Ich beschloss, es Mama nicht zu sagen. Sie und Daddy schauten fern, als ich nach Hause kam. Ich versuchte, ganz leise zu sein, aber als ich die Tür öffnete, stand Mama in der Wohnzimmertür.
»Wo ist Shawn?«, fragte sie und schaute an mir vorbei. »Hat er dich nicht zur Tür begleitet?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Überrascht mich nicht«, rief Daddy aus dem Wohnzimmer.
»Und das überrascht mich nicht«, gab Mama zurück. Sie warf mir einen misstrauischen Blick zu und forderte mich auf: »Komm herein und erzähl uns, wie es war.«
»Gut«, sagte ich.
»Gut? Was heißt das? Gut?«
Daddy schaute zu mir hoch.
»Ich habe gehört, dass er mit dir ins Kit-Kat gegangen ist. Da spielt Barry Jones, stimmt’s?«
Ich nickte.
»Siehst du, Lena, du wolltest nicht dorthin gehen, als ich dich vergangenen Monat darum gebeten habe. Und jetzt geht Ice dorthin und amüsiert sich. Talentierte Combo. Was haben sie gespielt?«
»Ellington, einige Benny-Goodman-Sachen und ein paar gute Miles-Davis-Stücke«, zählte ich auf. Daddys Augen strahlten.
»Ach, ihr könnt euch in allen Einzelheiten über die Musik unterhalten, aber wenn ich dir eine Frage stelle, höre ich nur ein ›gut‹. Was ist mit Shawn Carter?«
»Was erwartest du denn? Was soll sie dir denn erzählen, nachdem sie ihn erst einmal gesehen hat?«, fragte Daddy.
Mama schüttelte den Kopf über ihn und wandte sich mir zu. »Hast du dich gut mit ihm amüsiert?«
Ich zuckte die Achseln. »Es war in Ordnung.«
»Hört sich für mich nicht nach viel Spaß an«, murrte sie. »Ellington, Goodman, Miles Davis, die haben sich alle besser amüsiert. Hast du seine Freunde kennengelernt? Wie waren sie? Hast du neue Freunde gewonnen? Gehst du wieder mit ihm aus?«
»Warum gibst du ihr nicht die Gelegenheit, eine Frage zu beantworten, bevor du ihr die nächste stellst?«, fragte Daddy.
»Ich warte darauf, dass sie etwas sagt, was mir irgendetwas verrät, Cameron, danke. Ich habe eine Menge Arbeit darin investiert, und wir haben viel Geld ausgegeben, um sie aus diesem Kokon herauszuholen, in den sie sich eingesponnen hat, wobei du dich aber nicht besonders angestrengt hast.«
»Es waren alles ältere Mädchen, Mama. Ich glaube nicht, dass sie mit mir befreundet sein wollen. Ich gehe noch zur Highschool.«
»Du siehst nicht aus wie ein Schulmädchen, Ice. Sie sollten eigentlich mit dir befreundet sein wollen. Ich wette, du warst die Hübscheste, stimmt’s? Hm?«
»Du bringst sie in Verlegenheit, Lena.«
»Sie sollte stolz auf sich sein und auf mich und auf das, was wir zusammen erreicht habe. Du kannst ruhig ein bisschen prahlen, Ice. Nun?«
»Ich glaube schon, Mama.« Ich sah Daddy an. »Ich habe Lullaby gesungen.«
»Du hast was getan?« Daddy sprang fast aus dem Sessel. »Kein Scherz? Mit Barry Jones?«
Ich nickte.
»Wie ging es?«
»Alle standen auf und klatschten«, sagte ich.
»Hörst du das, Lena? Alle standen auf und klatschten.«
»Und was tat Shawn Carter währenddessen?«, fragte Mama.
»Zuhören und auch klatschen, vermute ich«, antwortete Daddy für mich.
Ich nickte.
Mama kniff die Augen zusammen. »Was ist das denn für ein Rendezvous? Du hast mit der Band gesungen?«, wunderte sie sich.
»Sie hatte ihren Spaß, Lena. Belass es doch dabei.«
»Ich bin müde«, sagte ich. »Gute Nacht.«
»Geredet hat sie nur über die Musik«, stöhnte Mama hinter mir. »Wenn ich mit einem Mann ausging, hatte ich eine Menge mehr zu erzählen als das.«
»Das kann ich mir denken«, witzelte Daddy, und sie stürzte sich auf ihn.
