Sabine
Februar 201
9
Seit Charlies Besuch hing der Haussegen bei Sabine schief. Sie hatte ja schon geahnt, was passieren würde, als ihr Bruder und Natalie sich im Treppenhaus begegnet waren. Bei Tulpenregen. Denn seine verdammten Blumen hatte sie ihm hinterhergeworfen. Er sollte sich nie wieder bei ihr blicken lassen. Und dann Natalie. Die katholische Inquisition war ein Dreck gegen ihre Tochter. Gleich im Flur hatte sie Sabine zur Rede gestellt. Ziemlich käsig im Gesicht. »Onkel Charlie sagt, dass euer Vater gar nicht Omis Sohn war. Dass er aus einer reichen Münchner Familie stammt und dass du uns nichts sagst, damit du sein Erbe allein einstecken kannst. Stimmt das?«
Danke, Charlie! Hetzt du jetzt meine Kinder gegen mich auf!
Das hatte sie ihm in Gedanken hinterhergerufen. »Teil eins stimmt. Teil zwei nicht. Ich hätte euch das schon noch gesagt.« Doch damit hatte Natalie sich natürlich nicht zufriedengegeben. Sie hatte Fragen über Fragen gestellt, und Sabine hatte ihr nach und nach die ganze Geschichte erzählt. Jetzt war die Katze ohnehin aus dem Sack, und sie
wollte sich von ihren Kindern nicht vorwerfen lassen, ihnen vom Erbe nichts zu gönnen. Doch das Geld musste sie ja erst einmal bekommen. Und im Moment sah es nicht danach aus.
Sie hatte vom erfrorenen Karlchen erzählt und wie Oma an das Kind einer anderen Frau geraten war und es als ihres ausgegeben hatte. Sie erzählte auch von den Briefen, die sie gefunden hatte, und danach war klar gewesen, wie ihr Vater in Wirklichkeit geheißen hatte. Timon Jablonski. Dass sein Vater gefallen und seine Mutter eine Jüdin aus München war, der ein Haus in Schwabing gehörte. Das eigentlich Sabines Vater zustand, doch andere Leute hatten es sich genommen. Schon vor achtzig Jahren, während der Nazizeit. Ein Staatsanwalt und seine Familie. »Eine von denen hat das Haus geerbt, das eigentlich mir gehört. Wir haben einen Anwalt angeheuert, obwohl es kaum eine Chance gibt, das Haus zu bekommen«, erklärte Sabine ihrer Tochter.
»Und was ist mit Charlie?«
»Charlie würde sowieso nichts kriegen. Papa hat ihn enterbt. Das gilt auch für das Haus, obwohl er nichts davon wusste.«
Das hatte Natalie natürlich nicht gefallen. Das könne sie doch nicht machen. Das wäre nicht fair, bei so viel Geld müsse Sabine Charlie etwas abgeben. Es wäre mehr, als sie jemals ausgeben konnte. Wenn sie sich da mal nicht täuscht!,
hatte Sabine gedacht. »Noch habe ich das Geld nicht und es sieht nicht danach aus, dass ich es jemals bekomme.«
Doch weitaus mehr als Sabines Geiz beschäftigte Natalie das Schicksal der jüdischen Vorbesitzer. Mirjam Jablonski,
geborene Roth, war ihre Urgroßmutter und deren Eltern Jakob und Esther ihre Ururgroßeltern. Eine jüdische Familie aus München. Natalie war ganz still geworden, und seither beschäftigte sie sich mit der Nazizeit. Schleppte stapelweise Bücher aus der Stadtbibliothek an, surfte im Internet, und neulich hatte sie sich Schindlers Liste
angesehen.
Und natürlich hatte Natalie die ganze Geschichte brühwarm Kevin erzählt. Nicht, dass Sabine etwas anderes erwartet hätte. Auch er wollte alles ganz genau wissen. Vor allem, ob Sabine das Haus zurückbekommen würde. Den Zahn zog sie ihm sofort. Eigentlich konnten sie sich das Geld für den Anwalt sparen. Harrys Idee mit dem anthropologischen Vergleichsgutachten der Gesichter erwähnte Sabine nicht. Noch hatten sie keinen Gutachter gefunden.
Trotzdem begann Kevin – genau wie sie selbst – zu träumen und malte sich aus, was man mit dem Geld anstellen könnte, falls Sabine vor Gericht doch gewann. Eine schicke eigene Wohnung. Denselben BMW
wie Charlie. Hippe Klamotten. Nur kurz überlegte er, ob er jetzt eigentlich Jude war und eine Kippa tragen sollte. Eine USA
-Reise. All das ließe sich mit dem Erbe finanzieren. Als wäre es sein Geld! Ganz selbstverständlich ging er davon aus, dass sie ihm einen Teil abgeben würde. Als stünde ihm das zu. Der Herr hatte Wünsche, und Mama sollte den Weihnachtsmann spielen. Wobei sie bei zwölf Millionen eigentlich großzügig sein konnte. Eine für jedes ihrer Kinder.
In ihrer Fantasie begann sie das Geld auszugeben. Im Internet sah sie sich die Immobilienangebote an und entdeckte schließlich eine Dachterrassenwohnung, genau wie sie ihr vorschwebte. Blick über die Elbe, zwei Badezimmer, schicke Küche. Eine Million sollte sie kosten.
