KAPITEL 48

D er Tempel der Großen Schlange ist nur noch ein Geröllfeld. Die Menschen von Kuri haben ihn Stein für Stein mit bloßen Händen abgetragen, als sie endlich begriffen hatten, dass es die Gottheit nicht gibt. Ich habe Kul gebeten, mir die Röhren und das Pulver, die Stimme und den Atem der Großen Schlange zu überlassen, und beides hat er an den Ort transportieren lassen, den ich ihm bestimmt habe. Skarf ist vor einigen Tagen aufgebrochen in seine Bergeinsamkeit, begleitet von einigen Vidari, die darauf achten werden, dass er sein Ziel wirklich erreicht.

Seit ich nicht mehr der Prinz von Waraka bin, und meine Mutter nicht mehr Königin, ist eine große Last von meinen Schultern gefallen. Ich bin froh, dass mein Plan aufgegangen ist. Kein Mensch, kein Wesen aus der Alten Zeit musste bei der Schlacht um Kuri sein Leben lassen. Es gab Verletzungen, gebrochene Arme und Beine, Wunden und Narben, die bleiben werden. Aber nichts, das nicht in irgendeiner Form von Heilung enden würde. Und was sind ein paar gebrochene Knochen gegen die Freude, als sich Generationen von Totgeglaubten und ihre Liebsten wieder in die Arme schließen konnten?

Die Warak haben das Mädchen mit den mutigen Augen als Herrscherin gewählt. Eine gute, die allerbeste Wahl, wie ich finde. Sie hat mir zugesagt, Kul, wie ich es ihm versprochen habe, zum Befehlshaber ihrer Leibwache zu machen und einen Tempel zu Ehren der Kelano und der anderen Wesen aus der Alten Zeit zu bauen. Die Wesen selbst haben sich zurückgezogen in die Wälder, ohne ein Wort des Abschieds, wie ein Nebel, der sich auflöst. Doch die Menschen von Waraka werden sie nicht vergessen, sie werden sie in Zukunft schützen und ehren, statt sie zu jagen.

Am Tag nach der Krönung des Mädchens mit den mutigen Augen mache auch ich mich bereit für den Aufbruch.

»Willst du mir immer noch nicht verraten, wohin es geht?«, fragt mich Saga.

»Nein. So wirst du den Weg besser genießen können.«

Hurakan trägt uns beide, er trägt uns auf demselben Weg, den ich damals mit ihm genommen hatte, geschmeidig gleiten wir durch das dichte, wilde Grün, mal nah am Boden, mal in den unteren Bereichen der Bäume, von Ast zu Ast springend. Wir spüren die Freude Hurakans an der Bewegung, seinen Freiheitsdrang, seine Euphorie, endlich dort zu sein, wo er hingehört. Wir schlafen in den Astgabeln der großen Bäume, Saga und ich sehen in die Sterne und machen kleine Feuer, die Hurakan ärgern. Als wir das Yachai erreichen, lege ich einen halben Tag Rast ein, um Mohio und meine Mutter zu besuchen, die zwischen den Pflanzen der verborgenen Stadt eine neue Heimat gefunden hat. Als mir schon schwindelig ist von dem süßen Nektar, den die beiden mir immer wieder nachfüllen, setze ich meine Reise mit Saga fort, bis wir endlich an die Küste gelangen. Dort, an genau der Stelle, an der ich die leblose Saga am Strand gefunden hatte, erhebt sich der Turm, den ich Kul skizziert hatte: Ein stabiler Holzbau, aus dessen Spitze die Rohre der Stimme der Großen Schlange ragen.

»Was soll das, Arkyn?«, fragt Saga.

Das frage ich mich auch , bemerkt Hurakan.

Ich klettere den Turm hoch, betätige den Blasebalg, und der Ruf wie aus hundert Kehlen ertönt.

»Es war der Ruf der Angst«, brülle ich gegen den abklingenden Lärm vom Turm hinab, »jetzt soll es der Ruf der Hoffnung sein.«

Am Abend, als die Sonne fast untergegangen ist, entzünden wir etwas von dem Signalpulver auf einer Metallplatte. Der purpurne Rauch weht weit über das Land.

»Drei Schiffe«, sage ich zu Saga, als wir dort im Sand sitzen und über den Ozean blicken, »die Hoffnung, die Würde und die Zukunft. Die Überreste der Hoffnung und der Würde haben mir die träumenden Wälder gezeigt. Aber nicht die der Zukunft. Die Stimme und der Atem der Großen Schlange sollen sie herbeirufen, diese Zukunft.«

»Das wird niemals funktionieren.«

»Und wenn es doch funktioniert?«

»Ja«, entgegnet sie, »was dann?«

Ich verschränke die Hände hinter dem Kopf und blinzele in den Himmel, auf dem die Sterne Warakas wie Salzkristalle über den weiten Nachthimmel gestreut sind. »Dann wirst auch du deine Familie wieder in die Arme schließen können. Und dann wissen wir, wie wir von hier auf die Inseln der Wulfen kommen. Wir könnten Schiffe bauen. Zwanzig vielleicht, oder dreißig? Wer mag, kann mit uns kommen. Adlerkrieger, so viele, dass die Schwarzsegel schon von ihrem Anblick Reißaus nehmen. Meine Mutter würde bestimmt gerne reisen, sie liebt das Meer. Vielleicht kommt auch Mohio? Wir würden in deine Heimat segeln, und du würdest den Thron besteigen. Die Menschen würden in Freiheit und ohne Angst leben, in deinem Reich. Du würdest befehlen, alles Gold ins Meer zu werfen, oder in die tiefsten Stollen der Berge. Und ich würde meiner Königin dienen: Königin Saga.«

»Du bist wahnsinnig, Arkyn. Gorms Wahnsinn war nichts gegen deinen. Gute Nacht.« Saga legt den Kopf zum Schlafen, wie sie es sich zur Angewohnheit gemacht hat, in Hurakans Fell.

Sie hat recht , teilt Hurakan mir in Gedanken mit, du bist wahnsinnig.

Kannst du jetzt auch unsere Sprache verstehen? , erkundige ich mich bei meinem Seelentier.

Nein. Aber sie hat das nicht nur gesagt, sondern auch gedacht. Und jetzt denk bitte nicht mehr so laut, Menschenjunges. Sobald sie schläft, gehe ich auf die Jagd.

Ich warte, bis Saga schläft und Hurakan sich auf seinen Jagdzug gemacht hat. Dann klettere ich auf den Turm. Die ganze Nacht hindurch zünde ich eine Handvoll des Pulvers an, immer wieder lasse ich den hellen, purpurnen Schein des Atems der Großen Schlange aufblitzen.

Am Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen über das glitzernde Wasser huschen, sehe ich das Segel. Ich renne zum Schlegel des Blasebalgs, ich drücke ihn mit aller Kraft auf und ab, bis der tiefe Ruf der Großen Schlange ertönt, wie aus hundert Kehlen. Ich springe die Stufen hinunter, ich renne über den Strand.

»Saga! Saga, wach auf! Die Zukunft ist da.«