Ich schloss die Tür hinter ihrem Gezeter und atmete auf.
Ich hatte gehofft, es wäre vorüber. Mama würde aufhören, mir Fragen zu stellen, und allmählich würde die ganze Sache in Vergessenheit geraten, aber sobald ich am nächsten Morgen die Küchentür öffnete, um zu frühstücken, ging sie wieder auf mich los. Daddy lag noch im Bett.
»Was hast du denn zu Abend gegessen? War es teuer? Bestimmt hast du auch etwas getrunken, hm? Ich wette, sie haben nicht einmal nach deinem Ausweis gefragt. Nun?«
»Shawn bestellte mir einen Gin Tonic, niemand hat mich nach meinem Ausweis gefragt, aber ich habe nichts davon getrunken«, erzählte ich ihr und blieb damit immer noch bei der Wahrheit.
»Männer nötigen dich gerne zum Trinken, um dich kleinzukriegen. Das ist nicht schlimm, solange du deine Karten richtig spielst. Ich tat immer so, als wäre ich beschwipst, aber ich wusste immer genau, was um mich herum vor sich ging. Die Übrigen haben ziemlich viel getrunken, was?«
Ich nickte.
»Du und Shawn seid den ganzen Abend im Kit-Kat geblieben?«
»Ja«, bestätigte ich, wandte den Blick aber zu schnell ab.
»Er wollte dich noch anderswohin mitnehmen?«
Ich nickte.
»Wohin? Verdammt noch mal, Mädchen, warum muss ich dir jedes Wort aus der Nase ziehen? Warum erzählst du mir nicht die ganze Geschichte auf einmal? Sagst du jemals zwei Sätze hintereinander?«
»Er wollte, dass ich mit zu einem von ihnen nach Hause ging, um dort eine Party zu feiern, aber ich sagte nein.«
»So war das also. Aber das ist in Ordnung. Er sollte dich deshalb umso mehr respektieren. Es war schließlich eure erste Verabredung. Das hast du richtig gemacht. Bestimmt versteht er das. Das tut er doch, nicht wahr?«, fragte sie.
Gerade als ich mit der Wahrheit herausplatzen und ihr alles erzählen wollte, klingelte das Telefon. Wir beide schauten es an. Mama lächelte, und ich hob den Hörer ab.
»Hi«, sagte ich voller Begeisterung, als ich hörte, wer dran war.
»Ist das Shawn?«, flüsterte Mama und drängte sich neben mich.
Ich wandte ihr den Rücken zu, ohne zu antworten. Es war nicht Shawn, es war Balwin.
»Nein, das ist in Ordnung. Wir sind schon auf«, sagte ich.
»Ich habe vor fünf Minuten einen Anruf erhalten«, sagte er mit aufgeregter Stimme, »von Barry Jones. Sie sind gerade nach Hause gekommen. Nach dem Kit-Kat gehen sie immer noch in eine andere angesagte Jazzkneipe und spielen bis zum Morgen. Dann gehen sie frühstücken, und danach gehen sie nach Hause und schlafen den ganzen Tag.«
»Was für ein Leben«, sagte ich.
»Musikvampire. Wie auch immer, er wollte es mir unbedingt sagen, bevor er es wieder vergisst. Er war beeindruckt von dir.«
»Wirklich?«
»Ja, aber auch noch jemand anders war das, jemand namens Edmond Senetsky, ein Agent aus der Unterhaltungsbranche, aus New York; er war mit einem Kunden dort, und sie saßen ganz hinten im Club. Er hörte dich singen und fragte Barry nach dir. Barry erzählte ihm, dass er dich nicht kennt, dass er aber jemanden kennt, der das tut. Das war natürlich ich.«
»Und ... was wollte er?«
»Er hat Barry gesagt, dass du an der Schule seiner Mutter vorsingen sollst, einer Schule für darstellende Künste in New York.«
»New York?«
»Was ist mit New York?«, fragte Mama hinter mir. »Will er dich nach New York mitnehmen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ja«, sagte Balwin. »Er sagte, du solltest ein paar Nummern für das Vorsingen vorbereiten, und er gab Barry seine Karte, damit du anrufen und dich über die Einzelheiten informieren kannst. Barry hat mir die Telefonnummer durchgegeben. Willst du sie dir jetzt gleich aufschreiben?«
»Nein«, sagte ich nachdrücklich.
