Mona
Oktober 201
8
Nach dem Essen mit Steffi beim Türken am Gotzinger Platz rief Mona Patricia Weber an und fragte, ob Oliver Sander Zeit für sie habe. »Ein Mandant hat gerade seinen Termin abgesagt. In einer halben Stunde ist er frei. Passt Ihnen das?«
»Geradezu perfekt.« Mona fuhr mit der U-Bahn zum Marienplatz und ging zur Theatinerstraße. Ein Bettler saß vor dem Donisl unter den Arkaden. Mona warf einen Euro auf seine Decke und bekam ein »Vergelt’s Gott« mit auf den Weg. Am Marienhof stand der nächste. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stützte er sich auf eine Krücke und streckte Mona eine Hand entgegen. Bestes Schmierentheater. Sicher gehörte er zur Mafia der osteuropäischen Bettler. Das waren zwar auch nur arme Kerle, aber am Ende durften sie von dem geschnorrten Geld nichts behalten. Das sackten die Bosse ein und kauften sich davon Autos und Immobilien. Nicht mit meinem Geld, dachte Mona und ging weiter. Wenn Bernd sich mal mit seiner Einschätzung ihrer Menschenkenntnis nicht irrte. Bernd und immer
wieder Bernd. Es verging kein Tag, ohne dass sie an ihn dachte. Bitterkeit stieg in ihr auf.
Patricia Weber begrüßte Mona und begleitete sie zu Sander. »Grüß Sie, Frau Lang. Schon eingelebt in der Wohnung?«
»Allmählich wird’s. Ich verlaufe mich nicht mehr so häufig.«
Sander tippte sich an die Stirn. »Zu dumm. Ich wollte Ihnen ja einen Plan geben. In Zeiten von Navis und Apps vergisst man das völlig.«
Mona musste lachen. Eine App, die sie durch Klaras Wohnung lotste. Das wäre es noch. Sander bot ihr Platz an. »Was führt Sie zu mir?«
»Ich hoffe, dass Sie einen Grundbuchauszug vom Schwanenhaus griffbereit haben.«
»Sogar die aktuelle Version ist schon da. Manchmal sind die Behörden schneller als ihr schlechter Ruf.« Sander stand auf und schob eine Schiebetür beiseite. Dahinter verbarg sich eine Regalwand, aus der er einen Ordner zog.
Er nahm ein Blatt heraus und reichte es ihr. »Da haben wir das gute Stück.«
Mit Grundbuchauszügen hatte sie beruflich bedingt zu tun gehabt und wusste, wie sie zu lesen waren. Sie suchte gleich nach der ersten Abteilung mit den Eigentumsverhältnissen. Seit Einführung der Grundbücher im Jahr 1879 waren es für die Flurnummer des Schwanenhauses sieben Eigentümer gewesen. Erster war Joseph Ulmer, Landwirt aus Garching, der das unbebaute Grundstück 1899 an Samuel Roth, Kaufmann in München, veräußert hatte. Der hatte 1901 darauf das Schwanenhaus errichtet. 1931 war Jakob Roth, Fabrikant in München, Eigentümer geworden.
Als Grundlage der Eintragung war eine Erbscheinnummer angegeben. Danach folgte im Juli 1938 Ernst-Friedrich Hacker, Staatsanwalt in München, mit einem Auflassungseintrag. Klaras Vater hatte das Haus gekauft. Danach war es im Jahr 1949 durch Erbe an seine Frau Cosima gegangen, die es bei ihrem Tod 1969 an Klara vererbt hatte. Als aktuelle Eigentümerin stand Mona im Grundbuch. Sie legte das Blatt beiseite. Mama hatte recht. Die Vorbesitzer waren Juden gewesen. Jedenfalls klangen die Namen jüdisch.
Steffis Worte fielen ihr wieder ein. Dass Ernst-Friedrich das Haus gekauft hatte, sagte nichts über die Umstände des Verkaufs aus. Es war sehr gut möglich, dass er einen fairen Preis bezahlt hatte. Aber war es auch wahrscheinlich? Angesichts einer Zeit, in der man den jüdischen Teil der Bevölkerung stigmatisiert hatte und die meisten Deutschen das zumindest gebilligt, wenn nicht sogar dabei mitgemacht hatten? Wie wahrscheinlich war es, dass auch Ernst-Friedrich Hacker einen moralischen Kompass
besessen hatte? Immerhin war er Staatsanwalt gewesen und musste als Beamter dem Staat gegenüber loyal sein. Das sprach eher dafür, dass er Nationalsozialist gewesen war.
»Sie sehen auf einmal ein wenig blass aus«, sagte Sander. »Vielleicht doch ein Schluck Wasser?«
Mona nickte, und er verschwand aus seinem Büro und kehrte gleich darauf mit einem Glas zurück. Während sie trank, warf er einen Blick in den Grundbuchauszug, und sie sah förmlich, wie der Groschen bei ihm fiel. »Sie fragen sich, wie das Haus mit einem jüdischen Vorbesitzer während der NS
-Zeit in Besitz der Familie Hacker gelangt ist?«
»Wissen Sie etwas darüber?
«
»Nicht viel. Nur, dass Ernst-Friedrich Hacker und Jakob Roth Freunde waren. Frau Hacker hat mir mal erzählt, dass ihr Vater der Familie Roth 1938 geholfen hat, Deutschland zu verlassen. Oder erzählt jemand etwas anderes? Ich meine, wie kommen Sie darauf?« Er wies auf den Auszug.
»Jemand hat eine gehässige Bemerkung gemacht, und ich wollte wissen, ob etwas Wahres dran ist. Aber jetzt bin ich beruhigt. Wenn die beiden Freunde waren, wird Klaras Vater Roths Notlage nicht ausgenutzt haben. Alles ist gut. Das war genau die Beruhigungspille, die ich jetzt gebraucht habe.«
»Freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte.«
Erleichtert stand Mona auf und dankte Sander. Eine Last war von ihr abgefallen. Wie schwer sie gewesen war, bemerkte sie erst, als sie durch die Theatinerstraße Richtung U-Bahn ging. Sie fühlte sich plötzlich leicht und beschwingt.
Kurz vorm U-Bahnhof fiel Mona der theatralische Bettler wieder auf. Diesmal ohne Krücke. Schnurstracks steuerte er die Rolltreppe an und unterhielt sich dabei mit einem Mann, der neben ihm ging und ähnlich abgerissen zurechtgemacht war wie er selbst. Es war eben selten alles so, wie es auf den ersten Blick erschien.
