Ich vermisse Pepper bereits, als ich den Stall verlasse und die Tür zum Parkplatz öffne.
So ist das immer. Wie soll ich je den Spagat schaffen zwischen ihm und meinem neuen Pferd? Ich wäre so gern total glücklich wegen meines ersten eigenen Pferdes, doch ich fühle mich nur halbe-halbe.
Papa drückt leicht auf die Hupe, damit ich unseren VW Passat finde. Dabei kann man einen schneeweißen Wagen wohl kaum übersehen.
»Weiß ist eine Sicherheitsfarbe«, sagt Mama.
Peinlich, sage ich.
Normale Eltern fahren schwarze oder silberne Autos.
Am liebsten möchte meine Mutter, dass ich einen Schimmel kaufe. Sicherheitsfarbe. Noch lieber hätte sie bestimmt ein Pferd in Signalrot mit schwarzem Muster, so wie die Verkehrsschilder für Schleudergefahr oder Gegenverkehr … aber das muss erst noch gezüchtet werden.
Papa legt sein Blackberry zur Seite, auf dem er E-Mails beantwortet hat wie immer in jeder freien Minute.
»Kannst stolz sein auf deinen alten Vater«, empfängt er mich triumphierend und schwenkt das Pferdeblatt mit der Anzeige. »Wenn das kein Schnäppchenpreis für ein Galopppferd ist. Superstammbaum.«
Bei seiner offensichtlichen Freude bringe ich es nicht fertig, meinen Vater in seiner Begeisterung zu stoppen, und weiche einer Antwort aus. Ich lasse mich auf den Beifahrersitz fallen und greife nach dem Gurt.
»Denkst du daran, dass Tapir mitkommt, Papa? Er wartet zu Hause.«
Mir ist es egal, was für einen Superstammbaum mein neues Pferd hat. Ich warte nur auf den zündenden Funken. Auf das Kribbeln im Bauch, das ich bei Pepper habe.
Papas Miene verdüstert sich, als er losfährt. Verstohlen mustere ich ihn, wie er schweigend Gas gibt. Warum zum Teufel wünscht er sich ein schickes Rennpferd für mich? Und kein normales, süßes Schulpferd? Wahrscheinlich deshalb, weil er es in jeder Lebenslage gern elegant mag (außer bei unserem Auto, da hat sich Mama mit ihrem Sicherheitstick durchgesetzt). Eleganz ist nicht mein Ding. Andererseits finde ich es gut, dass Papa nie in geschmacklosen Klamotten rumläuft wie andere Väter. Mit meinem Erzeuger kann ich mich sehen lassen, trotz seiner siebenundvierzig Jahre. Sportlich, fast eins neunzig wie Daniel. Braune Haare locker nach hinten. Seine coole randlose Brille stammt von einem ziemlich bekannten Designer. Im Moment kommt allerdings nicht viel von Papas selbstbewusster Eleganz rüber. Seine Kieferknochen malmen und er sieht aus wie ein Schakal, der um seine Beute betrogen wurde.
Logisch, Papa ist enttäuscht, dass ich nicht vor Begeisterung über seine Rennpferdentdeckung quietsche. Ohnehin geht seine Geduld bei meinen zeitaufwendigen Besichtigungen von Pferden allmählich gegen null. Nun hofft er auf fachmännische Unterstützung von Tapir, wie wir unseren genialen Pferdepfleger nennen.
Papa hält vor dem zweistöckigen Mietshaus am Fuchsredder 57, einem roten Backsteinkasten mit bröckelnden Fugen, bei dem der Lack von den Fensterrahmen blättert. Mir gefällt das schrottige Haus, aber natürlich sieht es nicht aus wie die artgerechte Unterkunft für einen Sohn aus einflussreicher Familie – wie Tapir einer ist.
Papa hupt kurz und legt den Kopf in den Nacken, um durch die Windschutzscheibe Tapirs Fenster unterm Dach zu erspähen.