»Warum sagst du nein? Du kannst gehen«, gab Mama mir von der Seite Anweisungen. Wieder schüttelte ich den Kopf.
»Soll ich später damit vorbeikommen? Das ist eine Riesenchance für dich, Ice. Zumindest findet Barry das, und er weiß Bescheid. Ich habe auch schon von dieser Schule gehört. Wenn ich mich nicht schon für die Juilliard School entschieden hätte, würde ich das auch in Erwägung ziehen.«
»Ich werde darüber nachdenken.«
»Klar. Ich bin heute den ganzen Tag zu Hause. Ich weiß nicht, ob ich es dir je erzählt habe, aber ich komponiere auch Lieder. Meine Eltern haben mir ein Klavier gekauft – es steht im Keller. Es ist kein richtiges Studio, aber ich kann in Ruhe mitschneiden, und keiner stört mich hier unten. Junge, es wäre so toll, wenn du einmal einen meiner Songs ausprobierst«, sagte er.
»Ja, gerne.«
»Ich werde Mr Glenn anrufen, um zu hören, was er über diese Schule in New York weiß«, sagte Balwin und meinte unseren Chorleiter. »Wir werden seine Meinung darüber einholen.«
»Genau«, sagte ich. »Bye.«
»Ruf mich so bald wie möglich an«, sagte er rasch, und ich legte auf.
»Worum ging es denn da?«, stürzte sich Mama auf mich.
Ich stand da, starrte das Telefon einen Augenblick an und wandte mich dann ihr zu. »Das war nicht Shawn Carter, Mama. Das war Balwin Noble.«
»Wer ist Balwin Noble?«
»Er ist ein Junge aus der Schule, derjenige, der unseren Chor auf dem Klavier begleitet. So gut ist er«, betonte ich, aber sie schien nicht beeindruckt.
»Und? Was wollte er? Was war das mit New York?«
»Er war gestern Abend im Kit-Kat Club, als ich mit Shawn dort war«, begann ich.
»Wer?«, fragte Daddy, als er in die Küche kam. Er rubbelte sich die Haare mit den Händen, gähnte, streckte sich und schaute uns an. »Was ist los, ihr beiden? Ihr macht einen solchen Lärm, das könnte Tote aufwecken.«
»Wenn wir irgendwo wohnen würden, wo die Wände nicht aus Zellophan sind, könnten wir uns unterhalten, ohne jemanden aufzuwecken«, entgegnete Mama.
»Worum geht es denn bei diesem ganzen Gerede?«
»Ich habe sie gerade nach der Verabredung gefragt, das ist alles«, sagte Mama.
»Ach, das schon wieder«, sagte er und holte sich eine Tasse Kaffee.
»Ja, schon wieder. Dann kam dieser Anruf für Ice, und danach frage ich sie jetzt. Bist du damit einverstanden oder brauche ich eine besondere Genehmigung, um mit meiner eigenen Tochter zu reden?«
Daddy antwortete nicht. Er trank etwas Kaffee und begann sich dann einige Eier zuzubereiten. Er macht bessere Omeletts als Mama, aber ich hatte Angst, das jemals zu sagen.
»Hast du schon gegessen?«, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. »Lena, möchtest du auch ein Omelett?«
»Nein. Ich möchte kein Omelett. Verdammt noch mal«, fluchte Mama frustriert. Sie saß einen Moment wie gelähmt da. Ich steckte Brot in den Toaster. »Was sagte ich gerade?«, murmelte sie und legte ihre Finger an die Schläfen. »Ach ja, New York ... was war das noch mit diesem Jungen, Balwin? Was wollte er?«
Ich holte tief Luft, drehte mich zu ihr um und fing an. »Als ich gestern Abend dort gesungen habe, spielte Balwin Klavier. Er ist ein sehr begabter Musiker, und er geht gelegentlich ins Kit-Kat, um mit Barry Jones zu spielen.«
»Wow«, sagte Daddy. »Er muss sehr begabt sein, damit sie ihn spielen lassen.«
»Das ist er, Daddy.«
»Das ist ja einfach wunderbar für ihn«, sagte Mama. »Aber was hat das mit dir zu tun?«
»Barry Jones hat ihn heute Morgen angerufen, um ihm zu erzählen, dass ein New Yorker Talentsucher da war und mich gehört hat; er empfiehlt mir, dass ich bei einer Schule für darstellende Künste in New York vorsinge.«
»Im Ernst?«, sagte Daddy. »Das ist fantastisch.«
»Was ist daran fantastisch? Wie soll sie auf eine Schule in New York gehen? Du weißt doch, wie viel Geld das kostet«, schrie Mama ihn förmlich an.