Jetzt würde sie als Nächstes die Küche in Angriff nehmen. Ihre Mutter irrte sich nämlich. Klaras Wohnung war nicht zu groß für sie. Sie war genau richtig. Warum sollten ihr hundertfünfzig Quadratmeter nicht zustehen? Wo ihre Eltern auf über zweihundert residierten? Ihr Bruder Julian mit Frau und Kindern in einer Villa bei Bremen lebte und sogar Heike, die alleinerziehende Heldin, sich eine
Dachterrassenwohnung in München leisten konnte? Dank Papas Unterstützung. Mona ließ den Zugang zum U-Bahnhof Odeonsplatz links liegen. Ihr war nämlich eingefallen, dass es ein Stück weiter vorne an der Ludwigstraße ein Küchenstudio gab. Das suchte sie auf und vereinbarte einen Termin. Ein Berater und eine Innenarchitektin würden sich am Montag Klaras Küche ansehen und ausmessen, und danach konnte man mit der Planung beginnen. Wunderbar.
Von der Ludwigstraße ging sie zu Fuß nach Hause. Eine SMS
ging ein. Sie kam von Tim Jablonski. Wie geht’s dem Fleck?
Hat er den Angriff der Schere überlebt? ;-)
Ihr Herz schlug plötzlich ein wenige schneller. Die Schere hat kampflos aufgegeben
, simste sie zurück.
Kein Schneid, die Gute!
Jetzt musste Mona lachen, und das tat gut.
Und wie geht’s Ihnen?,
fragte er.
Danke, bestens.
Sie freute sich auf das bevorstehende Treffen am Sonntag, obwohl sie sich fragte, was er von ihr wollte. Das war wieder einmal typisch für sie. Selten konnte sie sofort akzeptieren, dass jemand tatsächlich sie meinte, und befürchtete erst einmal, dass der andere seine wahren Absichten verschleierte. Das war ihr wunder Punkt.
***
Als Mona nach Hause kam, spähte Adele in den Flur. »Ach, Sie sind’s.«
»Hallo, Adele. Erwarten Sie jemanden?«
»Eigentlich nicht.
«
Kaffeeduft zog ins Treppenhaus. Es war Donnerstag. Der Tag für Klaras und Adeles Jour fixe. Mona verstand, was sie sich erhoffte. Die Freundin fehlte ihr. Sie musste einsam sein. »Bei Ihnen riecht es gut.«
»Ich hab grad Kaffee gemacht. Wollen wir zusammen eine Tasse trinken? Natürlich nur, wenn Sie Zeit haben.«
»Davon habe ich mehr als genug. Also gerne.«
Sie folgte Adele in die Wohnung. Sie war mit hellen Holzmöbeln eingerichtet und bekam den Spagat zwischen Landhaus und Ikea hin. Der Grundstock dafür war sicher vor Jahrzehnten gelegt worden, als Adele mit ihrem Mann ins Schwanenhaus gezogen war. Die Bezüge der Polstersessel waren an einigen Stellen dünn geworden und der Teppich abgetreten. Monas Eindruck, dass ihre Nachbarin jeden Cent zweimal umdrehen musste, verstärkte sich.
Auf dem Couchtisch standen bereits die Kaffeekanne und eine Tasse. Aus der Vitrine nahm Adele eine zweite. »Ich hole uns noch Gebäck.« Sie verschwand in der Küche und kehrte mit einem Schälchen Kekse zurück.
Während sie Kaffee tranken und Kekse knabberten, erzählte Mona von ihren Plänen, die Küche neu einrichten zu lassen, und entschuldigte sich vorab für den Lärm, der beim Einbau entstehen würde.
»Ach, das ist halb so wild. So gut höre ich ohnehin nicht mehr, und im Vergleich zum Lifteinbau wird es schon nicht so schlimm werden. Gibt es da eigentlich Neuigkeiten?«
Die gab es. »Ich komme grad von Herrn Sander. Er sagt, dass sich demnächst Architekten und Techniker von drei Firmen hier umsehen wollen, damit sie ihre Angebote abgeben können. Es geht also voran.«
»Das ist gut.
«
»Kennen Sie sich mit der Geschichte des Hauses ein wenig aus?«, fragte Mona. »Ich meine, hat Klara mit Ihnen darüber gesprochen, dass es jüdische Vorbesitzer hatte?«
»Ach, Sie meinen die Familie Roth. Esther, Jakob und ihre Tochter Mirjam.«
»Wissen Sie, was aus ihnen wurde?«
Adele fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Klara hat es mir mal erzählt. Mal gucken, ob ich das noch zusammenbekomme. Jedenfalls haben sie Deutschland ziemlich früh verlassen, bevor es hier richtig schlimm wurde. Ja, jetzt weiß ich es wieder. Sie sind nach Amerika ausgewandert, und Klaras Vater hat ihnen dabei geholfen. Ich glaube, er hat ihnen die Visa besorgt. An die zu gelangen, war damals nicht einfach.«
»Und nach dem Krieg sind die Roths nicht zurückgekommen?«
Adele zuckte mit den Schultern. »Klara sagte, sie hätten nie wieder etwas von ihnen gehört. Wenn Sie mich fragen, ich finde das undankbar. Da riskiert Klaras Vater seine Karriere … Er war nämlich bei Gericht. Richter oder Staatsanwalt, so genau weiß ich das jetzt nicht mehr. Jedenfalls hat er eine Menge für die Familie Roth getan, und dann brechen sie den Kontakt ab. Na ja, es waren schreckliche Zeiten, und wir Deutschen haben uns kein Ruhmesblatt verdient.«
»Weiß Gott nicht.«
»Vielleicht wollten die Roths einfach nicht mehr daran erinnert werden. Klara behagte das Thema jedenfalls nicht. Sie sprach nicht gerne darüber. In der Nachkriegszeit gab es offenbar Gerüchte, dass ihr Vater den Roths das Haus abgepresst
hätte.« Adele malte Gänsefüßchen in die
Luft. »Darüber hat Klara sich natürlich geärgert, ihr Vater war ein rechtschaffener Mann.«
Nach dem Kaffee verabschiedete Mona sich von Adele und kehrte in ihre Wohnung zurück. Nun hatte sie also von zwei Personen erfahren, dass mit dem Verkauf des Hauses alles in Ordnung war. Doch die Quelle der beiden war dieselbe: Klara.
War an den Gerüchten aus der Nachkriegszeit, die Adele erwähnt hatte, vielleicht doch etwas dran? Sicher hätten Klara und ihre Mutter Cosima es nicht an die große Glocke gehängt, falls Ernst-Friedrich die Notlage der Roths ausgenutzt hatte. Besser wäre es gewesen, eine Legende zu erfinden. Die Geschichte von zwei Freunden, die einander halfen. Mona seufzte. Genau genommen war sie jetzt nicht schlauer als zuvor. Das Thema ließ ihr keine Ruhe, und Sie stellte fest, dass sie herzlich wenig darüber wusste, wie jüdische Vermögen damals konfisziert wurden. Schließlich setzte sie sich mit dem Laptop ins Ungetüm und ging ins Internet. Sie stieß auf das Stichwort Arisierung
. Damit suchte sie weiter. Nach zwei Stunden klappte sie den Computer wieder zu und massierte die verspannte Nackenmuskulatur. Raub
, war das einzige Wort, das ihr dazu einfiel. Man hatte die jüdische Bevölkerung systematisch ausgeraubt. Man hatte ihnen ihre Firmen, Immobilien, Sparbücher und Bankguthaben genommen, ihre Möbel, den Schmuck, die Bücher und Kunstsammlungen geplündert und sogar ihre Kleidung. Als es nichts mehr gab, was man ihnen noch nehmen konnte, wurden sie deportiert und ermordet und auch ihre Leichen noch ausgeraubt. Sogar Goldzähne und Haare ließen sich zu Geld machen
.