Zwei winzige Zimmer mit schrägen Wänden bewohnt Tapir dort oben. Das passt nicht, wenn man sein superteures Elternhaus in Hamburg dagegenhält, einen gestylten weißen Nobelschuppen mit hundert Metern knirschendem Kiesweg und Porsche Cayenne davor. Wir sind mal mit dem Rad hingefahren. Meistens stehen breitbeinige Muskelmänner vor Nansens Designerhaus. Tapirs Vater ist nämlich ein Kandidat für fliegende Farbbeutel, denn er hat unglaublich viel Geld gescheffelt. Manche Leute hassen ihn dafür. Tapirs Eltern gehören die Nansen-Werke im Hafen, wo sie Rohre für die ganze Welt herstellen.
Als Papa hupt, öffnet sich im zweiten Stock ein kleines Sprossenfenster und Tapirs schmaler Kopf erscheint. Er wirft seine langen Haare zurück und winkt.
»Ich komme runter.«
Papa lässt die Autoscheibe nach unten surren und hebt kurz die Hand. Mehr ist von ihm nicht zu erwarten, wenn es um Tapir geht. Bei Jonas Nansen, wie Tapir richtig heißt, ist Papa hin- und hergerissen. Er schwankt zwischen Bewunderung wegen des erfolgreichen Vaters und leiser Verachtung, weil Tapir in seinen Augen eine verkrachte Existenz ist.
»Ein Jurist, der Pferdemist wegmacht, ich begreife das einfach nicht«, mosert er lauthals, während er sein Blackberry bearbeitet. »Allein dieser lange Pferdeschwanz, furchtbar, damit kann er ja wohl nur Hamburger Hausbesetzer verteidigen. Und die autonome Szene.«
»Papa!«
»Stimmt doch, Flo. Das sind genau die Typen, die seinem Vater Farbbeutel an den Porsche werfen. Verrückt, dein Tapir lässt sich den Milliardenbetrieb seiner Familie durch die Lappen gehen. Hach, wenn ICH diese Chance gehabt hätte …«
Solche Kommentare verabscheue ich zutiefst. Schließlich hat Tapir es zu Hause schwer gehabt. Sein Vater hat ihn von klein auf darauf gedrillt, die Nansen-Werke zu übernehmen und ihn zum Jura-Studium gezwungen. Dabei wollte Tapir immer nur mit Tieren arbeiten. Als er endlich mit der Uni fertig war, rebellierte er, hängte eine Lehre als Tierpfleger an und verzichtete auf die Fettkohle von seinem Herrschervater. Das muss man erst mal bringen. Nun arbeitet Tapir morgens glücklich bei uns auf dem Habichthof und nachmittags unglücklich als Jurist. Weil er im Zoo Zebras, Wildesel und Flachlandtapire betreut hat, haben wir ihm den Spitznamen Tapir verpasst.
Stirnrunzelnd sehe ich ihm entgegen, als er mit seinen braunen Sheriffstiefeln auf unser Auto zustakst.
Ob Tapir mitkommt oder nicht: Den Besichtigungstermin heute können wir uns schenken. Ein Pferd direkt von der Rennbahn – so etwas kann auch nur einem Ahnungslosen wie meinem Vater einfallen!
Tapir steigt hinten ein.
»Hi zusammen.«
Papa knurrt: »Moin Herr Nansen«, und fährt los. Sein Blick nach einer Blitzmusterung des Mitfahrers spricht Bände. Tapir trägt sein Lieblingsteil, die staubfarbene Trägerhose der Goldwäscher von Arizona. So etwas würde mein Vater nicht mal zum Säubern eines Abwasserkanals anziehen.
Ich muss an das Inserat für den Viertausend-Euro-Vollblüter denken. Als könnte Papa meine Gedanken lesen, fängt er erneut mit dem Preis an.