»Lass uns das erst mal abwarten«, sagte Daddy.
Mama starrte ihn an. Vor Enttäuschung waren ihre Augen hervorgetreten und ihre Lippen blass geworden. Nun sah sie mich mit wachsendem Misstrauen an.
»Wer hat dich gestern Abend nach Hause gebracht?«, fragte sie. »Nun?«, bohrte sie nach, als ich zögerte.
»Balwin«, gab ich zu.
»Das dachte ich mir schon.«
»Was ist los?«, fragte Daddy und wandte sich vom Herd ab. »Was ist passiert, Ice?«
»Ich habe Mama erzählt, dass sie alle zu jemandem nach Hause gehen wollten, um eine private Party zu feiern, und ich weigerte mich zu gehen. Shawn hat das nicht verstanden, Mama, und er hat nicht akzeptiert, dass ich nein gesagt habe. Er wurde streitlustig und hat mich dagelassen.«
»Was hat er getan? Ich habe es dir ja gesagt ...«, stammelte Daddy.
»Oh, halt die Klappe, ja, und lass das Mädchen endlich reden«, sagte Mama.
»Sie haben eine Menge getrunken, auch Shawn. Wir haben auch nicht zu Abend gegessen.«
»Genau das hatte ich erwartet«, sagte Daddy nickend.
»Oh, du hast es erwartet. Was bist du, bist du jetzt ein Hellseher?«
Mama saß schäumend vor Wut da. »Du hast doch nicht den ganzen Abend stumm dagesessen, oder?«, fragte sie mit vorwurfsvollem Gesicht. »Du hast nicht zufällig den Eindruck gemacht, du seist arrogant?«
»Nein, Mama. Ich habe geredet, wenn ich etwas zu sagen hatte und sie mir Fragen gestellt haben, aber die anderen Mädchen wollten gar nicht mit mir reden.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Daddy. »In was für einen Schlamassel du sie gebracht hast!«
»Ich? Ich habe nichts dergleichen getan. Ich habe versucht, sie mit Leuten zusammenzubringen, damit sie etwas aus sich macht. Komm mir jetzt bloß nicht mit solchen Bemerkungen, Cameron Goodman.«
»Es war nicht Mamas Schuld, Daddy. Sie konnte doch nicht wissen, wie das laufen würde.«
»Eine Frau mit all ihrer Erfahrung im Umgang mit Leuten hätte es besser wissen müssen«, murmelte Daddy und wandte sich wieder seinen Eiern zu.
Mama nahm den Teller von ihrem Platz, hob ihn über den Kopf und schmiss ihn ihm auf den Fuß. Instinktiv sprang er zurück und riss dabei den Griff der Pfanne mit sich, die über den Herd segelte und auf den Boden fiel, so dass unsere Omeletts herausschwappten. Im Bruchteil einer Sekunde war alles vorbei, aber es war, als wäre das Dach eingestürzt. »Schau, was du angerichtet hast!«, schrie Daddy.
»Ich bin es leid, dass du Bemerkungen über meine Vergangenheit machst, als wäre ich eine Art Straßenmädchen gewesen, Cameron. Das habe ich dir schon hundert Mal gesagt, und vor allem vor den Augen unserer Tochter kann ich das überhaupt nicht gutheißen.
