W ir landen auf hartem Stein. Etwas muss unseren Fall gebremst haben, eine Art Rampe, die uns von oben in das Innere des Tempels geführt hat. Nach dem Tumult und der gleißenden Helligkeit der Stadt umgibt uns jetzt eine kühle, lautlose, bösartige Dunkelheit. Weit über unseren Köpfen befindet sich die Öffnung, durch die wir gesprungen sind. Nur wenig Tageslicht, gefiltert durch den purpur glänzenden Rauch, sickert von dort herunter. Wir sehen uns um, unsere Augen, noch vom Sonnenlicht draußen geblendet, versuchen alles, was sich in dieser steinernen Halle befindet, zu erfassen. Wir sehen keine Gottheit, keine Große Schlange, deren Zorn das Ende Warakas, das Ende der Welt bedeutet. Der Einzige, der uns hier unten erwartet, ist Skarf. Der oberste Hüter weicht zurück, als er uns sieht, seine Hand tastet nach einer kleinen goldenen Axt, die in seinem Gürtel steckt, doch schon ist Saga auf den Beinen, sie richtet die Spitze des Ragnik auf sein Herz. Skarf hebt die Hände, ein Lächeln stiehlt sich in sein Gesicht.
»Arkyn, mein Arkyn, Stolz meines Lebens. Ich habe dich großgezogen, alles, was du weißt, weißt du von mir. Ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt, dass du hierher gelangen würdest. Jetzt ist der Moment gekommen, von nun an können wir gemeinsam die Zügel in die Hand nehmen. Denn hier gehörst du hin, in das Zentrum der Macht. Von hier aus werden wir nicht nur über Waraka, sondern über die ganze Welt herrschen können. Sieh dich nur um!«
Inzwischen haben sich meine Augen an das violette Licht gewöhnt. Ich erkenne einen großen Blasebalg, an dessen Ende sich hohe, baumstammdicke Rohre befinden.
»Die Stimme der Gottheit«, sagt Skarf, »sie steht zu deiner Verfügung.«
Ich verstehe nicht, was das sein soll.
»Nebelhörner«, sagt Saga, ohne Skarf eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Wir Wulfen benutzen sie auf den großen Schiffen, sie markieren die Position, auch wenn man die Hand nicht vor den Augen erkennen kann. Und das hier …«, sie deutet auf einen hüfthohen Kasten, der randvoll mit schwarzem Pulver angefüllt ist, »… das ist Gwhen , Signalpulver. Wenn ein Schiff auf See verloren geht, wird es entzündet. Den purpurnen Rauch sieht man meilenweit. Das ist deine Große Schlange, Prinz Arkyn. Sie besteht nur aus Rauch und Luft.«
»Fast«, widerspricht Skarf. »Die wichtigste Zutat hast du vergessen. Vor allem besteht die Gottheit aus Angst. Ohne die Angst wäre sie tatsächlich nur Schall und Rauch. Aber die Furcht macht sie groß. Die Furcht macht sie göttlich. Durch die Furcht herrscht sie. Das hast du doch gelernt, nicht wahr, Arkyn? Jetzt kennst du das Geheimnis. Ich hätte dich ohnehin eingeweiht, aber umso besser, wenn du es jetzt erfährst. Das alles war nur ein Irrtum, Arkyn. Deine Flucht, deine Rückkehr, ich wollte dich bloß schützen. Doch jetzt bist du wieder da. Gestärkt und um so viele Erfahrungen reicher. Jetzt bist du bereit, ein wahrer König zu werden. Willst du das? Wollen wir jetzt gleich gemeinsam vor die Ängstlichen treten? Wollen wir die Große Schlange noch einmal rufen lassen? Möchtest du ihren Ruf ertönen lassen, möchtest du ihr Feuer entfachen? Ich zeige dir, wie es geht. Es ist schön, die Macht zu spüren. Du wirst sehen. Hier, komm herüber zum Blasebalg, du brauchst etwas Kraft, aber die hast du ja …«
Skarf bewegt sich seitwärts, wie ein Krebs, und lässt dabei die Spitze des Schwertes nicht aus den Augen. Meine Stimme stoppt ihn.