Mona fühlte sich elend und hätte heulen können. Was für ein erbarmungsloser Hass hatte sich damals Bahn gebrochen! Gepaart mit Neid und unersättlicher Gier.
Es war ein gigantischer Umverteilungsprozess gewesen, und sie schauderte bei der Vorstellung, wo ein Teil dieser einst jüdischen Besitztümer sich heute vielleicht noch befand. Möglicherweise wurden sie als angebliche Erbstücke von Generation zu Generation weitergegeben. Das schöne Meißner Porzellan. Der Flügel. Die Erstausgabe. Die wertvolle Lithografie. Wie viele Ahnungslose hegten den Besitz der Ermordeten? Mona fröstelte. Vielleicht gehörte sie dazu. Ihr Blick fiel auf Klaras Sekretär. Wer hatte ihn vor ihr besessen? Ihre Mutter? Und davor vielleicht die Roths? Hatten sie ihn unter Druck verkauft, als sie das Land verlassen mussten, und so gut wie nichts dafür bekommen? Woher stammten die Erstausgaben der Gedichtbände im Herrenzimmer? Der Corinth? War er am Ende Raubkunst? Mona schüttelte den Kopf und stand auf. Jetzt ging ihre überspannte Fantasie wirklich mit ihr durch. Der Corinth hatte einen einwandfreien Herkunftsnachweis. Cosima hatte ihn mit in die Ehe gebracht, lange bevor die Nazis an die Macht gekommen waren.
Mona setzte sich wieder ins Ungetüm und legte die Füße aufs Sims. Der Begriff Beamtengehalt
spukte in ihrem Kopf herum. Während der zehn Jahre in Bernds Architekturbüro hatte sie auch mit Baufinanzierungen zu tun gehabt. Sie wusste, wie sehr die Banken auf Sicherheiten achteten. Mit einem Beamtengehalt könnte sich heute niemand ein solches Haus leisten. Das Schwanenhaus musste auch damals einen beträchtlichen Wert gehabt haben. Hatte Ernst-Friedrich Vermögen besessen? Doch er stammte
aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, und Cosimas Vater hatte Bankrott gemacht. Jedenfalls, wenn stimmte, was ihre Mutter gesagt hatte. Wie war Ernst-Friedrich an eine Hypothek gelangt, um einen angemessenen Preis für dieses Haus zu bezahlen?
Irgendwo musste der Kaufvertrag sein. Derartige Dokumente bewahrte man über Generationen auf. Doch wo sollte sie in dieser als Ordnung getarnten Unordnung mit der Suche beginnen? In Klaras Arbeitszimmer hatte sie bisher nur Unterlagen aus der Nachkriegszeit entdeckt. Mona folgte ihrem Bauchgefühl und ging in Klaras Schlafzimmer. Früher oder später musste sie es ohnehin ausräumen.
Die Luft war abgestanden. Sie kippte das Fenster und sah sich um. Ein Doppelbett aus den Fünfzigerjahren und Mona fragte sich unwillkürlich, ob Klara hier jemals mit einem Mann gelegen hatte. Daneben die Nachttische und gegenüber der Schrank mit Spiegeltür und die Frisierkommode. Alles aus demselben hellen und glänzend lackierten Holz gefertigt. Als Klara diese Möbel gekauft hatte, musste sie Anfang bis Mitte dreißig gewesen sein. Unverheiratet. Eine alte Jungfer, die mit ihrer Mutter zusammenlebte. Wie sie sich wohlgefühlt hatte? Vielleicht verbittert, aber die Hoffnung auf einen Mann hatte sie nicht aufgegeben. Weshalb sonst ein Doppelbett?
Nichts lag herum, bis auf das Kristallschälchen mit dem Ring und der Armbanduhr auf dem Nachttisch. Daneben ein Buch und Klaras Brille. Doch Mona ahnte, dass dieser Schein trog. Sie zog die Schubladen der Kommode auf und blickte auf ein ähnliches Durcheinander wie in Klaras Arbeitszimmer und im Sekretär im Wohnzimmer. Bis auf die mittlere Schublade, die den Schmuck enthielt. Er
lag ordentlich verstaut in einer Schatulle. Etliche Ringe mit farbigen Steinen. Mona hätte nicht sagen können, ob es Edelsteine waren. Sie kannte sich damit nicht aus. Einige Armbänder und Ketten aus Gold. Eine Perlenkette mit einem hübschen Verschluss. Passende Ohrclips dazu. Drei Armbanduhren, eine Rolex, eine Baume & Mercier und eine Cartier. Die Uhren waren einiges wert. Der Streit mit ihrer Mutter fiel Mona wieder ein und die Klarsichthülle mit dem Schenkungsvertrag, die noch immer im Wohnzimmer lag.
Verärgert schloss sie die Schublade und sah in die nächste. Parfumpröbchen lagen neben Medikamentenpackungen, die lange abgelaufen waren. Verschiedene Seidenschals zwischen Stofftaschentüchern und Lederhandschuhen. Eine Sonnenbrille, die aus den Sechzigern stammen musste. Ein Gürtel, etwa aus derselben Zeit, breit und mit großer Plastikschließe. Dazwischen immer wieder kleine Schachteln mit allerlei Krimskrams. Eintrittskarten von Kino- und Theatervorstellungen. Fotos von Ausflügen. Schloss Neuschwanstein. Der Tegernsee. Das Mozarthaus in Salzburg. Auf manchen war Klara mit Kolleginnen aus dem Wirtschaftsministerium zu sehen, wie Mona vermutete, auf einigen mit ihrer Mutter Cosima. Eine Schachtel enthielt Briefe und Postkarten. Grüße aus Rom und Paris, vom Lago Maggiore und von der Tulpenblüte in Holland. Ein leeres Briefkuvert, adressiert an Ernst-Friedrich Hacker und abgestempelt in Hamburg am 12. Juni 1968. Wieso hatte Klara das Kuvert aufbewahrt, nicht aber den Brief? Wobei er sich ja durchaus noch in diesem Chaos befinden konnte. Mona sah auf den Absender. Erika Gombrowski. Lokstedter Steindamm, Hamburg
.