Du gehst hin und verdrehst ihr den Kopf mit all diesem Unsinn über dieses Musikzeug, bis sie glaubt, sie kann nach New York abhauen und ein Showstar werden oder so was. Sie geht mit einem jungen Mann aus und landet auf der Bühne eines Jazzclubs. Ich wette, Shawn hat sich blöd gefühlt.«
»Warum? Er hätte stolz darauf sein sollen, dass sie mit ihm da war. Er hätte sie mehr unterstützen sollen.«
»Ein Mann möchte, dass seine Frau ihm all ihre Aufmerksamkeit schenkt und nicht mit irgendeinem Klavierspieler flirtet.«
»Ich habe nicht mit ihm geflirtet, Mama. Er ist nur ein Freund. Er spielt in der Schule für uns. Er ...«
»Oh, das habe ich doch schon alles gehört. Du bist hingegangen und hast denen gezeigt, dass du nur ein Highschool-Mädchen bist. Meine ganze Arbeit und die ganzen Kosten waren umsonst«, beschwerte sie sich, stand auf, warf Daddy noch einmal einen wütenden Blick zu und marschierte dann aus der Küche.
Ich begann sauber zu machen.
»Mach dir keine Sorgen um sie«, sagte Daddy. »Sie wird schon darüber hinwegkommen. Du hast es richtig gemacht, dass du nicht zu dieser Privatparty gegangen bist. Du hättest mit einem Haufen Besoffener in der Falle gesessen«, sagte er. »Das weiß sie auch. Sie ist nur ... frustriert«, fügte er hinzu und half die Stücke von Mamas zerbrochenem Teller aufzusammeln.
Es war mein Fehler, dachte ich. Ich hätte darauf bestehen sollen, nicht auszugehen.
Ich hätte zu Hause bleiben sollen und nicht versuchen sollen, Mama zu sein.
Balwin rief am frühen Nachmittag noch einmal an, um mir zu erzählen, dass er mit Mr Glenn gesprochen hatte und der ihm erzählt hatte, dass die Senetsky School etwas so Besonderes war, dass sie nur ein halbes Dutzend neue Schüler pro Jahr aufnahm.
»Es ist nicht einfach nur eine Schule. Man lebt dort, und sie bringen einem bei, wie man mit der Unterhaltungswelt umgehen muss, wie man sich verhalten, anziehen, geben soll – einfach alles. Die Absolventen kommen alle bei Broadwayshows oder bei Film und Fernsehen unter. Sobald ein Schüler fertig ist, wird Edmond Senetsky sein Agent, und Senetsky ist ein sehr erfolgreicher Agent. Die Schule ist der erste Schritt einer fast garantiert erfolgreichen Karriere im Showgeschäft, egal ob jemand schauspielert, singt, tanzt, ein Instrument spielt – Hauptsache, er hat echtes Talent. Du musst das machen, Ice. Du musst es versuchen. Ich werde dir helfen«, fügte Balwin hinzu.
»Ich weiß nicht«, sagte ich, noch benommen von dem Streit, den Mama und Daddy am Morgen meinetwegen gehabt hatten. Das Haus war ein Grab geworden – niemand sprach, keine Musik, keine Regung. Daddy saß im Wohnzimmer und las zum zweiten Mal dieselbe Zeitung, und Mama hatte sich hingelegt, einen nassen Waschlappen auf der Stirn – sie schäumte noch immer vor Wut. Ich hatte Angst, irgendein Geräusch zu verursachen. Ich flüsterte praktisch ins Telefon.
»Stimmt was nicht?«, fragte Balwin.
»Nein«, sagte ich rasch.
»Ja gut, ich weiß, das kommt ein bisschen plötzlich, aber warum schaust du nicht vorbei, und wir probieren mal einige Stücke, die du vorsingen könntest.«
Ich antwortete nicht.
»Du weißt doch, wo ich wohne, ja?«
»Nein«, sagte ich.
Er ratterte die Adresse herunter und fügte dann einige Anweisungen hinzu. »Es sind nur zehn Minuten zu Fuß von dir«, meinte er abschließend.
Balwin wohnte in einer netten Gegend. Ich war schon einmal diese Straße entlanggegangen, kannte aber niemanden, der dort wohnte – bis jetzt.
