Die ganze Fahrt über ist Papa knurrig, weil aus seinem Galopper nichts geworden ist. Ich glaube, noch mauliger ist er deswegen, weil ich mal wieder recht hatte. In seiner Firma ist Papa nämlich der Bestimmer, aber bei uns zu Hause nicht.
Wir sind unterwegs zum zehnten Pferd. Die Stute namens Venus.
Auf halber Strecke wiehert mein Telefon. SMS von Emily.
Müller-Maring hat Alpino neues Mineralfutter verordnet. Fragst du Herrn Habicht, ob er Alpi jeden Tag etwas ins Futter gibt? BITTE!!! Hdl Emi.
Ich seufze. Gut, Emily ist meine Freundin, aber es nervt schon, dass ich mich andauernd um ihre Angelegenheiten kümmern muss. Seit ihr eigener Haflinger Alpino auf dem Habichthof steht, soll ich ständig Herrn Habicht wegen irgendetwas fragen, weil Emi selber zu schüchtern ist.
Ich simse zurück.
Geht klar. Bin unterwegs zur Pferdebesichtigung. Ciao Flo.
Emily ist eine scheue Maus, gefangen im Körper einer Vierzehnjährigen. Ich fühle mich für sie verantwortlich, seit wir in der Grundschule unseren Apfelsaft geteilt haben. Mit allen Problemen muss Emi allein fertig werden. Ihre Eltern sind leider unbrauchbar, auch wenn das krass klingt. Für Melly Lanz ist Emi leichte Beute, weil sie sich nicht wehrt. Melly wirft ihr Sachen an den Kopf wie: »Wenn du nicht mehr im Stall wärst, würde dich definitiv keiner vermissen.«
Ich könnte kotzen, wenn ich so etwas höre, darum springe ich für Emi ein. Mellys Benehmen grenzt schon an Mobbing, das kann ich nicht einfach so hinnehmen.
Nach einer halben Stunde lässt Papa den Wagen auf dem weitläufigen Hof der Reitanlage ausrollen. Von links und rechts kreuzen Pferde, die zu den drei Reithallen geritten werden. Immerhin hat mein Vater mittlerweile so viel Pferdeverstand, dass er Schrittgeschwindigkeit fährt.
Beim Aussteigen gucke ich in meinem Handynotizbuch nach, wo wir Venus finden.
»Der neue Stall beim Eingangstor. Außenbox mit Einzelpaddock. Zweite Box von vorn.«
Nur eins der vielen Gebäude kommt infrage. Wir steuern den kleinen Paddock an, auf dem eine schwarze Stute steht.
Tapir geht in den Stall, um nach der Namenstafel zu sehen. »Das da draußen ist die Venus«, ruft er durch die Stallgasse. »Hannoveraner Stute. Besitzer Norbert Bergmann.«
Ein wunderschönes Pferd.
Tapir bringt aus dem Stall ein Stück Papier mit und reicht es mir.
»Hing drinnen an der Box.«
Ich entfalte den Zettel und lese vor: »›Liebe Familie Rohde, ich warte im Casino neben der vorderen Reithalle. Norbert Bergmann.‹«
Obwohl Venus noch ihr plüschiges Winterfell hat, schimmert ihr Haarkleid unter der Stalllaterne wie Samt. Wieder klopft mein Herz rascher. Könnte sie das Pferd meiner Träume werden? Gepflegt sieht sie aus, sauber und elegant. Eine echte Dame auf vier Hufen.
Als ich langsam auf die Lady zugehe, hebt Venus den Kopf und versucht, über mich hinwegzusehen. Offenbar nehme ich ihr die Sicht. Ich drehe mich um. Was muss sie denn unbedingt sehen?
Mit sehnsuchtsvollem Blick schaut Venus einer jungen Reiterin nach, die gerade mit federnden Schritten den Hof Richtung Parkplatz überquert. Als die Frau in blauen Reitsachen ins Auto einsteigt und abfährt, seufzt Venus auf und wendet mir ohne großes Interesse ihren schönen Kopf zu.
Prüfend gleitet ihr Blick über mich. Noch bevor ich den winzigsten Kontakt mit Venus aufnehmen kann, sagen ihre dunklen Augen: Vergiss es.
Ich bleibe einen Meter vor ihr stehen und wundere mich, dass ich nicht beleidigt bin.
Normalerweise kann ich es nicht gut vertragen, wenn ein Pferd mich ablehnt. Man kommt sich vor wie eine miese Ratte. Gedemütigt. Andererseits liebe ich Pferde gerade für ihre Ehrlichkeit. Warum sollen sie die ganze Menschheit mögen?
»So ein schickes Pferd«, sagt Papa.
Mein Instinkt sagt mir, dass die Stute sich als Reiter etwas anderes vorstellt als mich. Jemand wie diese Elfe, die soeben vorbeischwebte. Da hilft kein Drehen und Wenden. Venus hat sich eindeutig gegen mich entschieden. Mama nennt das: Die Chemie stimmt nicht. Das sind merkwürdige unsichtbare Wellen …
»Sie will mich nicht, Papa. Die Venus muss ich gar nicht erst satteln.«
Dass die Stute mir so direkt signalisiert, dass zwischen uns nichts läuft, macht mich irgendwie froh.
Papa nicht.
»Woher weißt du das?« Ärgerlich stampft er mit dem Fuß auf.
»Du hast ihn noch nicht einmal angefasst.«
»Sie!«
Irritiert zieht er die Brauen hoch.
»Wie bitte?«
»Sie. Stute. Weiblich.«
»Ach, hör auf. Lenk nicht ab. Woher willst du wissen, dass er – äh, sie – dich ablehnt?«
»Ich weiß es einfach. Bauchgefühl.«
Das ist zu viel für Papa.
»Wenn du allwissend bist«, schnaubt er und rudert mit den Armen, sodass Venus erschreckt den Kopf hochreißt, »dann kannst du sofort in meiner Firma anfangen. Solche Leute brauchen wir in der Versicherung. Oh, Ihr Haus ist abgebrannt? War es Brandstiftung? Ach, das wissen Sie nicht? Kein Problem, da fragen wir meine Tochter, die kann hellsehen.«
»PAPA!«
Frustriert hebt mein Vater die Schultern und wendet sich an Tapir.
»Was meinen Sie denn, Herr Nansen? Will meine Tochter mich veralbern?«
»Aber Herr Rohde«, sagt Tapir sanft. Dann erklärt er Papa, wie wichtig es ist, dass Menschen und Pferde sich voneinander angezogen fühlen.
»Man muss einen Draht zueinander haben. Es ist wie bei Freundschaften unter Menschen. Mancher liegt einem, mancher nicht. Wenn der Bauch NEIN schreit, dann lässt man besser die Finger von dem Pferd. Das wird nichts.«
Danke Tapir.
Doch so schnell gibt Papa nicht auf.
»Aber ich kann doch wohl verlangen, dass meine Tochter sich ein bisschen mehr Mühe gibt, ihn … sie … das Pferd kennenzulernen. Flora will ihn ja nicht mal probereiten. Ich kann doch nicht bis in alle Ewigkeit mit ihr herumfahren und nach Pferden suchen.«
Was mir auf Papas Einwände einfällt, behalte ich lieber für mich: Du bist leider eine absolute Null, was Pferde angeht. Wieso willst du mir die Stute einreden, wenn ich sie nicht will? Und sie mich auch nicht?
Tapir mit seiner feinen humanistischen Bildung erklärt das viel geschickter.
»Ihr Verstand sagt ganz richtig, Herr Rohde, diese Stute sieht prächtig aus und ist ihr Geld wert. Und sie hat sicher ihre Qualitäten.«
Tapir übertrifft sich selber!
»Aber wenn Floras innere Stimme Nein sagt«, redet er weiter, »sollten Sie das akzeptieren. Auch wenn es ärgerlich ist, wenn man erneut einen Weg umsonst gemacht hat.«
»Hm.«
»In Ihrem Beruf werden Sie Bauchentscheidungen misstrauen. Bei Ihnen muss es zwangsläufig um knallhartes Rechnen gehen.«
Papa bewegt seinen Nacken, als fühle er sich unbehaglich. Er kneift die Augen zusammen. Von verkrachten Juristen mit Pferdeschwanz lässt er sich nicht gern etwas über seinen Beruf erzählen.
Tapir muss aufpassen, dass er den Bogen nicht überspannt. »Pferdekauf ist so etwas wie eine Partnersuche«, fährt Tapir munter fort. »Das Pferd muss zu Ihrer Tochter passen.«
»Partnersuche«, hechelt Papa. »Sonst noch was? Diese neumodische Seuche; jeder redet plötzlich vom Bauchgefühl. Das hat es früher nicht gegeben.«
Jetzt lacht Tapir lauthals.
»Doch, Herr Rohde. Wissen Sie, wie man Soldaten früher die Pferde zuteilte?«
»Sie werden es mir sicher gleich sagen.«
»Die Soldaten wurden auf die Koppel geschickt und jeder Mann wartete so lange, bis ein Pferd sich aus der Herde löste und auf ihn zuging. Das wurde dann sein Dienstpferd. Damals hat man den Pferden mehr Bauchgefühl zugetraut als den Reitern.«
»Stimmt das wirklich, Tapir?«, frage ich.
»Logisch.«
Papa ist beeindruckt. Venus offenbar auch, sie hat die ganze Zeit zugehört.
Mein Vater seufzt.
»Ich gehe kurz ins Casino und gebe dem Besitzer Bescheid, dass wir wieder fahren. Was sage ich bloß? Wissen Sie, Herr Bergmann, meine Tochter hat da so ein Bauchgefühl. Flo, du bringst mich in peinliche Situationen.«
Im Großen und Ganzen hat er aber wohl verstanden, was Tapir meint. Glücklich scheint er darüber nicht zu sein. Ich auch nicht, denn tief drinnen weiß ich, dass ich nie ein Pferd finden werde, das mir hundertprozentig gefällt. Eins, dem mein Herz wirklich gehört. Ganz, total, vollständig und bis in den letzten Winkel. Eins, das rosa Wärme verbreiten kann.
»Jedes Pferd vergleichst du sofort mit Pepper«, sagt Tapir, während er meinem Vater nachsieht. »Darum bist du im Kopf gar nicht frei für ein anderes Pferd. Hab ich recht oder hab ich recht?«
Ich nicke nur, weil mir plötzlich ohne jeden Grund die Tränen kommen.
Tapir hat mich durchschaut.
Eine Ecke meines Herzens ist für immer besetzt. Nie wird sich das ändern. Auch wenn das neue Pferd sich auf den Kopf stellt, Doppelsaltos schlägt oder Pirouetten dreht. