1.
Mamas Plan

Immer wenn ich in unserer Wohnung alleine war, was sehr häufig der Fall war, und wenn ich ganz still war, konnte ich die Geräusche der Familien unter uns und um uns herum hören. Sie drangen durch die dünnen Wände und durch die Rohre. Ich konnte mein Ohr erst an eine Wand des Zimmers legen, dann an eine andere, oder ich konnte in einen anderen Raum gehen, vorzugsweise das Badezimmer oder die Küche, und mein Ohr dort gegen die Wände pressen und völlig andere Geräusche hören – die Symphonie der Garden Apartments. Es war fast so, wie im Radio den Sender zu wechseln.

Es gab Familien, in denen sich die Mitglieder anscheinend ständig im Kriegszustand miteinander befanden, sich beklagten, anschrien, bedrohten. Es gab auch jene, die leise sprachen, miteinander lachten oder sogar sangen. Und oft hörte ich, wie jemand weinte, sogar schluchzte, als wäre er für immer eingemauert wie in der Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe. Natürlich hörte ich auch Fernseher und Hip-Hop-Musik. In unserem Wohnblock lebten auch einige weiße Familien, aber ihre Musik unterschied sich nicht sehr von der der anderen. Und von ihnen hörte ich genauso viel Gebrüll und Weinen.

Ich kannte keinen Menschen, der der Symphonie der Garden Apartments so viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte wie ich. Die Leute waren zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Geräusche zu produzieren, um auf die der anderen zu lauschen, und es verging kaum eine Stunde in ihren Wohnungen, in denen die Stille nicht unterbrochen wurde. Stille, das lernte ich schon früh, ängstigt die Menschen, oder führt zumindest dazu, dass sie sich unbehaglich fühlen. Die schlimmste Strafe, die man über meine Schulfreunde verhängen konnte, war, sie nachsitzen zu lassen, sie zu zwingen, still zu sein, und sie von jeglicher Kommunikation abzuschneiden. Sie wanden sich, zogen Grimassen, ließen die Köpfe hängen und machten den Eindruck, als ob Spinnen in ihnen freigelassen worden wären, die wie wild in ihrem Bauch und ihrer Brust herumkrabbelten. Wenn die Schulglocke endlich klingelte und sie entlassen worden waren, stoben sie los wie eine Konfettibombe und stürmten in alle Richtungen davon. Jeder redete laut, sie versuchten sich gegenseitig zu übertönen, und manche schrien sogar so laut, dass ihnen die Venen an den Schläfen hervortraten.

Mama war da nicht anders. Sobald sie die Wohnung betrat, drehte sie das Radio an oder schaltete den Fernseher ein. Dabei rief sie: »Warum ist es denn hier so still wie im Leichenschauhaus?«

Wenn sie mit einer Freundin etwas getrunken hatte, tanzte und lachte sie und forderte mich auf, ihr Gesellschaft zu leisten, während sie das Abendessen kochte. Wenn ich nicht kam oder ein unentschlossenes Gesicht zog, knuffte sie mich und beschuldigte mich, seltsam zu sein, wofür sie Daddy und seiner Familie die Schuld gab.

»Gibt doch gar keinen besseren Namen für dich als den, den ich dir gegeben habe, Mädchen«, erklärte sie. »Ich seh dich doch nur lächeln, wenn du in dieser Kirche singst. Willst du Nonne werden oder so was? Wach auf. Beweg deinen Hintern. Du hast eine nette Figur, Schätzchen. Du hast Glück, dass du im Aussehen nicht nach deinem Daddy kommst und nicht so schwere Knochen hast wie diese Tania Gotchuck oder so jemand. Du hast meine Nase und meinen Mund, und du bekommst auch meine Figur«, sagte sie, die Hände auf den Hüften, und drehte sich, als wäre sie von Spiegeln umgeben.

Mama brauchte keine Spiegel, um sich zu betrachten. Sie erspähte ihr Spiegelbild in einem Glas auf dem Tisch oder im Silberbesteck, und plötzlich richtete sie ihr Haar oder beklagte sich darüber, dass sie zu schnell alterte. Das tat sie nicht, aber sie sah es mit solchem Entsetzen vorher, dass schon die Vorstellung eines winzigen Fältchens oder eines einzigen grauen Haares ihr Hysterie in den Blick und Panik in die Stimme trieb.