Am Abend zuvor hatte er mir eine Menge über sich erzählt. Seine Eltern waren beide berufstätig. Sein Vater war Steuerberater und seine Mutter Dentalhygienikerin. Ebenso wie ich war er ein Einzelkind. Er hatte für seine Größe von einem Meter achtundsiebzig ein Übergewicht von etwa zehn Kilo, aber er hatte ein nettes Gesicht mit freundlichen, intelligenten, schwarzen Augen und festen, geraden Lippen. Er war definitiv der bestgekleidete Junge der Schule und wurde oft gehänselt, weil er Anzughosen und edle Hemden trug. Sie nannten ihn Mr Noble und ließen das Mister klingen wie ein unanständiges Wort. Einige von unseren Lehrern nannten ihn auch Mr Noble, aber sie zogen ihn nicht auf. Sie erwiesen ihm damit ihren Respekt, weil er ein guter Schüler war, höflich und sehr ehrgeizig.
»Okay«, entschied ich schnell. »Ich komme.«
»Toll. Das wird ein Spaß«, sagte er und hängte ein, bevor ich auch nur daran denken konnte, meine Meinung zu ändern. Ich musste unwillkürlich lächeln – was in letzter Zeit nicht gerade oft vorgekommen war.
Ich zog meine Jacke an und sagte Mama und Daddy von der Tür aus Bescheid. »Ich gehe eine Weile raus«, rief ich.
»Bring eine Packung Milch mit«, schrie meine Mutter hinter mir her.
»In Ordnung«, erwiderte ich.
Die beiden nahmen an, ich würde nur meinen üblichen Gang um den Block machen oder vielleicht an einigen Geschäften vorbeigehen, um Schaufenster anzugucken.
Es war ein kühler, grauer, etwas windiger Tag. Der Frühling hatte es in diesem Jahr schwer, Fuß zu fassen. Der Winter war hartnäckig und ließ sich einfach nicht vertreiben. Anfang April gab es Schneeschauer, und nur an einem Tag war es wärmer als zwanzig Grad. Heute war es zwischen zehn und zwölf Grad. Die Leute gingen rasch, wer keinen dickeren Mantel und weder Hut noch Mütze angezogen hatte, bedauerte das sicherlich. Das Wetter schien die Leute wütend zu machen, so wütend wie Menschen, die von einem Betrüger oder Hochstapler hintergangen und hereingelegt worden sind. In diesem Fall war Mutter Natur der Gauner, der einen Vertrag mit dem Kalender angeboten hatte und ihn dann mit Nordwinden und schweren Wolken brach.
Ich trug einen hellblauen Pullover und einen Rock, dazu schwarze Stiefel mit neun Zentimeter hohen Absätzen. Ich fühlte mich gerne groß. Ich hörte einige Pfiffe von Männern in vorüberfahrenden Autos, hielt aber den Blick nach vorne gerichtet. Sobald man in ihre Richtung schaut, glauben sie, du zeigtest Interesse an ihnen.
Ein Windstoß trieb mir Tränen in die Augen, als ich rasch um eine Ecke bog und auf die Straße zusteuerte, in der Balwin wohnte. Mittlerweile rannte ich fast. Als ich zu seiner Tür kam und klingelte, öffnete er so rasch, dass ich mich fragte, ob er die ganze Zeit im Flur gewartet hatte.
»Sieht scheußlich aus«, sagte er und beobachtete, wie der Wind einige Papierfetzen erfasste und sie die Gosse entlang trieb.
Ich holte tief Luft und nickte.
Er wirkte nervös und fing an so schnell zu reden, dass ich dachte, er müsste bald außer Atem sein.
»Ich hätte meinen Vater beim Wort nehmen sollen, als er mir das Angebot mit dem Auto gemacht hat. Er hat einen bestimmten Dollarwert auf mein Idealgewicht ausgesetzt und vorgeschlagen, mir für jedes Kilo, das ich verliere, die entsprechende Summe zu geben. Ich sollte jeden Morgen gewogen werden, und er wollte das in eine Tabelle in seinem Büro eintragen, so lange bis ich das richtige Gewicht und ein Auto hätte. Aber mir war ein eigenes Auto einfach nie besonders wichtig, und da hat er das Angebot zurückgezogen.« Er lächelte. »Vielleicht war Essen einfach wichtiger. Jetzt tut es mir leid. Ich hätte dich heute abholen können, wenn ich ein eigenes Auto hätte. Mein Vater lässt mich nicht mit seinem Wagen fahren, und das Auto meiner Mutter, mit dem ich dich aus dem Kit-Kat nach Hause gefahren habe, benutzen sie heute Abend selbst. Sie sind nach New York gefahren, um sich eine Show anzusehen und zu Abend zu essen«, meinte er schließlich und hielt inne, um Luft zu holen. »Gib mir deinen Mantel, damit ich ihn aufhängen kann.«
Ich zitterte, gab ihn ihm aber, und er hängte ihn in den Dielenschrank. Immer wenn ich jemanden besuchte, der ein eigenes Haus hatte, verstand ich Mamas ständige Sehnsucht, in eine bessere Wohnung umziehen zu wollen. Die Essensgerüche der anderen Mieter dringen nicht in die eigene Wohnung. Es gibt nicht ständig Lärm und lautes Geklapper. Man hat ein echtes Gefühl von Privatsphäre.