Sie legte den Umschlag zurück und nahm den nächsten Brief heraus. Er war an Klara gerichtet. Eine britische Briefmarke klebte darauf. Der Poststempel war verwischt, aber Mona konnte die Jahreszahl 1942 entziffern. Die Absenderin war Mirjam Roth.
Wigginton, 11. September 1942
Meine liebe Klara,
verzeih mir, wenn ich gleich mit der Tür ins Haus falle. Ich kann nicht anders. Es ist so entsetzlich hier, und seit gestern überlege ich davonzulaufen. Nach London am besten. Dort könnte ich gut untertauchen, sodass mein Gastvater Paul mich nicht findet. Dieser widerliche Kerl. Ich kann ihn mir kaum noch vom Leib halten. Heute wäre es beinahe zum Äußersten gekommen. Gäbe es Duffy nicht, der mir nicht von der Seite weicht und ihn in die Hand gebissen hat – der kleine Held, du hättest ihn sehen sollen! –, er hätte sich längst geholt, wonach es ihn gelüstet. Mich. Mit Haut und Haaren. Seit Betty im Krankenhaus ist und sein Ehebett leer, stellt er mir schlimmer nach denn je. Ich will hier nur noch weg!
Wobei ich Angst habe, allein nach London zu gehen. Dem guten Willen und der Hilfsbereitschaft anderer ausgeliefert. Denn die Londoner leiden selbst Not. Hitlers Bomben während des Blitzkriegs sollen über tausend Tote gefordert haben, und viele Häuser sind zerstört. Es muss dort schlimm aussehen, und doch wäre es dort besser als hier, und es ist nicht
weit. Ich könnte innerhalb eines Tages dort sein. Vielleicht kann ich irgendwo Arbeit finden. Mein nächster Brief erreicht dich dann möglicherweise schon aus London, meine Liebe.
Wie geht es dir und deinen Eltern? Ich hoffe, gut. Und ich hoffe auch, dass mein Vater am Ende recht behält und dieser Spuk – was für eine Untertreibung angesichts der Verheerungen, die Hitlerdeutschland anrichtet – also, dass dieser Spuk, wie Papa es immer genannt hat, bald vorbei ist. Wenn er das doch noch erleben könnte! Ich bin so unendlich traurig. Aber ich halte den Kopf hoch und meine Zuversicht zusammen. Mach du das auch, ja? Meine liebe Freundin.
Ich umarme dich, Mirjam
Mona ließ die Hand mit dem Brief sinken. Die Familien Hacker und Roth waren tatsächlich befreundet gewesen, zumindest die Töchter. Dennoch warf das Schreiben Fragen auf. So wie es aussah, war Mirjam allein in England gewesen. Bei einer Gastfamilie. Und das vier Jahre nachdem die Roths in die USA
emigriert waren. Obendrein schrieb sie von ihrem Vater in der Vergangenheit.
Ihr Handy summte. Mona zog es aus der Hosentasche und ging damit ans Fenster. In der Einfahrt zum Nachbarhaus übte eine Frau mit einem Kind Radfahren. Steffi rief an. Sie wollte wissen, was das Grundbuch offenbart hatte, und Mona sagte ihr, wie es war, dass es jüdische Vorbesitzer gab.
»Oje! Und jetzt fühlst du dich irgendwie schuldig?
«
»Nein. Natürlich nicht. Es ist nur ein merkwürdiges Gefühl.«
»Obwohl du nun wirklich nichts damit zu tun hättest, falls man den Leuten das Haus tatsächlich weggenommen hätte. Du machst dich im Konjunktiv fertig.«
Mona lachte. »Ich mache mich nicht fertig. Es beschäftigt mich nur.« Die Recherche zur Arisierung lag ihr obendrein im Magen. »Was hältst du von einem Mädelsabend? Ich koche, und wir machen es uns in Klaras Küche gemütlich?«
»Gute Idee. Allerdings erinnert die mich an den einzigen LSD
-Trip, den ich je in meinem Leben eingeworfen habe. Da war auch alles so psychedelisch orange-grün.«
»Nicht mehr lange. Ich lass eine neue einbauen. Mit allen Schikanen.«
»Na, dann … Soll ich was mitbringen?«
»Musst du nicht. Ich habe Zeit und besorge etwas.«
Mona ging auf den Markt und kaufte Oliven, Käse und Feigen für vorneweg und ein Tiramisu als Dessert. Wie ein paar Tage zuvor war es ein Vergnügen, hier zu sein. Sie ließ sich treiben und überlegte, was sie als Hauptgang kochen könnte, als sie am Gemüsestand Rote Bete entdeckte. Damit war es entschieden. Sie würde Spaghetti mit einer Soße aus Roter Bete, Zitrone und Sahne machen. Kein großer Aufwand und trotzdem raffiniert. Natürlich musste sie an Tim Jablonski denken, und nur einen Augenblick später kam eine WhatsApp von ihm. War das nicht verrückt? Er schickte ein Foto der Kunsthalle mit dem Ausstellungsplakat. Ich gehe gerade daran vorbei und denke an Sonntag. Freue mich sehr auf unser Treffen. Es bleibt doch dabei
?
Ein wohliges Gefühl legte sich in Monas Magengrube. Aber sicher
, schrieb sie zurück. Mit der Lust der Täuschung sollte man sich unbedingt beschäftigen.
In diesem Punkt hatte sie tatsächlich Nachholbedarf. Ich koche heute übrigens Rote Bete.
Hm, klingt lecker
, schrieb er zurück, und Mona konnte beinahe die Funken in seinen Augen aufblitzen sehen. Erhoffte er sich etwa eine Einladung zum Essen? Daraus wurde nichts. Ist es auch
, antwortete sie. Dann bis Sonntag.
Als Steffi kam, war es bereits dunkel geworden. Mona hatte im Wohnzimmer gedeckt und dafür den kleinen Tisch vom Balkon hereingeholt. Als Sitzgelegenheiten dienten ihnen das Ungetüm und der Polsterstuhl aus Klaras Arbeitszimmer. Auf dem Sims standen Wasser und Wein bereit. Sie machten es sich mit den Vorspeisen gemütlich. Bald drehte sich das Gespräch um die Vorbesitzer des Schwanenhauses und Steffi fragte, was Mona im Magen lag.
»Sowohl Sander als auch Adele sagen, die Familie Roth wäre 1938 in die USA
ausgewandert. Das kann nicht stimmen. Ich habe einen Brief ihrer Tochter Mirjam an Klara gefunden. Sie hat ihr 1942 aus England geschrieben. Offenbar war sie allein dort. Vermutlich schon seit vier Jahren, wenn es stimmt, dass sie 1938 weg sind. Das Haus haben sie jedenfalls 1938 verkauft.«
»Wie alt war Mirjam da?«, fragte Steffi.