»Du wärst deinetwegen nicht so verdammt nervös, wenn wir noch ein Kind hätten«, meinte Daddy zu ihr. »Dann hättest du etwas Wichtigeres zu tun, als dir um dich selbst Sorgen zu machen.«

Genauso gut hätte er einen Feuerwerkskörper mitten in unserem Wohnzimmer entzünden können, aber so lange ich mich erinnern kann, wünschte Daddy sich mehr Kinder. Ich weiß, dass er schrecklich gerne noch einen Sohn haben wollte. Mama brummte jedoch, dass sie durch meine Geburt einen Zentimeter mehr auf den Hüften hätte, und noch eine Geburt würde sie sicher in eines von diesen »Walrössern verwandeln, die hier herumwatscheln, mit einem Rattenschwanz von rotznäsigen Blagen im Schlepptau, die sie sich gar nicht leisten können. Ohne mich. Ich bin noch jung genug, dass sich ab und zu mal ein Mann nach mir umsieht.«

»Das ist alles, was dich glücklich macht, Lena«, entgegnete Daddy. »Die Aufmerksamkeit anderer.«

Bei ihm klang es nicht wie eine Anschuldigung oder auch nur wie eine Kritik. Es war einfach eine Feststellung. Dennoch steigerte Mama sich dann erneut in eine ihrer Tiraden hinein, dass er nur wollte, dass sie dick und hässlich würde, damit andere Männer sie nicht mehr sehnsüchtig anschauten.

»Du warst doch so stolz darauf, mich am Arm zu haben, Cameron Goodman. Ich konnte doch sehen, dass du mit mir wie ein Gockel vor deinen Freunden auf und ab stolziert bist und mit deinen Blicken geprahlt hast. Ich habe zugelassen, dass du mich wie ein Schmuckstück behandelt hast, und habe kein Wort dazu gesagt, oder? Worüber beklagst du dich jetzt also?«

»Ich beklage mich nicht, Lena, aber jetzt gibt es mehr im Leben. Wir haben eine Familie gegründet. Wir haben ein Zuhause, ein Kind. Wir sollten auf diese Familie bauen«, bat Daddy, seine großen Hände ausgestreckt, die Handflächen nach oben wie jemand, der um Zuneigung und Liebe bettelt.

»Ich habe es dir hundertmal gesagt, Cameron. Wir können uns bei deinem Gehalt nicht mehr Kinder leisten«, erwiderte sie und wandte sich ab, um die Auseinandersetzung rasch zu beenden oder am liebsten davor wegzulaufen.

Das war nicht fair und nicht einmal eine gute Entschuldigung. Daddy verdiente ganz anständig. Er hatte immer gut verdient. Er war Chef des Sicherheitsdienstes bei Cobbler’s Market, einem großen Warenhaus an der Neunten Straße. Bei der Armee war er Militärpolizist gewesen, nach seiner Entlassung hatte er auf verschiedenen Positionen für Sicherheitsdienste gearbeitet, bis er erst bei einer Firma, später dann bei einer anderen Leiter des Sicherheitsdienstes geworden war.

Es war nicht nur seine Größe, die ihn für diese Aufgabe empfahl, denn er war einen Meter dreiundneunzig groß und wog gut einhundert Kilo. Er wurde auch als ein vernünftiger, klar denkender Mann beurteilt, der andere Männer leiten konnte. Ich wusste genau, dass sein ruhiges, geduldiges Verhalten ihm half, mit Mama zurechtzukommen. Bei ihm dauerte es sehr, sehr lange, bis er die Beherrschung verlor. Er schien zu wissen, dass, wenn das der Fall war, eine solch ungezügelte Wut losbrach, dass er sie nicht mehr in den Griff bekam. Er war wirklich jemand, der Angst vor sich selbst hatte, vor dem, was er tun konnte und würde.

Überraschenderweise schien Mama nie Angst vor ihm zu haben. Nie zögerte sie oder trat den Rückzug an, selbst wenn sie dünnes Eis betrat. Ich habe schon gesehen, wie sie mit Dingen nach ihm warf, ihn schubste, ja sogar trat. Er war wie ein Baumstamm, unbeweglich, ungerührt, stark und fest, was Mama nur noch wütender zu machen schien. Schließlich zog sie sich erschöpft zurück, frustriert über ihre Unfähigkeit, irgendeine Reaktion bei ihm hervorzurufen.

»Mit deinem kalten Wesen bist du genau wie dein Vater«, beschuldigte sie mich und deutete wie ein Ankläger mit ihrem langen rechten Zeigefinger auf mich, denn nach ihrer Vorstellung war es buchstäblich ein Verbrechen, seinen Gefühlen nicht freien Lauf zu lassen und nicht aus sich herauszugehen. »Von deinem Vater kommt das Eis in deinen Adern. Bestimmt nicht von mir, Kind. Ich bin voller Hitze«, prahlte sie. »Ein Mann schaut in diese Augen und schmilzt dahin.«

Sie wartete darauf, dass ich ihr zustimmte oder lächelte oder wenigstens so aussah, als wäre ich neidisch, aber ich tat nichts von alledem, und das brachte ein affektiertes Lächeln auf ihre Lippen.