»Nein, Skarf. Nein. Nein und niemals.«
Skarf fährt herum, seine hellen Augen suchen die von Saga, die seinen so ähnlich sind. »Du bist Saga, nicht wahr? Die Königin, die prophezeit worden ist. Die Gormkin von der anderen Seite des Meeres. Wir sind von einem Fleisch und Blut, Saga. Wir beide sind Kinder Gorms. Wir beide sind genau wie er. Wir kennen keine Furcht.« Skarf reckt sein Kinn in meine Richtung. »Schau ihn dir an, diesen Prinz Arkyn, er ist einer von den Ängstlichen. Das Einzige was ihn groß gemacht hat, bist du Saga. Ohne dich ist er ein Nichts. Ohne mich wäre er weniger als ein Nichts. In uns beiden, Saga, fließt das Blut von Gorm. Wir beide, nur wir, gehören zu den Bezwingern der Weltenschlange. Du bist die Einzige, die die Küste dieses verdammten Landes erreicht hat, stimmt es? Du hast deine Eltern verloren, habe ich recht? Aber du hast mich gefunden. Und ich habe dich gefunden. Ich habe Arkyn immer behandelt wie einen Sohn, den ich nie gehabt habe. Aber Arkyn ist nicht mein Kind. Du bist es, Saga. Du könntest meine Tochter sein. Ich könnte dein Vater sein. Wir sind eine Familie. Wir sind Kinder Gorms. Wir sind Gormkin, Saga. Wir beide können Gorms Träume wahr machen. Ich weiß, wo das Gold Warakas verborgen ist, ich weiß, wo es unendliche Vorräte davon gibt. Du liebst das Gold, so wie Gorm es geliebt hat. Ich sehe es in deinen Augen. Komm mit mir, Saga. Ich bin die einzige Familie, die du noch hast. Du wirst nie eine von den Ängstlichen sein, und du weißt es. Komm mit, meine Tochter, meine Königin.«
Skarf streckt die Hand nach Saga aus und für einen ganz kurzen Moment glaube ich, dass sie sie ergreifen wird. Die hellen Augen Skarfs und die noch etwas hel leren Augen Sagas haben sich ineinander verbissen wie Vipern.
Doch dann hebt Saga das Schwert, es funkelt purpur im Dämmerlicht. »Du hast Gorm ermordet, du hast kein Recht mehr, dich Gormkin zu nennen. Untersteh dich, mich als Teil deiner Familie zu bezeichnen. Das Ragnik, mit dem du Gorms Leben genommen hast, wird nun deines nehmen.«
Saga holt aus, doch ich stelle mich ihr in den Weg.
»Du bist anders, Saga. Du bist nicht wie er. Wenn du ihn jetzt erschlägst, dann wirst du ihm ähnlich. Sieh dir nur seine Furcht an.«
Die Furcht verbirgt sich gut in Skarfs Gesicht, aber sie ist da. Saga lässt das Schwert sinken.
Ich lege Skarf eine Hand auf die Schulter. »Du warst mein Lehrer und mein Mentor, Skarf. Ich habe durch deine Augen gesehen und mit deinen Ohren gehört. Für mich warst du die Welt. Aber die wahre Welt hast du vor mir verborgen. Es ist so, Skarf: Wir wollen weder dein Gold noch deine Macht. Wir wollen keine Rache und keine Vergeltung. Wir wollen ein Leben in Freiheit, ein Leben ohne Angst. Für alle. Sieh, Skarf: Wir wissen, was das große Geheimnis war, das Gorm dir auf dem Totenbett mitgegeben hat. Es gibt keine Große Schlange, es gibt nur die Angst vor ihr. Nur du bist Träger dieses Geheimnisses, nicht wahr? Selbst die anderen Gormkin glauben, dass es die Gottheit gibt.«
Skarf nickt. In seinen Augen liegt plötzlich ein neuer Ausdruck, der gleichzeitig ein sehr alter ist. Es ist ein Blick, den ich aus meiner Kindheit kenne. Hinter der Gier, der Grausamkeit, der Härte liegt etwas Tiefes und Sanftes. Es ist der junge Gorm selbst, der uns durch diese Augen anschaut, mit seiner Neugier, seinen Träumen und seiner unbändigen Energie. Skarf ist und bleibt ein Kind Gorms, auch wenn er den eigenen Vater getötet hat. Vor uns steht ein alter Mann, der seine Träume verloren hat, so wie einst der junge Skarf vor dem alten Gorm und seinen zertrümmerten Träumen stand. Ein weiteres Bild schiebt sich in mein Bewusstsein: Das Gesicht der Wächterin, der alten Frau in den Bergen. Die hellen Augen einer Gormkin in diesem von Runzeln durchzogenen Gesicht, diese Gestalt, die der von Skarf so ähnlich war.