»Ich nehme an, in Klaras Alter. Die beiden waren Freundinnen. Dann muss sie vierzehn oder fünfzehn gewesen sein, als sie Deutschland verlassen hat. Außerdem hat Klara Adele erzählt, sie hätten nach achtunddreißig nie wieder etwas von den Roths gehört. Auch das stimmt nicht. Zumindest Mirjam und Klara hatten Kontakt.
«
Nachdenklich schob Steffi eine Olive in den Mund. »Und was befürchtest du nun?«
»Nichts. Wieso?«
»Weil du wieder mal diese steile Falte an der Stirn hast. Etwas beunruhigt dich.«
»Das ganze Thema ist beunruhigend. Ich frage mich, weshalb Klara in der Nachkriegszeit erzählt hat, die Roths wären in Amerika, wo sie doch wusste, dass Mirjam in England war. Und wo waren ihre Eltern? Das frage ich mich. Von ihrem Vater schreibt sie jedenfalls: Wenn er das noch erleben könnte.
Er war also zu diesem Zeitpunkt nicht mehr am Leben.«
»Vielleicht ist Mirjam erst nach dem Krieg in die USA
, zusammen mit ihrer Mutter. Zurück nach Deutschland wollten sie sicher nicht.«
»Mirjam war aber allein in England, bei einer Gastfamilie. Wo war ihre Mutter? Woran ist ihr Vater gestorben?«
»Glaubst du etwa, sie waren im KZ
?«, fragte Steffi.
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich stelle nur ein paar Fragen. Weshalb behauptet Klara, dass die Roths achtunddreißig in die USA
sind, wo sie es doch besser wusste? Weshalb sagt sie, die Roths hätten gleich danach den Kontakt abgebrochen, wo sie und Mirjam sich doch schrieben?«
Steffi pustete sich eine Locke aus dem Gesicht. »Was willst du nun tun?«
Eine Weile überlegte Mona. »Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Ich gebe den Vogel Strauß und steck den Kopf in den Sand, oder ich forsche nach, was aus den Roths wurde und wie Ernst-Friedrich an das Haus gekommen ist.
«
»Willst du wissen, wozu ich dir raten würde?«
»Ich denke, ich weiß es. Ich soll die Sache auf sich beruhen lassen, nach vorne blicken und mein Erbe genießen. Es ist alles längst verjährt, vergessen und vorbei. Geschichte. Es hat nichts mit mir zu tun. Aber das stimmt nicht.«
Steffi zog die Schultern hoch. »Könnten meine Worte sein. Aber ich weiß, dass du nicht anders kannst. Du wirst der Sache auf den Grund gehen. So bist du nun mal.«
»Stimmt.«
»Und wie willst du deine Nachforschungen beginnen?«
»Ich könnte mit der Wohnung anfangen. Mirjam wird nicht nur einen Brief geschrieben haben, und Klara hat offenbar nichts weggeworfen.« Mona beschrieb Steffi das Chaos in den Schränken und Schubladen. »Darin etwas zu finden ist nicht leicht. Außerdem hoffe ich, dass der Kaufvertrag fürs Haus irgendwo ist.«
»Im Stadtarchiv könntest du sicher etwas über die Roths in Erfahrung bringen«, schlug Steffi vor. »Dort lagern die alten Einwohnermeldekarten und das Handelsregister. Und dann gibt es auch noch das NS
-Dokumentationszentrum.«
Während sie aßen, überlegten sie, welche Quellen Mona für ihre Suche noch zur Verfügung standen, und googelten schließlich danach. Je mehr Mona auflistete, umso klarer wurde ihr, dass sie nicht genau wusste, wonach sie suchte. Auch Steffi erkannte das und hatte einen Vorschlag. »Wie wäre es, wenn du einen Fachmann mit diesem Teil der Recherche beauftragst? Du übernimmst Klaras Chaos, er die Archive. Leisten kannst du dir das.«
Ein Profi wusste, wo er suchen musste, er würde die richtigen Fragen stellen und vielleicht Zusammenhänge
erkennen, die sie nicht herstellen könnte. »Gute Idee. Ich brauche einen Historiker, dessen Schwerpunkt die Judenverfolgung im Dritten Reich ist. Ich google mal.«
»Musst du nicht«, entgegnete Steffi. »Ich weiß, wer das übernehmen könnte. Erinnerst du dich an Gesine?«
Ein Gesicht tauchte aus Monas Erinnerungen auf. Blass und sommersprossig, von rotblonden Locken umrahmt. Graugrüne Augen und ein nettes Lächeln. »Du meinst Gesine Reinhardt aus der Parallelklasse? So eine Dünne, Zappelige?«
»Ja, genau. Ich treffe mich ab und zu mit ihr. Sie hat Geschichte studiert und über die Restitution jüdischer Vermögen in der frühen BRD
promoviert. Also wird sie sich auch mit der Arisierung auskennen.« Steffi suchte Gesines Kontaktdaten im Handy und mailte sie an Mona.
Sie rief gleich an, erreichte aber nur den Anrufbeantworter und hinterließ eine Nachricht.
***
Am Sonntag stand Mona früh auf und genoss ein ausgiebiges Frühstück an ihrem Fensterplatz. Sie holte die Zeitung herein, die Klara abonniert hatte und die ihr der Fahrlehrer aus der dritten Etage jeden Tag mit nach oben brachte und auf die Fußmatte vor der Tür legte. So, wie er es für Klara getan hatte. Zeitung hatte sie in den letzten Jahren nur online gelesen, oberflächlich und schnell. Jetzt genoss Mona das Knistern des Papiers, den Geruch der Druckerschwärze und las das Feuilleton mit den aktuellen Buchvorstellungen. Dazu eine Tasse Kaffee und eine Scheibe Bauernbrot vom Markt, dick mit Butter und Honig bestrichen
.
Der Tag hing wie ein grauer Lappen vor dem Fenster. Ein kalter Wind schüttelte die letzten Blätter aus dem Baum im Hinterhof. Der Jahrhundertsommer hatte bis in den November hinein gedauert, doch nun war er endgültig vorüber. Was jetzt noch fehlte, war ein prasselndes Feuer in einem Kaminofen. Sie könnte sich einen kaufen. Warum auch nicht? Er würde ihr über den grauen Winter helfen und damit beim Auskurieren ihrer gescheiterten Beziehung.
Nach dem Frühstück überlegte sie, was sie für ihr Treffen mit Tim Jablonski anziehen sollte. Am Ende entschied sie sich für Jeans, Pulli und die neue Steppweste. Dazu Turnschuhe.