»Was ist los mit dir, Mädchen? Hältst du dich für etwas Besseres als alle anderen um dich herum?«

Heftig schüttelte ich den Kopf.

»Denn ich habe bestimmt nie etwas getan, dass du so was glauben könntest. Ich habe dich nie mit Komplimenten aufgeblasen, bis du herumstolzierst, als wärst du was Besseres. Oder doch?«

Ich wusste, dass sie nicht lockerlassen würde, bis ich etwas sagte. »Nein, Mama.«

»Nein, Mama«, äffte sie mich nach. »Und?«, fragte sie, die Hände immer noch in die Hüften gestemmt, »warum bist du ständig zu Hause, hm? Warum hast du keine Freundinnen und Freunde? Als ich in deinem Alter war, musste mein Daddy ein doppeltes Schloss an der Tür anbringen, um die Jungs fernzuhalten. Jetzt bist du siebzehn und hast noch kein richtiges Rendezvous gehabt. Ich höre auch nicht das Telefon klingeln«, beschwerte sie sich.

Es brachte mich fast zum Lachen, als ich ihre Klagen hörte. Alle anderen Mädchen meines Alters ächzten und stöhnten ständig darüber, dass ihre Eltern mit ihnen schimpften, weil sie zu viel telefonierten, zu spät nach Hause kamen und sich in der falschen Gesellschaft aufhielten.

»Schämst du dich deines Zuhauses, schämst du dich unseretwegen? Bringst du deshalb kaum jemals ein Wort heraus? Deine Familie ist dir peinlich? Was?«

Wieder schüttelte ich den Kopf.

»Denn die schlimmste Sorte Mädchen sind die Snobs«, verkündete Mama. »Ein Snob zu sein ist noch schlimmer, als andere zu ärgern und so was. Bist du ein Snob? Glauben deine Freunde das auch? Du glaubst wohl, du kannst deine Singstimme nicht auf uns einfaches Volk vergeuden? Ist es das? Wenn es nämlich das ist, bist du ein Snob. Na? Antworte mir, verdammt noch mal.«

»Ich bin kein Snob, Mama«, beharrte ich. »Ich schäme mich nicht wegen dir oder Daddy.« Tränen stiegen mir in die Augen, aber ich unterdrückte sie mit aller Kraft.

Sie zog die Augenbrauen hoch, überrascht, eine so ausführliche verbale Reaktion bei mir hervorgerufen zu haben.

»Nein? Was bist du denn dann? Was ist dein Problem, Mädchen? Warum sagen die Leute von dir, du wärst seltsam und stumm? Die Leute hier sagen guten Morgen, und du nickst einfach, oder sie fragen dich, wie es dir und deiner Familie geht, und du lächelst statt zu reden. Ich erfahre davon. Manche von ihnen reiben es mir unter die Nase. Hast du deshalb keine richtige Freundin und keine Freunde? Ich wette, daran liegt es«, sagte sie nickend. »Ich weiß, dass Jungs keine Zeit auf jemanden verschwenden wollen, der taub und stumm ist.

Du bist nicht hässlich, ganz bestimmt nicht, Kind. Dazu bist du mir viel zu ähnlich. Was ist es dann? Bist du einfach schüchtern? Ist es das? Hatte diese Grundschullehrerin vor Jahren Recht? Bist du Miss Schüchternheit?« Sie kam mir nahe genug, dass ich ihre Whiskeyfahne riechen konnte. »Hm? Hast du kein Selbstvertrauen?« Sie stupste mich gegen die Schulter. »Hast du Angst, sie lachen dich aus?« Sie stupste mich wieder. »Nun?«

Ich legte die Hand auf die Schulter, wo es wehzutun begann, aber ich weinte nicht und verzog nicht einmal das Gesicht.

»Was?«, schrie sie mich an.

»Bis jetzt interessiert mich niemand«, sagte ich ruhig.

Das ließ sie innehalten. Einen Augenblick dachte sie darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf.

»Also, du musst dir nicht jeden Jungen als deinen zukünftigen Ehemann vorstellen, Ice. Willst du nicht einfach nur ausgehen und dich hin und wieder amüsieren?«

Ich antwortete nicht.

»Du bist schüchtern«, entschied sie und nickte entschlossen. »Du gleichst einfach zu sehr deinem Daddy. Er war so schüchtern, dass ich ihn beim ersten Mal küssen musste. Wie findest du das? Überrascht es dich, dass dieser große, starke Bulle von einem Mann Angst hatte, ein Mädchen zu küssen? Das stimmt. Er zitterte so sehr, dass ich ihn mit einem Finger hätte umschmeißen können«, erzählte sie lächelnd. »Diese Wirkung habe ich auf die meisten Männer. Und das könntest du auch, wenn du nur auf mich hören würdest. Du benutzt nicht einmal Lippenstift, wenn ich nicht hinter dir her bin, und du hast dir immer noch nicht die Augenbrauen gezupft, so wie ich es dir gezeigt habe.«

Mama hatte mit siebzehn sechs Monate lang eine Kosmetikschule besucht. Es war ihr einziger wirklicher Versuch gewesen, einen Beruf zu ergreifen, aber es mangelte ihr an Verantwortungsgefühl und Disziplin. Wenn sie müde aufwachte, ging sie einfach nicht hin, und bald verlor sie ihren Ausbildungsplatz. Dennoch hatte sie eine ganze Menge gelernt.

»Du brauchst einen Bogen«, erklärte sie und ließ den Zeigefinger über meine linke Braue gleiten. »Den höchsten Punkt legst du direkt über die Mitte deiner Iris. Die Augenbrauen sind die Rahmen deiner Augen, Ice. Hab keine Angst, sie zu zupfen. Warum solltest du überhaupt vor so etwas Angst haben?«

»Ich habe keine Angst, Mama«, sagte ich und wich zurück.

»Ja dann, warum tust du es nicht? So kannst du deine Augen größer wirken lassen. Denk daran, was ich dir gesagt habe: Zupf die Haare von unten, nicht von oben. Die beste Zeit ist nach dem Duschen. Dann tut’s weniger weh, aber mit einem kleinen Schmerz kann man viel erreichen.«

Ich senkte den Blick und hoffte, ihr würde wie üblich bald langweilig werden und sie würde mit einem anderen Lieblingsthema anfangen, etwa wie klein unsere Wohnung war, oder dass sie sich das neue Kleid, das sie so gerne haben wollte, nicht kaufen konnte, weil es zu teuer war. Normalerweise endete es damit, dass sie drohte, sich einen Job zu suchen, aber sie bewarb sich nie irgendwo. Den Großteil ihrer Tage verbrachte sie damit, sich um ihr Haar und ihren Teint zu kümmern, Schönheitsübungen zu absolvieren und sich mit ihren Freundinnen zum Essen zu treffen, was normalerweise den ganzen Nachmittag dauerte. Sie trank immer zu viel bei diesen Essen und roch immer nach Rauch.

Ich fragte sie einmal, warum sie rauchte und trank, wenn sie doch so auf ihr Aussehen achtete. Sie wurde so wütend, dass sie ein Glas Wasser quer durchs Zimmer schmiss und mich beschuldigte, fanatisch religiös zu sein. Sie drohte mir, nicht mehr zum Kirchenchor gehen zu dürfen oder den Schulchor verlassen zu müssen.

»Das ist das Einzige, an dem du irgendein Interesse zeigst. Was ist denn das für ein Leben für eine Jugendliche? Selbst Vögel tun mehr als nur singen.«

Tatsächlich waren sowohl der Schulchor als auch der Kirchenchor preisgekrönt und wurden deshalb häufig gebeten, bei offiziellen Anlässen oder Wohltätigkeitsveranstaltungen zu singen. Aber was wusste Mama denn schon davon? Sie kam nur selten, um mich singen zu hören.

»Du wirst noch als fette Heuchlerin enden und dir tagein, tagaus Sorgen machen um deine unsterbliche Seele, statt ein bisschen Spaß zu haben«, plapperte sie weiter. Wenn sie einmal richtig in Fahrt war, konnte nichts sie aufhalten, so wie ein Auto, das ohne Bremsen bergab raste.

»Meine Mama war auch so, deshalb war ich froh, aus zu Hause rauszukommen, als dein Daddy mich schwängerte«, sagte sie ohne die geringste Scham.

Andere Mütter würden die Tatsache, dass ihr Kind ein Betriebsunfall war, wahrscheinlich verbergen, nicht so meine Mutter. Je nach Laune war sie entweder von Daddy verführt worden oder clever genug gewesen, schwanger zu werden und zu heiraten, um dadurch dem Gefängnis zu Hause zu entfliehen. Was auch immer die Gründe gewesen sein mögen, meine Geburt bedeutete einen Schlag für ihre Jugend und Schönheit. Sie hörte nie auf, mich an den zusätzlichen Zentimeter um ihre Hüften zu erinnern – ganz abgesehen von dem Stress, für ein Baby sorgen zu müssen.

»Wenn du mehr aus dir machen würdest, würden die Jungs dich bitten, mit ihnen auszugehen, Ice. Wie die Dinge liegen, wird dich keiner eines Blickes würdigen, es sei denn, du wärst leicht zu haben.«

Sie riss die Augen weit auf angesichts ihrer eigenen Vorstellungen: mich an einer Straßenecke oder auf dem Rücksitz eines geparkten Wagens.