Peanuts, wenn man zwölf hatte. Harrys Lamborghini war auch nicht billig, und für sich selbst würde sie einen Porsche kaufen. Metallicrot. Sonderlackierung. Sie entdeckte im Internet Seiten mit Luxusklamotten. Schuhe. Taschen. Sie wusste jetzt schon, dass sie einen Kaufrausch kriegen würden, wenn sie das Geld erst einmal hatte. Dann las sie in der Bunten
einen Artikel über Boris Becker. Der hatte eine Finca auf Mallorca. Das war doch die Idee schlechthin! Ein Haus auf Malle. Sie googelte schon mal und fand etwas Passendes für eine schlappe Million. Die Finca von Boris hatte vier gekostet. Welche Leute sie kennenlernen würde, wenn sie das Geld erst hatte. Wahnsinn. Sie sah sich schon mit Boris Becker und Harald Glööckler Cocktails in einer schicken Bar schlürfen.
An manchen Tagen träumte Sabine beim Putzen vor sich hin und gab in ihrer Fantasie das Geld mit vollen Händen aus. Eines Tages begann sie zu rechnen. Etwa neun Millionen würden ihr noch bleiben, wenn sie die Immobilien und die Autos gekauft hatte. Wenn sie jeden Monat fünfundzwanzigtausend Euro verbrauchte – und das war bei dem Lebensstil, der ihr vorschwebte, eher die untere Grenze, wenn man der Gala
glauben durfte –, dann würde ihr Geld etwa dreißig Jahre reichen. Dann war sie irgendwas und siebzig, bis sie pleite war. Ein erschreckender Gedanke. Alt und arm zu sein wie Oma. Sie wollte nie wieder arm sein. Sie musste ihr Geld zusammenhalten. Natalie und Kevin würde sie natürlich etwas abgeben. Aber es musste ja nicht zu viel sein. Und brauchte Harry wirklich ein Auto für eine Viertelmillion? Das Ferienhaus auf Malle würde sie jedenfalls mieten. Das so gesparte Geld konnte sie anlegen. Genau. Sie hatte die Zinsen vergessen! Erleichtert atmete
Sabine durch. Eine Last fiel ihr von der Seele. Die Zinsen. Sie brauchte einen Anlageberater. Aber einen seriösen. Nicht so einen wie Charlie, der sie übers Ohr hauen und mit ihrem Geld verschwinden würde. Wie fand man jemanden, dem man vertrauen konnte? Erst jetzt verstand Sabine, dass es auch eine Last sein konnte, reich zu sein.
An einem Abend gab es richtig Krach. Kevin träumte wieder von einer Wohnung und einem BMW
und was das kosten würde. Peanuts, wenn Mama ihr Erbe erst einmal hatte, meinte er. Doch Sabine hielt dagegen. Ihr war auch nie etwas geschenkt worden, und das war gut so. Da lernte man was fürs Leben. Daraufhin nannte Kevin sie eine geizige Egoistin und sie ihn einen Schnorrer, genau wie Charlie. Natalie ging dazwischen. Sie wären ja wohl echt bescheuert, alle beide, sich wegen nichts zu streiten. Das Geld gab es schließlich nicht. Stattdessen sollten sie sich mal damit beschäftigen, was man Mirjam und ihren Eltern angetan hatte. Den Juden überhaupt im Dritten Reich. Dieses gigantische Unrecht, das auf den Deutschen lastete. Bisher war ihr das nicht so bewusst gewesen. Doch jetzt, wo sie selbst davon betroffen war, machte sie das fertig.
Sabine schüttelte den Kopf. Natalie mal wieder. Sie nahm alles zu ernst. »Hältst du dich jetzt für eine Jüdin? Du, das Opfer, und alle anderen sind die bösen Deutschen?«
»Zumindest habe ich jüdische Wurzeln. Und du auch. Sogar mehr als ich.«
In diesen Disput platzte Harry herein. »Was ist denn hier los?«
»Absurdes Theater«, sagte Natalie. »Die beiden streiten um Geld, das es nicht gibt.« Wütend rauschte sie an Harry vorbei und verschwand in ihrem Zimmer. Fragend sah
Harry Sabine an. »Identitätskrise. Sie denkt, sie wäre jüdisch.«
»Ist sie ja auch. Und ich ebenso.« Kevin verließ ebenfalls die Küche. »Dann kauf dir langsam mal eine Kippa«, rief sie ihm hinterher. »Und geh in die Synagoge.«
Diese Kinder. Sabine suchte nach den Zigaretten. Harry holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Er sah so zufrieden aus. »Was?«, fragte Sabine.
»Wie: was?«, fragte Harry.
»Du grinst so. Was ist?«
»Ach nichts.«
»Komm schon.«
Zufrieden rieb Harry sich die Hände. »Ich habe einen anthropologischen Forensiker gefunden. Einen, der bei Prozessen als Gutachter zugelassen ist. Der verlangt zwar ein Schweinegeld, aber er ist es wert. Seine erste Einschätzung: Es sieht gut für uns aus. Natürlich muss er das Bildmaterial erst noch auswerten.« Harry griff um Sabines Taille und zog sie auf seinen Schoß. »Ein wenig müssen wir uns noch gedulden und fünftausend in das Gutachten investieren, und dann haben wir den Beweis. Das ist besser als jeder Lottogewinn, meine Süße.«