. Vielleicht werden viele von uns sterben. Vielleicht werden wir alle sterben, wenn sich die Große Schlange gegen uns erhebt. Aber ich möchte nicht, dass ein Einziger Mensch hinter den Mauern Kuris heute von eurer Hand stirbt. Und ich möchte auch nicht, dass ein Einziger von euch heute stirbt. Keine und keiner von euch.« Ich lasse meinen Blick schweifen, bis ich das Mädchen mit den mutigen Augen finde. Ich sehe ihr in die Augen, während ich weiterspreche. »Solange ich euer Prinz bin, werden keine Schwestern gegen Schwestern, keine Brüder gegen Brüder kämpfen. Saga, Hurakan und ich, wir allein werden die Mauer überwinden, wir allein werden in den Tempel der Großen Schlange gelangen. Doch dazu brauchen wir eure Hilfe.«

»Aha«, murmelt Saga neben mir, »das ist der Plan.«

Hurakan!, rufe ich in Gedanken. Sind die Unvorstellbaren so weit?

Das sind sie , antwortet der Smilo.

Ich deute auf den glatten, pfeilgeraden, schweren Baumstamm, der am Rand der Lichtung bereitliegt. Kul hat seine Sache gut gemacht.

»Damit werden die Unvorstellbaren die Pforte des Schwarzen Mondes zertrümmern. Durch sie werden Saga, Hurakan und ich in die Stadt gelangen. Wie ihr wisst, ist sie das kleinste der Tore, die in die Stadt führen. Ich brauche euch, die Smilos, die Kelano, die Kukul, alle die wir zur Verfügung haben, um einen Angriff auf die Hauptpforte Kuris zu simulieren. Macht Lärm. Schießt eure Pfeile. Werft eure Speere. Aber zielt auf niemanden, haltet euch in der Deckung. Nehmt euch in Acht vor den Speeren der Katapulte, löscht die Feuer sofort, wenn sie etwas in Brand stecken sollten. Treibt diese Adlerkrieger in den Wahnsinn, aber treibt weder sie noch euch selbst ins Verderben. Schafft ihr das?«

Der Jubel, der sich in der Lichtung ausbreitet, beantwortet meine Frage. Aus den Schatten zwischen den Bäumen treten die Smilos, die Masakurr, die Wakos, die Siehnam-Hirsche. Aus den Wipfeln der Bäume erheben sich die Kelano und die schlanken Schlangenkörper der Kukul. Die Tujango schlagen ihre axtähnlichen Schnäbel mit einem furchtbaren Geklapper gegen die Baumstämme. Die Unvorstellbaren heben den Baumstamm mit ihren langen Armen hoch und lassen ihn vor und zurück schwingen. Saga hebt das Ragnik. Die Smilos brüllen, die Kelano kreischen über uns.

Die Schlacht um Kuri beginnt.