»Wenn du das tust, schmeiße ich dich raus«, drohte sie. »Ich lasse nicht zu, dass die Leute dreckig über meine Tochter reden.«

Ich starrte sie an, als redete sie jetzt wirklich Unsinn.

»Sieh mich nicht so an, Mädchen. Es gehört heutzutage nicht viel dazu, aus einem netten Mädchen ein Flittchen zu machen. Ich sehe das doch überall um uns herum. Diese Edith Merton könnte auch gleich ein Schild da draußen an ihre Tür hängen: stets zu Diensten«, sagte sie und drohte mit dem Finger in Richtung Wohnungstür. »Die ganze Familie gehört rausgeschmissen.«

Die Mertons wohnten am Ende des Flurs. Ediths Vater war Busfahrer. Sie hatte einen zehnjährigen Bruder, und ihre Mutter arbeitete in einer Reinigung. Edith hatte zwei Probleme: Einerseits hatte sie bereits mit dreizehn Jahren einen üppigen Busen entwickelt, andererseits waren ihre Eltern so eifrig damit beschäftigt zu arbeiten, damit sie ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen hatten, dass die Kinder viel zu oft sich selbst überlassen blieben.

Mamas Besessenheit, was sie selbst und ihr jugendliches Aussehen anbelangte, hatte ein Gutes. Sie hatte panische Angst vor Krankheiten, besonders vor solchen, die ihren Teint beeinträchtigen könnten. Mir war es streng untersagt, jemals Ediths Wohnung zu betreten, und ich durfte sie auch nie zu uns einladen. Mama sah in ihr einen wandelnden Infektionsherd und deutete auf jeden Pickel in ihrem Gesicht als Beweis für eine ansteckende Krankheit.

Als Ergebnis dessen, was andere wohl eine schwere Neurose nennen würden, bemühte sich Mama, unsere Wohnung stets makellos sauber zu halten. Wenn sie jemals richtig arbeitete, dann um unser Zuhause und unsere Kleidung in perfekte Ordnung zu bringen. Natürlich war ich diejenige, die den Hauptanteil daran hatte, aber ich beklagte mich nicht darüber. Außer dem Singen im Kirchenchor und im Schulchor und den Hausaufgaben hatte ich wenig zu tun, um mir die Zeit zu vertreiben.

Kurz nachdem ein weiteres einseitiges Gespräch über mein blutleeres gesellschaftliches Leben zwischen Mama und mir stattgefunden hatte, kam sie jedoch zu dem Entschluss, dass dies allmählich ein schlechtes Licht auf sie selbst warf.

»Ich gehe mit meinen Freundinnen aus«, beklagte sie sich, »und es dauert nicht lange, da reden sie über ihre Kinder, die gerade frisch verliebt sind, prahlen damit, wie sie sich in Schale werfen oder wie gut sie aussehen, und ich muss dabeisitzen und den Mund halten, wie du es normalerweise tust; ich kann nur zuhören und hoffen, dass niemand mich nach dir fragt. Aber ich weiß, was sie denken, wenn sie mich anschauen: ›Die arme Lena. Sie hat zu Hause eine schwere Last zu tragen.‹ Was glaubst du, wie ich mich dabei fühle?«, jammerte sie.

»Ich werde es dir sagen«, fuhr sie fort, da sie ja wusste, dass ich nicht antworten würde. »Es gibt mir das Gefühl, als hätte ich eine Zurückgebliebene zu Hause, ein Mädchen, das nie zum Friseur geht, nie auf mich hört, wenn es um Make-up geht, nie ein neues Kleid haben will, nie irgendetwas tut außer lesen oder Musik hören oder mit dem Chor bei einem Reisebüro zum Himmel zu singen. Du bist eine Peinlichkeit!«, erklärte sie abschließend. »Und ich habe vor, ein für alle Mal etwas daran zu ändern.«

Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte, sah sie aber neugierig an, was sie zum Lächeln brachte.

»Du brauchst einen Schubs, Mädchen. Das ist alles. Nur eine kleine Vorgabe. Selbst dein Daddy ist dieser Meinung«, teilte sie mir mit.

Das bezweifelte ich. Wahrscheinlicher war, dass sie eine ihrer Tiraden losgelassen hatte, als er gerade spät von der Arbeit nach Hause gekommen war, müde war und keinen Widerstand leisten konnte. Um sie zum Schweigen zu bringen, hatte er wahrscheinlich viel genickt, gegrunzt und ausgesehen, als ob er ihr zustimmte, aber ich vermutete, dass er sich am nächsten Tag nicht einmal mehr an das Thema des Gespräches hatte erinnern können.

Zumindest hoffte ich das. Daddy belog mich nie und kritisierte mich auch niemals, weil ich zu still und zurückgezogen war. Er mochte die Ruhe, die er und ich genossen, wenn Mama nicht in der Nähe war, um uns über den einen oder anderen Fehler eine Predigt zu halten. Oft saßen wir friedlich beieinander, lasen beide oder hörten uns seine Jazzplatten an. Unser Schweigen sagte mehr als die meisten Leute mit stundenlangem Reden zum Ausdruck bringen.

»Hör dir die Trompete an«, sagte er, und ich tat es. Er nickte, schaute mich an und sah, dass ich verstand, warum er Jazz so sehr liebte.

Er besaß eine wertvolle Sammlung alter Jazzalben einschließlich Louis Armstrong, Lionel Hampton, Art Blakey und Sängerinnen wie Carmen McRae, Ella Fitzgerald und Billie Holiday. Er liebte es, wenn ich zuhörte, wie Carmen McRae Bye Bye Blackbird sang, und sie dann imitierte. Er fand, ich konnte auch wundervoll Ella Fitzgeralds Lullaby of Birdland interpretieren. Er spielte es, und ich sang mit. Immer wenn ich für ihn sang, las ich auf seinem Gesicht ab, welch tiefes Vergnügen es ihm bereitete. Wenn Mama dabei war, blätterte sie eine ihrer Modezeitschriften durch und schaute mich gelegentlich an, hin- und hergerissen zwischen einem Kompliment über meine Stimme und einer Klage darüber, dass ich zufrieden damit war, bei ihnen zu Hause zu hocken, und mich nicht für Musik interessierte, die Mädchen meines Alters liebten.

»Du machst sie zu einer Verrückten. Sie hört sich keinen Hip-Hop oder irgendeine andere Musik an, die Kids ihres Alters hören, und das nur deinetwegen, Cameron«, murrte sie.

»Ich höre mir einfach nur richtige Musik an«, erwiderte Daddy darauf. »Und es gefällt ihr. Was ist verkehrt daran?«

»Richtige Musik«, murmelte Mama. »Meine Vorstellung von richtiger Musik ist, irgendwo hinzugehen, um sie zu hören, und zu tanzen und sich zu amüsieren, nicht im Wohnzimmer zu sitzen und mit den Fingern auf die Sessellehnen zu klopfen.«

Gelegentlich gingen die beiden am Wochenende aus. Aber Mama war nie besonders glücklich über die Lokale, in die Daddy sie führte. Die Leute waren ihr entweder zu alt oder zu ruhig oder hatten keine Ahnung von dem, was wirklich angesagt war.

»Du bist nicht wie ich auf dem Laufenden, was in der Welt vor sich geht«, erzählte sie ihm. »Du hast einfach keine Ahnung.«

Daddy widersprach ihr nicht. Er zog seine Musik um sich wie einen stählernen Vorhang und saß zufrieden da, so zufrieden wie jemand, der sich in einem warmen Bad räkelt. Ich hörte zu, sang, lernte viel über Tempo und Beat, Phrasierung und Rhythmus, während Mama schmollte oder ins Schlafzimmer ging und den Fernseher sehr laut stellte. An jenen Abenden trieben wir das Schweigen zum Fenster hinaus.

Schließlich beschloss Mama wirklich etwas zu tun, die Kontrolle über mein Schicksal zu übernehmen, genau wie sie es angedroht hatte. Sie war wieder bei dem Gedanken angelangt, dass manche Mädchen einfach einen kleinen Schubs brauchen. Also, sie wollte mir mehr als nur einen kleinen Schubs geben. Sie wollte mir einen richtigen Stoß verpassen.

Eines Nachmittags kam sie in mein Zimmer, wo ich auf dem Bett lag und mit meinen Mathehausaufgaben beschäftigt war, und machte eine erstaunliche Ankündigung.

»Danke deinem Glücksstern, Mädchen. Ich habe dir ein Rendezvous mit einem gutaussehenden jungen Mann verschafft.«

»Was?«, fragte ich und drehte mich um.

»Du hast am Samstagabend ein Rendezvous. Wir müssen losgehen und dir etwas Anständiges zum Anziehen kaufen, und dann muss ich dir helfen, dich zurechtzumachen, dir das Haar zu frisieren, dich zu schminken. Wenn du mit jemandem ausgehst, repräsentierst du auch mich«, erklärte sie. »Die Leute werden sagen, das ist Lena Goodmans Tochter, und wenn ich dich zurechtgemacht habe, werden die Leute sagen: ›Lenas Mädchen hätte ich überall erkannt, ein Mädchen, das so hübsch ist, muss ihre Tochter sein.‹«

»Was willst du damit sagen, ein Rendezvous?«, fragte ich. Mein Herz klopfte wie eine Faust auf einen Stein.