Der Wind pfiff um die Ecken, als sie zur U-Bahn marschierte. Kaum jemand war unterwegs. Erst in der Bahn wurde es voller und vor dem Eingang zur Kunsthalle. Dort hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet. Mona war pünktlich, denn sie kam nicht gerne zu spät, auch wenn Steffi ihr geraten hatte, genau das zu tun und Jablonski ein wenig warten zu lassen. Sie mochte diese Art von Spielchen nicht. Er offenbar auch nicht, denn sie entdeckte ihn sofort. Er stand ein wenig abseits und sah so gut aus wie einige Tage zuvor, als sie sich kennengelernt hatten. Die dunklen Haare etwas zu lang, was ihm in Kombination mit dem Zweitagebart einen lässigen Chic verlieh. Eleganter grauer Mantel, dazu ein bunter Schal, der diesem Kleidungsstück die Strenge nahm. Als sich ihre Blicke trafen, zog ein Lächeln über sein Gesicht.
»Wie schön, dass Sie gekommen sind.«
»Sie hatten doch nicht etwa Zweifel?«
»Nicht wirklich. Sie machen so einen ernsthaften und zuverlässigen Eindruck.
«
Mona wusste nicht, wie sie diese Bemerkung einordnen sollte. Ernsthaft und zuverlässig waren zwar Attribute, die durchaus auf sie zutrafen, aber konnte man sie als Kompliment verstehen, wo sie doch für langweilig und bieder standen? »Das trifft offenbar auch auf Sie zu. Warten Sie schon lange?«
»Seit wir uns auf dem Elisabethmarkt getrennt haben«, sagte er und sah ihr dabei in die Augen. Aber hallo! Eine warme Welle erfasste Mona, sie fühlte sich plötzlich ganz schwerelos.
Sie betraten die Ausstellung. Die Lust der Täuschung.
Es ging dabei um den Spaß an visuellen Spielereien. Dem Auge wurde etwas vorgegaukelt, das nicht sein konnte und auch nicht war. Die Exponate gingen quer durch die Jahrtausende. Vom römischen Fresko, das einerseits eine Landschaft darstellte, aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet aber einen Heiligen beim Gebet zeigte. Gefolgt von Exponaten aus der Renaissance. Bretter, an denen kleine zusammengefaltete Briefe hingen, die von Bändern gehalten wurden. Täuschend echt. Denn es gab weder Holz noch Briefe und Bänder, sondern nur Ölfarbe auf Leinwand. Eine Kommode, deren Türen offen standen. Scheinbar. Denn sie waren geschlossen und der Effekt aufgemalt. Bis hin zu Rauminstallationen. Ein Gang, der endlos lang zu sein schien, doch nach wenigen Metern endete. Ein Hochhaus, auf dessen oberster Plattform man – dank einer Virtual-Reality-Brille – auf einem Balken über den Abgrund balancieren konnte. Einer Überraschung folgte die nächste. Es war ein Vergnügen, und Mona amüsierte sich wie lange nicht mehr.
Nach zwei Stunden hatten sie alles gesehen und setzten
sich ins Museumscafé. Tim Jablonski fragte, was sie trinken wolle. »Nur ein Wasser.« Er verschwand an die Theke, und sie blätterte durch den Ausstellungskatalog. Ihr Blick fiel auf ein Zitat. Nichts ist leichter als Selbstbetrug, denn was der Mensch wahrhaben möchte, hält er auch für wahr. Demosthenes.
Wie wahr, dachte Mona. Auch heute noch. Oder gerade heute wieder. In Zeiten von Fake News. Es wäre so leicht, sich binnen Minuten im Internet zu informieren und Lügen zu entlarven. Doch die Leute taten es nicht. Sie glaubten, was sie glauben wollten.
Inzwischen kehrte Tim Jablonski mit den Getränken zurück. Das Café war voll. Stimmengewirr lag über dem Raum. Sie unterhielten sich über die Ausstellung. Den weiten Bogen, den sie über die Jahrtausende spann, wie leicht das Auge zu täuschen war und wie gerne man sich täuschen ließ. Vor allem, wenn es ein solches Vergnügen war. »Vielleicht nicht nur dann«, meinte Mona. »Vielleicht ist es oft auch einfacher, an die Illusion zu glauben, als den Tatsachen ins Auge zu sehen. Denn das erfordert Konsequenzen.«
Fragend sah er sie an. Doch sie hatte nicht vor, ihr eigenes Versagen bei Bernds Betrug vor ihm auszubreiten. Es war zu persönlich. Dafür kannten sie sich nicht gut genug. »Ich meine das ganz allgemein. Tatsachen anzuerkennen, erfordert in der Regel, dass man sich irgendwie dazu verhält. Das ist oft unbequem, also lässt man es lieber bleiben und folgt weiter dem schönen Schein.«
»Es ist menschlich, den Weg des Wassers zu wählen. Das hat meine Mutter immer gesagt.«
»Ein schönes Bild.«
»Sie war eine kluge Frau. Dabei kam sie aus einfachen
Verhältnissen. Ihr Vater handelte mit Kohlen und Briketts. Später dann mit Heizöl und sie selbst hat die Schule vor der Mittleren Reife verlassen. Aber sie hatte ein großes Herz und eine gute Beobachtungsgabe.«
»Und Ihr Vater?«
»Er war mehr der stille Typ. Typisch Mann. Einer, der alles mit sich abmachte.«
»Und er kam aus München?«
Überrascht sah Tim Jablonski sie an. »Nein. Wie kommen Sie darauf? Er war ein Fischkopp. Durch und durch. Und sein Dialekt … Wenn er hier säße, würden Sie kein Wort verstehen. Es war meine Mutter, die darauf geachtet hat, dass wir Kinder ordentliches Hochdeutsch lernen, damit aus uns mal etwas wird.«
»Ich dachte nur, weil Sie neulich gesagt haben, dass Sie in München Ahnenforschung betreiben wollen.« Sie sah, wie in seinem Gesicht eine Veränderung vor sich ging. Ein Schatten, der kurz darüberzog. »Entschuldigung. Das geht mich nichts an.«
»Ist schon in Ordnung. Es ist nur … Ahnenforschung trifft es nicht ganz. Genau genommen suche ich nach einem Hinweis auf den Verbleib meiner Großmutter, deren Spur sich im Spätherbst 1949 hier in München verliert. Es ist also eher eine Art Detektivarbeit.«
Monas Smartphone klingelte. Der Name Gesine Reinhardt erschien im Display. Seit Freitag wartete Mona auf diesen Anruf. »Entschuldigung. Da muss ich kurz rangehen.«
»Nur zu.«
Mona stand auf und suchte sich eine ruhigere Ecke. »Grüß dich, Gesine.