»Hast du deine Schwester in die Berge geschickt?«, frage ich Skarf.
Der Hüter starrt mich an, unfähig ein Wort zu sagen. Dann senkt er den Blick.
»Die Wächterin ist gestorben, das Haus deines Vaters steht leer. Gorm hat verfügt, dass immer jemand dort sein soll, der über sein Haus wacht. Ich mache dir ein Angebot, Skarf: Gehe in die Berge, gehe jetzt. Sonst werden wir dich an die übergeben, die du die Untersten genannt hast. Die, die in den Minen für dich schuften mussten, in dem Wissen, dass sie ihre Familien nie wiedersehen durften. Die, denen du weisgemacht hast, die Gottheit hätte ihr Opfer verschmäht. Ich weiß nicht, was sie mit dir anstellen werden, aber ich kann mir vorstellen, dass ihre Bereitschaft zu Gnade aufgebraucht ist.«
Skarfs Hand zuckt zu der goldenen Axt, doch Saga ist schneller. Die Klinge des Ragnik liegt an seinem Hals, sie ritzt die faltige Haut leicht an und ein dunkler Blutstropfen rollt in den Kragen des Gewands des obersten Hüters. Skarfs Hand an der Axt zittert, er nimmt sie behutsam aus ihrem Schaft am Gürtel und lässt sie auf den Steinboden fallen, wo sie mit einem hellen Glockenkton aufschlägt.
»Du, Skarf«, fahre ich fort, »wirst der nächste und letzte Wächter des Hauses sein. Du wirst deine verbleibenden Tage in der Einsamkeit deiner Gedanken verbringen. Die Kelano werden jeden deiner Schritte verfolgen. Vielleicht wirst du noch eine Art von Frieden finden. Doch vergeben wird dir niemand mehr. Du wirst deine Seele nie wieder von deiner Schuld befreien können. Alles, was du noch retten kannst, ist dein Leben. Deshalb: Trete vor die Menschen Kuris, stelle dich den Vidari. Die Smilos werden dafür sorgen, dass sie dich nicht gleich in Stücke reißen. Sag den Menschen die Wahrheit. Führe sie in diesen Tempel. Hilf ihnen, ihn niederzureißen. Befreie sie von der Angst. Und dann verschwinde für immer. Hast du den Mut dazu, oberster Hüter der Großen Lüge? Oder wählst du den Weg der Angst?«
Ich nicke Saga zu, und sie versteht. Langsam ergreift sie eine von Skarfs Händen und führt sie zum Griff des Ragnik, dessen Klinge immer noch auf seinem Hals liegt. Dann führt sie seine andere Hand dazu und lässt selbst das Schwert los. Dort steht Skarf, mit dem Schwert in beiden Händen. Eine einzige Bewegung könnte sein Leben jetzt beenden. Er könnte sogar versuchen, uns anzugreifen. Doch seine Hände zittern, er ist ein alter, gebrochener Mann. In seinen Augen sammeln sich Tränen. Er legt das Schwert auf den Boden.
»Lass uns gehen, Arkyn, Prinz von Waraka. Lass uns den Menschen die Wahrheit sagen.«