»So ein Pferd für viertausend Euro oder noch weniger, das wäre doch was für dich, Flo.«
»Papa, ehrlich, ich kann kein Rennpferd reiten!«
Tapir schweigt auf dem Rücksitz, aber was er denkt, weiß ich auch ohne Blickkontakt, nämlich: Gut erkannt, Flo Rohde.
»Ach was, man kann alles lernen«, sagt Papa mit Nachdruck.
Ich glaube, insgeheim möchte mein Vater vor seinen Kollegen herumprahlen, dass seine Tochter mit einem Rennpferd durch die Landschaft heizt. Schrecklich, wenn Väter nichts von Pferden verstehen …
Sicher reizt ihn der Galopper auch wegen des Zusatzes »VB«. Das bedeutet nämlich Verhandlungsbasis und bei diesem Wort bekommt Papa jedes Mal glänzende Augen, weil er dann den Preis herunterhandeln kann.
Die Fahrt ist kürzer, als ich erwartet habe. Die letzten Kilometer Richtung Lübeck führen über eine schmale kaputte Asphaltstraße. Papa umkurvt die Schlaglöcher und schimpft auf die Regierung.
Als wir den kleinen Hof erreichen, entdecke ich sofort den lang gestreckten Auslauf, auf dem sechs schlanke braune Pferde dösen. Vollblüter können also auch ruhig stehen. Das ist mir neu.
Viertausend Euro sind natürlich viel Geld, aber wirklich nicht teuer für einen fünfjährigen Galopper. Aber ich habe Schiss vor Herz Tuan xx, obwohl ich mich sonst nicht so leicht einschüchtern lasse. Andererseits bin ich auch furchtbar neugierig, weil ich noch nie ein Rennpferd aus der Nähe gesehen habe. Schließlich siegt die Neugier über mein Bauchweh. Zumal mir noch die Worte von Herrn Habicht durch den Kopf schwirren:
»Vollblüter sind Superpferde, sehr menschenbezogen und anhänglich. Und ehrlich und sensibel. Aber frisch von der Rennbahn kaum nachzureiten. Sie müssen regelrecht zum Reitpferd ausgebildet werden. Da muss man schon ein sehr erfahrener Reiter sein. Rennbahnpferde sind keine Anfängerpferde.«
Während Papa seinen Wagen vor der langen Boxenreihe abstellt, führt ein hagerer Mann einen der schlanken Braunen vom Paddock auf den Hof. Was für ein Pferd! Sehnig und lang schwebt er über das Pflaster. Kein Gramm Fett zu viel. Man sieht ihm den Hochleistungssportler an. Seine Augen registrieren alles.
Der Mann bindet den Braunen an einem Holzpfosten an.
Ist das der Galopper für mich?
Was heißt: für mich? Ich weiß ja jetzt schon, dass der Vollblüter auf keinen Fall im Hänger mit zum Habichthof fährt.
Habi sagt übrigens nur »Blüter«. Das klingt so etwas von fachmännisch, dass ich mir den Begriff sofort angeeignet habe.
Tapir guckt wieder so. Er weiß genau, dass der Blüter nichts für mich ist, aber um meinen Vater nicht zu reizen, hält er den Mund. Mir tut es leid, dass wir Herz Tuans Besitzer etwas vormachen.
Beim Aussteigen drücke ich meine gepolsterte Sicherheitsweste an mich, die ich extra mitgenommen habe, falls Papa mich im Sattel sehen will.
»Für dich?«, fragt der Besitzer Dirk Linde und schüttelt mir als Erste die Hand. »Superpferd, aber auf der Rennbahn zu langsam. Er blieb meistens im letzten Drittel.«
Zu langsam ist für mich immer noch zu schnell, denke ich, aber laut sage ich nur: »Ach was.«
»Was bedeutet eigentlich xx hinter dem Namen?«, will Papa wissen.
»Dass er ein Englischer Vollblüter ist«, sage ich wie aus der Pistole geschossen. »Arabische Vollblüter tragen hinter ihrem Namen ox.«
Dirk Linde lacht.