«
»Hallo, Mona. Entschuldige bitte meinen späten Rückruf. Ich war verreist und bin erst vor einer Stunde zurückgekommen.«
»Ist kein Problem.«
»Bist du etwa wieder in München?«
»Ich habe hier ein Haus geerbt und lebe jetzt wieder hier. Und darum geht es. Um das Haus … Darüber würde ich gerne mit dir reden.«
»Äh … Wieso? Ich mache nicht in Immo … Ach! Verstehe!« Gesine war so hektisch wie eh und je. »Hat das Haus etwa eine Vorgeschichte aus der NS
-Zeit?«
»So schaut’s aus. Und darüber wüsste ich gerne mehr. Ich würde dich gerne damit beauftragen, ein paar Dinge für mich herauszufinden. Hast du Zeit und Lust?«
»Das klingt super. Mein Arbeitsvertrag ist vor vier Wochen ausgelaufen, und ich hab noch nichts Neues. Wir sollten uns treffen. Wann und wo?«
Kurz war Mona versucht, heute vorzuschlagen. Doch insgeheim hoffte sie, dass ihr Date mit Tim Jablonski noch nicht beendet war. »Sagen wir morgen. Wann es dir passt. Ich bin flexibel.«
»Bei mir geht es erst ab drei. Vielleicht im Café Glockenspiel?«
Am Montagnachmittag wollten die Mitarbeiter des Küchenstudios kommen. »Ich kann leider am Nachmittag nicht weg. Treffen wir uns also bei mir.« Mona gab Gesine die Adresse und kehrte zu Tim Jablonski an den Tisch zurück.
»Und was machen wir nun mit dem angebrochenen Tag?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht.
«
»Wie wäre es mit einem Spaziergang durch den Nymphenburger Schlosspark? Wir laufen uns ordentlich Hunger an und suchen uns dann ein nettes Lokal.«
Mona gefiel der Vorschlag, und sie machten sich auf den Weg. Das Wetter hatte aufgeklart. Ab und zu lugte blauer Himmel durch die löchrige Wolkendecke. Sie fuhren mit der Tram zum Schlossrondell. Vor dem grauen Himmel wirkte der Prachtbau mit seiner weißen Fassade eindrucksvoll. Im weitläufigen Park verliefen sich die Besucher. Mona und Tim Jablonski gingen die große Runde, vorbei an der Baden- und Amalienburg, dem Apollotempel und der Magdalenenklause. Bei der Pagodenburg setzten sie sich auf eine Bank am Seeufer. Jablonski war ein angenehmer Gesprächspartner. Er konnte zuhören. Sie unterhielten sich über Gott und die Welt und stellten dabei fest, dass sie ähnliche Ansichten teilten und dieselben Krimiserien auf Netflix sahen, bevorzugt britische und skandinavische. Sein Faible für amerikanische Actionfilme konnte sie allerdings nicht teilen. Sie las gerne Romane, ganz altmodisch auf Papier gedruckt, er eher Sachbücher elektronisch auf dem Reader. Seine Hobbys waren Radfahren und Wandern. Am liebsten im hohen Norden Skandinaviens. Im Frühjahr war er zwei Wochen allein am Polarkreis unterwegs gewesen, und Mona dachte, dass das zu ihm passte. Er hatte schon etwas vom einsamen Wolf an sich. Irgendwann kamen sie bei dem Thema Beziehungen an, und sie erzählte, dass sie eine kürzlich gescheiterte hinter sich habe, ohne ins Detail zu gehen. Er fragte nicht nach, als ob er spürte, dass sie dafür nicht bereit war, und erzählte, dass seine langjährige Freundin sich vor einem Jahr von ihm getrennt hatte
.
Es wurde schon dämmrig, als sie den Park verließen und Tim Jablonski auf seinem Smartphone nach einem Lokal suchte. Ganz in der Nähe gab es drei Restaurants mit guten Bewertungen. Er überließ ihr die Wahl zwischen Griechisch, Bayerisch und Italienisch. Sie entschied sich für die bayerische Wirtschaft. Kurz darauf saßen sie in einer warmen Gaststube mit Kachelofen und Butzenscheiben. Es wurde ein behaglicher Abend bei Schwammerl mit Semmelknödel und Bayrisch Creme als Dessert. Das Gespräch zwischen ihnen lief wie ganz selbstverständlich, als ob sie sich schon lange kannten. Irgendwann bot Tim ihr das Du an, und es fühlte sich ganz selbstverständlich an, darauf einzugehen.
Gegen neun machten sie sich auf den Rückweg und fuhren mit der Trambahn bis zum Kurfürstenplatz. Von dort war es nicht weit in die Arcisstraße, wo Tim wohnte. Er fragte nicht, ob sie auf einen Kaffee
mit zu ihm kommen wollte, als sie sich Ecke Elisabethstraße verabschiedeten. Auch das gefiel Mona. Er machte keinen Hehl daraus, dass sie ihm gefiel, doch er ließ es langsam angehen und fragte auch nicht nach ihrer Adresse. Sie umarmten sich kurz beim Abschied, wie Freunde das tun. Doch Mona hatte den Duft seines Aftershaves noch in der Nase, als sie nach Hause kam. Frisch und herb.
***
Am nächsten Tag erschienen pünktlich um halb drei die Mitarbeiter des Küchenstudios. Eine junge Innenarchitektin, die aussah, als käme sie gerade von einer Trekkingtour. Funktionsjacke, derbe Stiefel, Rucksack. Die Haare
hielt ein Stirnband aus dem Gesicht. Ihr Kollege war mit Vollbart und Strickmütze im angesagten Hipsterlook gestylt. Die beiden stellten sich als Viktoria Steuten und Lukas Feicht vor. Sie folgten Mona in die Küche, und die Frau stieß ein überraschtes Oha!
aus, als sie die moosgrünen Fliesen und die orangen Möbelfronten sah. »Das sind ja beinahe Antiquitäten. Ich tippe auf späte Siebziger.«
»Gut möglich«, meinte Mona.
Viktoria Steuten ließ ihren Blick schweifen, während sie die Funktionsjacke auszog und den Laptop und ein Notizbuch aus dem Rucksack nahm. »Eine schöne große Küche ist das. So etwas findet man nur noch selten. Helle Wände, ein heller Bodenbelag, und sie wirkt noch mal so groß. Haben Sie Pläne? Auch wegen der Leitungen. Strom und Wasser. Das würde uns die Arbeit erleichtern.«
»Leider nicht.« Mona hatte nicht daran gedacht, Sander danach zu fragen. »Ist das ein Problem?«
»Nicht wirklich. Wir messen alles aus und bei den elektrischen Leitungen lassen wir uns überraschen. Wissen Sie, ob die jemals erneuert wurden? Oder sind sie so alt wie das Haus?«
»Auch da muss ich passen. Ich wohne erst seit Kurzem hier. Ich könnte aber beim Hausverwalter nachfragen.«
»Das wäre super. Wenn die nämlich hundert Jahre alt sind, würde ich Ihnen dringend zur Erneuerung raten.«
»Ich rufe ihn an.«
Mona verließ die Küche und ging ins Wohnzimmer, wo ihr Handy auf dem Fenstersims lag. Das Frühstück stand noch dort, und die Zeitung lag aufgeschlagen im Ungetüm. Sie war im Begriff, sich das Leben einer Bohemien anzugewöhnen. Fühlte sich eigentlich nicht schlecht an
.
Sie rief Sander auf dem Handy an und erklärte ihm, dass sie eine neue Küche einbauen ließ und die Innenarchitektin wissen wollte, ob die Stromleitungen jemals erneuert worden waren. »Nur im Bad«, sagte Sander. »Als es renoviert wurde. Ich bin übrigens grad im Haus und mache ein paar Fotos vom Treppenhaus wegen des Lifteinbaus. Wenn es Ihnen passt, komme ich rauf.«
Kurz darauf ließ sie Oliver Sander ein und ging mit ihm in die Küche, wo Viktoria Steuten und ihr Kollege mit Zollstock, Notizblock und Kamera zugange waren. Mona stellte den Hausverwalter vor. Baupläne des Hauses mit den Grundrissen der Wohnungen gäbe es leider nicht, erklärte er. Ein Problem, das leider schon häufiger aufgetaucht war. Aber Frau Hacker habe keinerlei Unterlagen zur Konstruktion des Schwanenhauses besessen. Bisher habe man alle Umbauten und Renovierungsmaßnahmen auch so hinbekommen. Die Leitungen in der Küche wären beim Umbau des Bads vor fünf Jahren nicht erneuert worden, obwohl sich das angeboten hatte, erklärte Sander. Doch Frau Hacker habe den zusätzlichen Schmutz gescheut und eine Renovierung der Küche abgelehnt. »Sie hat gesagt, für sie wäre sie ausreichend.«
Viktoria Steuten schob den Teewagen beiseite, der neben der Einbauzeile stand, und klopfte auf die Wand. »Wissen Sie, was hinter dieser Vormauerung ist?«
Wieder zog Mona ratlos die Schultern hoch, und auch Sander schüttelte den Kopf.
»Dürfen wir sie gegebenenfalls entfernen?«
»Kein Problem«, sagte Mona.
Die Türklingel schellte. Mona ließ Gesine ein. Sander verabschiedete sich, und das Team aus dem Küchenstudio
vermaß weiter die Küche, während Mona mit Gesine ins Wohnzimmer ging.
Ihre Schulkameradin hatte sich kaum verändert. Eine zierliche Frau mit einem verschmitzten Blick, der sie jünger wirken ließ, als sie war. Mona entschuldigte sich für die Unordnung. Gesine lachte und meinte, bei ihr sähe es momentan ähnlich aus. Derzeit war sie wieder einmal arbeitslos, und sie genoss die freie Zeit in gewisser Weise mit Lesen und Faulsein. In ihrem Beruf gab es immer nur befristete Verträge. Sie war das gewohnt, und ein neuer Arbeitsplatz würde sich schon finden. »Dein Auftrag kommt also zur richtigen Zeit. Wollen wir ganz profan über Geld reden?«
Gesine nannte ihren Tagessatz, und Mona fand ihn akzeptabel. »Wie schon gesagt, ich habe eine Erbschaft gemacht. Es ist also kein Problem.«
»Hab ich mir fast schon gedacht, als ich die Wohnung gesehen habe. Die ist ja riesig. Wenn du dir die Miete dafür leisten kannst.«
»Ich zahl gar keine Miete. Das ist das Haus, um das es geht«, sagte Mona.
»Ne, oder?« Verblüfft sah Gesine sie an. »Wahnsinn! Das ist ja … Ein Traum.«
»Nur macht mir die Erbschaft im Moment nicht wirklich Freude. Ich habe das Haus von einer Verwandten geerbt, die es wiederum von ihren Eltern geerbt hat. Ihr Vater hat das Haus 1938 von den jüdischen Eigentümern gekauft, und ich frage mich, ob er die Not dieser Menschen ausgenutzt oder es ihnen vielleicht sogar abgepresst hat. Kannst du das herausfinden?«
»Weshalb denkst du, dass es arisiert wurde?«
»Weil der Vater meiner Verwandten sich das Haus
vermutlich nicht leisten konnte.« Mona zeigte Gesine das Foto vom Grundbuchauszug, das sie gemacht hatte. »Die Familie Roth soll 1938 angeblich in die USA
ausgewandert sein. Das habe ich in Erfahrung gebracht. Nicht aber, was aus ihnen wurde.«
Gesine sah sich das Foto an und lehnte sich dann im Sessel zurück. »Also eine erste Einschätzung kann ich dir schon geben. Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Der Grundbucheintrag über den Kauf des Hauses durch Ernst-Friedrich Hacker stammt vom Juli 1938. Er hat das Haus also gekauft, bevor die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung richtig einsetzte. Außerdem müssten eventuelle Nachfahren darlegen, dass der Verkauf auf einer unmittelbaren und zeitnahen Verfolgungsmaßnahme Jakob Roths beruhte. Erst dann spricht man von einem verfolgungsbedingten Vermögensverlust. Restitutionsansprüche würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ins Leere laufen. Und ich bringe mich grad um einen schönen Auftrag«, fügte sie mit einem Grinsen hinzu.
»Niemand fordert Restitution, und den Auftrag hast du. Kannst du recherchieren, ob der Kaufpreis angemessen war? Und vor allem interessiert mich, was aus der Familie Roth wurde. Denn es gibt Ungereimtheiten zwischen dem, was man sich im Haus erzählt, und dem, was ich herausgefunden habe.« Mona gab Gesine Mirjams Brief aus England.
Gesine las ihn und reichte ihn an Mona zurück. »Das arme Mädchen. Hast du noch mehr Briefe von ihr gefunden?«
Mona schüttelte den Kopf. »Ich suche später weiter. Was hältst du davon?
«
»Es sieht so aus, als wäre Mirjam mit dem Refugee Children Movement nach England gekommen. Nach der Pogromnacht hat Großbritannien sich bereit erklärt, zehntausend jüdische Kinder aufzunehmen. Sie wurden in Heimen und in Gastfamilien untergebracht und sollten eine Ausbildung bekommen. Der Plan war, die Familien nach Kriegsende wieder in einer neuen Heimat zusammenzuführen. In Palästina. Nur haben die meisten dieser Kinder ihre Eltern nie wiedergesehen. Die Kindertransporte nach England sind gut dokumentiert. Es sollte kein Problem sein herauszufinden, ob Mirjam Roth auf einem war.«
»Und ihre Eltern? Ihr Vater war 1942 vermutlich nicht mehr am Leben. Mirjam schreibt von ihm in der Vergangenheit, und die Mutter erwähnt sie in diesem Brief nicht.«
»Wenn du nichts hast, außer der Info, sie wären ausgewandert, kann ich die Passagierlisten der Hamburg- Amerika-Linie nach ihnen durchforsten. Das war damals der übliche Weg.«