»Ich weiß, dass ihr es nicht Rendezvous nennt. Irgendwie ist das Wort altmodisch geworden. Heute ›hängst du einfach mit jemandem ab‹, nicht wahr?« Sie lächelte affektiert und schüttelte den Kopf. »Also für mich ist ein Rendezvous ein Rendezvous. Der Mann holt dich ab, führt dich irgendwohin nett aus und bezahlt alles. Das ist für mich immer noch ein Rendezvous.«

»Welcher Mann?«, fragte ich und setzte mich dabei auf.

»Louella Carters jüngerer Bruder Shawn. Er hat dieses Wochenende Urlaub, er macht gerade die Grundausbildung bei der Marine, und wir haben vereinbart, dass ihr beide den Samstagabend miteinander verbringt. Er sieht sehr gut aus, und ein Junge in der Armee muss auch gute Manieren haben. Ich habe mit ihm telefoniert und er sagte immer nur: ›Ja, Ma’am‹ und ›Nein, Ma’am‹ und ›Danke, Ma’am.‹«

»Ich gehe doch nicht mit jemandem aus, den ich überhaupt nicht kenne, Mama«, protestierte ich.

»Natürlich tust du das. Hast du noch nie etwas von Blind Dates gehört? Du steckst deine Nase ja entweder in deine Schulbücher oder in die alten Plattenalben deines Vaters, aber davon musst du doch schon mal was gehört haben.«

»Ich mag keine Blind Dates«, sagte ich.

»Du hattest doch noch nie eins! Du hattest doch überhaupt noch nie eine Verabredung, wie kannst du also sagen, du magst es nicht, Ice?«

»Ich weiß es einfach«, sagte ich.

»Also, diesmal wirst du dir Mühe geben, etwas zu mögen, das ich für dich tue. Ich habe nicht einfach ein Rendezvous für dich arrangiert, weißt du. Ich habe zuerst viele junge Männer unter die Lupe genommen. Louella ist eine Freundin von mir, und ihr Bruder müsste eigentlich ein guter Junge sein, der es nicht ausnutzt, dass du ein so unschuldiges Mädchen bist. Ich behaupte ja nicht, dass er dich nicht küssen will und so was, aber du weißt ja, wann du aufhören musst.«

Sie überlegte einen Augenblick. »Oder nicht?«, fragte sie. »Ich meine, ihr habt doch all dieses Zeug in der Schule gelernt, nicht?«

Ich nickte.

»Gut. Dann ist ja alles klar.«

»Nichts ist klar«, widersprach ich.

Sie starrte mich einen Augenblick an, dann kam sie weiter ins Zimmer, ihre Augen glühend, ihr Kiefer aufeinander gepresst, die Hände zu kleinen Fäusten geballt und in die Hüften gestemmt, baute sie sich drohend über mir auf.

»Ich sagte, es ist klar. Du wirst dich schön zurechtmachen und dich amüsieren, ob es dir gefällt oder nicht. Und du wirst mich stolz machen und mir etwas geben, mit dem ich prahlen kann, wenn ich mit meinen Freundinnen zusammen bin, hörst du? Das ist ein Samstagabend, an dem du dich nicht in deinem Zimmer verkriechst, vor dich hin singst oder dir da draußen mit deinem Vater und mir diese antiken Schallplatten anhörst.«

»Aber ...«

»Kein Aber, Ice. Ich möchte, dass du dich anstrengst und dass du dich amüsierst. Tu es für mich, wenn schon nicht für dich selbst«, fügte sie leiser hinzu. Sie bettelte fast, und ihr Gesicht wirkte gequält von dieser Anstrengung.

Ich starrte sie einen Augenblick an und senkte dann den Blick.

»Nun?«

»In Ordnung, Mama«, sagte ich.

»Gut. Gut. Du wirst es mir hinterher danken«, prophezeite sie. »Du solltest dankbar sein, dass du eine Mutter hast, die weiß, wie man sich gut anzieht und auch gut aussieht. Andere Mädchen sind abhängig von ihren Freundinnen oder etwas, das sie in einer Zeitschrift gelesen haben, und sehen normalerweise ziemlich dämlich aus. Ich bin hier, an deiner Seite, und gebe dir all mein Wissen weiter, das ich aus echter Erfahrung gewonnen habe.

Als Erstes müssen wir dir die Haare richtig schneiden lassen.«

»Was? Nein, Mama. Ich möchte meine Haare nicht schneiden lassen«, stöhnte ich.

»Natürlich willst du das. Du weißt es nur noch nicht. Aber sobald du im Frisiersalon bist und meine persönliche Schönheitsberaterin Dawn sich deinen Mopp vornimmt, wirst du sehr glücklich sein«, drängte sie. »Du kannst dein Haar nicht immer nur einfach ausgebürstet tragen. Das sieht trostlos aus.«

Sie griff nach meinem Haar.