»Gut gelernt«, sagt er anerkennend. »Stimmt genau.«
Ich muss Papa gar nicht angucken, um zu wissen, was ihm ins Gesicht geschrieben steht: Das hättest du mir auch vorher sagen können, Fräuleinchen, dann hätte ich nicht wie ein Idiot fragen müssen.
Ich bin überrascht, wie ruhig Herz Tuan an seinem Pfosten steht und mich ansieht.
Etwas Faszinierendes geht von ihm aus. Aura nennt man die Ausstrahlung, die Tiere und Menschen unsichtbar umgibt. Ich muss zugeben, dass mein Herz bei seinem Anblick schneller schlägt. Übrigens zum ersten Mal bei einem Verkaufspferd.
Der schmale braune Blüter rührt sich nicht, guckt einfach nur, aber so intensiv, als hätte man Nacktscanner in seine Pupillen eingebaut, mit denen er mir direkt ins Herz schauen kann. Dem Blick kann ich nicht entrinnen. Ich habe das Gefühl, schon nach wenigen Sekunden weiß Herz Tuan alles über mich.
Gefallen würde er mir … aber dann drängt sich Peppers Gesicht vor den Kopf von Herz Tuan xx. Peppers verständnisloser Blick, wenn ich mit diesem Edeltier an seiner Box entlangstolziere.
Bye, bye, Schulpferd?
Pepper im Stich lassen – so viele Minuspunkte kann ich mir gar nicht geben auf meiner Fiese-Flora-Skala.
Es hat ja sowieso keinen Sinn mit einem Rennpferd. Ich traue mir ziemlich viel zu – manche behaupten: zu viel – aber ein Galopper ist definitiv fünf Level zu hoch für mich.
»Nun steig doch mal auf«, drängt Papa.
Wenn der wüsste, wie viel PS ein einzelnes Pferd haben kann.
Ich stülpe meine dicke Sicherheitsweste über und folge Herrn Linde in die Reithalle.
Schon das Aufsitzen ist eine Nummer für sich. Kaum habe ich mein Bein über die Kruppe geschwungen, marschiert das Pferd los. Mir ist extrem mulmig zumute. Vorsichtshalber reite ich nur Schritt auf meinem vierbeinigen Ferrari. Das heißt, ich will ihn nur Schritt gehen lassen. Doch er tänzelt die ganze Zeit unter mir, als hätten sie ihn mit hundert Liter Super Ultra vollgetankt. Mein Rennpferd kann es kaum erwarten loszustürmen. Das Wort »Tempolimit« ist ihm eindeutig unbekannt.
Nein, diesem temperamentvollen Herzbuben bin ich nicht gewachsen.
Während meine Reithose im glatten Sattel hin und her rutscht, denke ich sehnsüchtig an Pepper. Jetzt erkenne ich noch heftiger, was ich an ihm habe, an meinem gelassenen braunen Schatz. Es macht mich nervös, dass ich hier auf einem klaren Nicht-Kaufpferd sitze, während Melly meine Abwesenheit nutzt und mit Pepper herumschmust.
Ich muss runter!
Zum Glück bemerkt Herr Linde das und bedeutet Herz Tuan aufzumarschieren, was er eilig erledigt. Sein Besitzer greift nach den Zügeln.
»Nichts für ungut, junge Dame, für einen Blüter brauchst du wohl noch ein paar Jahre Erfahrung.«
Netterweise fügt er hinzu: »Herz Tuan ist aber auch als Reitpferd noch nicht zu Ende ausgebildet.«
Ich nicke schnell und mache, dass ich aus dem Sattel komme. Herr Linde übernimmt die Zügel und führt Herz Tuan neben mir her zurück zum Paddock. Ruhig hebt der Galopper den Kopf und sieht mich aus seinen klugen Augen von der Seite an. Was er wohl denkt?