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Manolis las die Angaben zur Person. Christian Wiesinger, einundvierzig Jahre alt, Bankkaufmann, vor einem halben Jahr aus der Haft entlassen. Seine Adresse im Stadtteil Giesing war angegeben, ebenso Autokennzeichen und Handynummer sowie eine E-Mail-Adresse.
Manolis rief Köster an. »Alles angekommen. Worum geht’s?«
»Wiesinger hat eine Tante. Sie heißt Kathrin Engesser und wohnt in München in der Treffauerstraße. Die Unterlagen meines Mandanten befinden sich in ihrem Besitz. Wiesinger sucht danach. Mein Klient weiß, dass sie sicher verwahrt sind, aber nicht, wo. Nur, dass sie nicht in der Wohnung von Frau Engesser sind. Du musst Wiesinger lediglich observieren und ihm die Unterlagen abnehmen, sobald er sie gefunden hat.«
»Wonach genau soll ich Ausschau halten? USB-Sticks, Akten oder Fotos? Eine Vorstellung sollte ich schon davon haben.«
Köster räusperte sich. »Akten. Eine Art Dossier.«
»Gut. Ich melde mich.«
Der PC war noch an. Mit dem Browser Veiled ging Manolis ins Darknet und schrieb Rebecca eine Nachricht.
Können wir uns gleich auf den Inseln treffen?
Die Antwort kam beinahe sofort.
Gib mir fünf Minuten.
Scilly Islands. So nannte Rebecca den Ort im Hinterzimmer des Internets, den sie für ihre Treffen eingerichtet hatte. Die Kommunikation lief mehrfach verschlüsselt über ein Tor-Netzwerk und war nicht nachzuverfolgen.
Die Scillys waren eine nahezu unbewohnte Inselgruppe im Atlantik. Manolis hatte sie gegoogelt, und es passte zu Rebecca, dass sie diesen Namen gewählt hatte.
Sie war eine gute Freundin und neben Köster seine einzige Vertraute. Er kannte sie, seit sie vor sieben Jahren bei ihm einen Range Rover gekauft hatte. Damals war sie Anfang dreißig gewesen und eine mit allen Wassern gewaschene IT-Spezialistin auf dem Weg nach ganz oben. In dem Telekommunikationsunternehmen, in dem sie arbeitete, hatte man ihr den roten Teppich ausgerollt und ihr als nächsten Karriereschritt einen Vorstandsposten in Aussicht gestellt.
Manolis unternahm mit ihr erst eine Probefahrt mit dem neuen Discovery und ein paar Tage später im Freelander. Rebecca war eine attraktive Frau, vor allem aber eine starke, und für starke Frauen hatte er eine Schwäche. Irgendwann hatten sie ein Date. Zwischen ihnen begann es zu knistern, und es bahnte sich etwas an, als eines Nachts der Anruf aus dem Krankenhaus kam. Zwei Jugendliche hatten Rebecca auf dem Nachhauseweg von einem Vortrag überfallen und mit einem Holzpfosten zusammengeschlagen. Zusammengeprügelt traf es besser. Manolis hatte schon viel gesehen, doch ihr Anblick hatte ihm Tränen in die Augen getrieben.
Schädelfraktur, etliche gebrochene Rippen, Milzriss, ein Cut in der linken Augenbraue und Hämatome überall. Sie verbrachte Wochen im Krankenhaus. Da sie keine Familie hatte, kümmerte er sich um alles. Er verhandelte mit den Versicherungen, hielt Kontakt zur Polizei, suchte eine gute Rehaklinik für sie, und die Gefühle, die sie füreinander hegten, veränderten sich. Sie wurden kein Liebespaar, dafür aber beste Freunde.
Nach der Reha fand Rebecca nicht in ihr altes Leben zurück. Panikattacken überfielen sie, sobald sie sich in die Öffentlichkeit begab. Ihr Sicherheitsgefühl war verloren gegangen, ebenso das Vertrauen in die Menschen. Manolis empfahl ihr eine Therapie, als sich abzuzeichnen begann, dass sie ihre Wohnung bald gar nicht mehr verlassen würde. Nur dort fühlte sie sich sicher. Doch die Therapie half nicht. Die Panikanfälle wurden schlimmer. Irgendwann waren Geduld und Verständnis ihres Arbeitgebers aufgebraucht. Nachdem Rebecca für mehr als ein halbes Jahr ausgefallen war, rollte man den roten Teppich wieder ein und kündigte ihr, woraufhin sie sich noch weiter einigelte. Sie kaufte ein Penthouse mit Dachterrasse und freiem Blick auf die Alpen. Von dort oben betrachtet, waren die Menschen klein wie Ameisen und nicht mehr bedrohlich. Außerdem gewöhnte sie sich an, soweit möglich, alles online zu erledigen, und ihm gelang es immer seltener, sie vor die Tür zu locken.
Den Prozess stand sie nur durch, weil sie die beiden Siebzehnjährigen hinter Gittern sehen wollte. Obwohl sie ein Beruhigungsmittel genommen hatte, brach sie während ihrer Zeugenaussage zusammen, und dann verurteilte der Richter diese missratene Brut gerade mal zu fünf Monaten Jugendstrafe auf Bewährung. Ein unfassbarer Schlag für Rebecca. Infolge des Urteils zog sie noch mehr zurück. Sie hatte nicht nur ihr Sicherheitsgefühl verloren, sondern auch das Vertrauen in den Staat. Sie war ihm nichts mehr schuldig. Sie war quitt mit ihm.
ENDE DER LESEPROBE
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