Balwins Zuhause war etwas mehr als nur durchschnittlich. Seine Eltern hatten es gut eingerichtet. Die Möbel wirkten neu und teuer. Alles war in frühem amerikanischem Stil ausgestattet: dicke Teppiche, elegante Couch- und Beistelltische, interessante Tisch- und Stehlampen und richtige Ölgemälde an den Wänden, keine Drucke. Ein großer Kronleuchter mit kristallenen Glastropfen hing über dem üppigen Kirschholztisch.
»Möchtest du etwas Warmes trinken? Ich mache dir Kaffee oder Tee, wenn du möchtest.«
»Tee«, sagte ich nickend.
»Milch oder Zucker oder Honig?«
»Honig.«
»Das ist gut. Genau das sollten Sänger trinken«, meinte er lächelnd.
Ich folgte ihm in die Küche und bestaunte die modernen Geräte und die edlen Einbauschränke. Als er Wasser in eine Tasse laufen ließ und sofort danach einen Teebeutel hineinhängte, keuchte ich.
»Du hast vergessen, das Wasser zu kochen«, sagte ich.
Er lachte. »Nein, aus diesem Hahn kommt sofort kochendes Wasser.«
»Wirklich?« Ich nahm den Becher entgegen und spürte die Hitze.
»Komm, ich zeige dir mein Studio«, sagte er stolz und führte mich durch den Flur zurück zu einer Tür. Wir gingen eine kleine Treppe hinunter zu einem großen Raum mit hellen Eichenpaneelen und einem kaffeebraunen Berberteppichboden. Das Klavier stand auf der linken Seite. Auf der rechten waren eine Bar und ein Billardtisch, links von der Bar ein eingebauter Fernseher und eine kleine Sitzgruppe, bestehend aus einem kleinen Sofa und zwei riesigen Sesseln, einer davon ein Liegesessel.
An der Wand auf Regalen waren Kassetten, Schallplatten und CDs ordentlich aufgestapelt, darunter befand sich Balwins Stereoanlage.
»Dieser Verstärker hat vierhundert Watt«, begann er strahlend vor Stolz. »Mit dieser Sechszehn-Spur-/Vierundzwanzig-Bit-Aufnahme-Workstation habe ich die Möglichkeit, Multitrack-Recording sowohl nonlinear als auch digital zu mischen und zu bearbeiten.«
Ein Blick in mein Gesicht brachte ihn zum Lachen.
»Tut mir leid«, sagte er. »Manchmal lasse ich mich hinreißen und rede und rede.«
»Ich habe nicht viel Ahnung von diesen Sachen.«
»Schon gut, was ich zu sagen versuche ist: Wir können eine CD mit Liedern von dir produzieren, wenn wir wollen. Und sie wird von ziemlich hoher Qualität sein. Nur für den Fall, dass die auf der Schule schon vorher so etwas wollen.«
»Ich habe kein Geld dafür, Balwin.«
Er lachte wieder. »Du brauchst kein Geld, Ice. Ich kümmere mich darum.«
»Warum?«
»Warum?«
Er wirkte einen Moment nervös, schaute zum Klavier, lächelte dann und sagte: »Weil ich Musik liebe und weil ich es gerne höre, wenn es gut gemacht wird, und du machst es besser als alle anderen an unserer Schule«, erklärte er.
Verlegen durch diese Erklärung, ging er rasch zum Klavier und nahm einige Notenblätter zur Hand.
»Schau dir diese Stücke mal an. Ich habe meine Sammlung durchgesehen, um auszusuchen, was du vielleicht gerne singen würdest und gut singen könntest«, sagte er.
Ich setzte den Teebecher auf ein Tischchen und ging seine Vorschläge durch. Einer ließ mich kurz lächeln. Es war Daddys Lieblingslied The Birth of the Blues. Er liebte Frank Sinatras Version. Ich zog es aus dem Stapel.
»Wie wäre es damit?«, fragte ich.
Er nickte. »Das hätte ich auch für dich ausgesucht«, sagte Balwin. »Lass uns daran mal herumbasteln.«
Er ging zum Klavier und fing an zu spielen. Ich brauchte die Noten dafür nicht. Ich hatte es oft genug zu Daddys Sinatra-Platte gesungen.
»Setz ein, wenn du bereit bist«, forderte Balwin mich auf.
Das tat ich. Er spielte es bis zum Ende und nickte dann.
»Gut«, meinte er, »aber du wirst das noch viel besser machen, wenn wir mit unserer Arbeit fertig sind.«
Ich lachte über seinen Ton. »Du hörst dich an wie Mr Glenn, wenn er mit unserem Chor redet.«
»Das versuche ich auch für dich zu sein«, erwiderte er. »Okay? Wir spielen es ein paar Mal, nehmen es auf, hören es uns an und korrigieren, was korrigiert werden muss.«
Ich lächelte ihn an. Am Abend zuvor hatte er sich so sehr bemüht, mich nach dem, was mir im Kit-Kat Club widerfahren war, aufzuheitern. Sein erster Gedanke war, dass ich unglücklich war, weil es mir nicht gelungen war, Shawn Carter bei Laune zu halten. Er wollte wissen, wie lange wir schon miteinander gingen. Als ich ihm erzählte, dass dies mein erstes und einziges Mal mit Shawn war, wirkte er erleichtert und überrascht.
»In der Schule bin ich mit niemandem besonders eng befreundet«, sagte er mir, als er sich vom Klavier abwandte. »Deshalb weiß ich auch nicht, wohin die Leute ausgehen und mit wem. Aber das war das erste Mal, dass ich dich im Kit-Kat gesehen habe. Wo gehst du normalerweise hin, wenn du ein Date hast?«
»Das habe ich nicht«, sagte ich ihm.
»Das verstehe ich nicht«, sagte er.
»Ich war noch nicht oft verabredet.«
Je mehr er über mich erfuhr, desto glücklicher wurde er.
»Warum lächelst du?«, fragte ich ihn schließlich.
»Du bist mir sehr ähnlich«, sagte er. »Die ganze Zeit dachte ich, du wärst so ruhig und reserviert, weil du einfach in höheren Kreisen verkehrst als die anderen an der Schule. Deshalb war ich nicht überrascht, dich mit diesen Burschen von der Armee zu sehen.«
Ich schaute ihn komisch an. War das nur bei ihm so, oder dachten die anderen in der Schule auch so über mich?
»Ich meine«, fügte er schnell hinzu, weil er dachte, er hätte mich irgendwie beleidigt, »du könntest das jedenfalls jederzeit, wenn du wolltest.«
Ich lachte in mich hinein. Warum hielt mich jeder, einschließlich Mama, für etwas Besonderes?
»Ich versuche nicht in irgendwelchen höheren Kreisen zu verkehren, Balwin«, sagte ich ihm.
Er lächelte und sagte nach einem Augenblick leise: »Du hast das auch gar nicht nötig, Ice.«
Versuchte er nur dafür zu sorgen, dass ich mich wieder wohlfühlte, oder sagte er diese Sachen, weil er ebenso ein Einzelgänger war wie ich und ich zu ihm nach Hause gekommen war? Meine Vermutung war, dass ich der erste Besucher war oder zumindest die erste Besucherin.
Fragte er mich, weil er wirklich aufrichtig an mein Talent glaubte oder weil ich ein Mädchen war?
Fragen, Zweifel, Unterstellungen.
Warum kannst du ein Kompliment nicht einfach hinnehmen und es dabei belassen, fragte ich mich. Wovor hast du Angst, Ice Goodman?
Zu sehr wie deine Mutter zu sein.
Sie würde bestimmt diese Frage stellen.
Vielleicht hast du, tief in deinem Innersten, wirklich Angst davor, nicht genug wie sie zu sein.
Halt den Mund und sing, befahl ich mir. Sing einfach.