»Und es fühlt sich auch nicht so voll und seidig an, wie es sollte. Männer fassen gerne schönes Haar an und sehen gerne eine Frau, deren Gesicht richtig eingerahmt ist. Du nutzt deine Qualitäten nicht aus, Ice. Schon seit Monaten bin ich hinter dir her, um etwas an diesem ... diesem Schlamassel zu tun. Jetzt haben wir einen Grund dafür und werden es tun.

Danach müssen wir ein Kleid aussuchen. Vielleicht nutzen wir einige dieser Rabatte aus, die dein Vater bekommt, Rabatte, von denen wir nicht genug Gebrauch machen. Du brauchst auch ein Paar neue Schuhe.«

»Ich will nicht, dass meine Haare geschnitten werden, Mama.«

»Ich habe bereits einen Termin beim Friseur vereinbart. Morgen um neun.«

»Morgen um neun? Aber da bin ich in der Schule, Mama.«

»Nein, morgen nicht.«

»Aber ...«

»Du fehlst nie einen Tag, Ice. Du kannst einmal schwänzen, und erzähl mir nicht, das ginge nicht. Ich sehe ständig einige von den Mädchen aus deiner Klasse, die während der Schulzeit hier herumhängen und es sich gut gehen lassen. Niemand kommt jemals her, um das zu kontrollieren. Zumindest hast du einen guten Grund, nicht zu gehen.«

»Sich die Haare schneiden zu lassen ist kein guter Grund, um die Schule zu schwänzen, Mama.«

»Für mich schon, besonders weil du nie zum Friseur gehst, und ganz besonders, wenn so etwas Wichtiges bevorsteht«, beharrte sie.

»Etwas Wichtiges«, brummte ich in mich hinein.

»Ja«, sagte sie kopfschüttelnd, »so ein Treffen ist wichtig. Es ist genauso wie diese Debütantinnenbälle oder so, ein Einführen in die Gesellschaft.«

Ich fing an zu lachen, aber ihr Gesicht wurde kalt und hart.

»Lachst du mich aus, Ice?«

»Nein, Mama.«

»Wage es ja nicht, mir dein hochnäsiges Gesicht zu zeigen.«

»Ich bin nicht hochnäsig. Aber das hat doch überhaupt nichts mit einem Debütantinnenball zu tun, Mama.«

»Für mich schon, und für dich sollte es das auch. So, das wär’s. Danken kannst du mir später«, fügte sie hinzu und ließ mich allein, verblüfft und voller Befürchtungen zurück.

Es war fast wie in den alten Zeiten, wenn Eltern die Ehen ihrer Kinder arrangierten. Wenn eine von meinen Klassenkameradinnen herausfände, was sie getan hatte, wäre ich bestimmt ewig die Zielscheibe ihres Spottes. So wie ich Mamas Freundinnen kannte, konnte ich allerdings ziemlich sicher sein, dass dieser Tratsch sich schnell herumsprechen würde.

»Ice’ Mutter muss ein Date für sie ausmachen. Sie kann das nicht alleine«, würden sie sagen. Sie würden mich hänseln und fragen, ob meine Mutter auch für sie ein Date arrangieren könnte.

Ich muss einen Ausweg finden, überlegte ich. Ich könnte zu Daddy gehen, aber wenn ich das täte, käme es zu einem Riesenkrach zwischen ihnen, und davon hatten sie in den vergangenen Monaten genug gehabt. Das Letzte, was ich wollte, war Anlass einer weiteren Auseinandersetzung zu sein.

Vielleicht könnte ich so tun, als wäre ich krank.

Nein, das würde sie nicht schlucken. Sie war deswegen so aufgeregt, dass sie mich mit vierzig Grad Fieber und einem Gesicht voller Masern rausschicken würde.

Vielleicht tauchte Louellas Bruder nicht auf. Vielleicht änderte er seine Meinung. Vielleicht gefiel es ihm nicht, dass für ihn ein Blind Date mit einem Highschool-Mädchen arrangiert worden war. Vielleicht ...

Vielleicht könntest du dich einfach amüsieren, sagte eine andere Stimme in mir. Vielleicht magst du ihn.

Vielleicht hat deine Mutter ja recht. Rede dir nicht ein, dass du nie davon geträumt hast, dich mit einem wirklich netten jungen Mann zu amüsieren.

Ja, vielleicht hatte meine Mutter recht.

Bald werde ich es wissen, dachte ich und richtete mich auf das ein, was so unausweichlich auf mich zukam, wie wenn man mit einem Floß auf die Niagarafälle zutreibt.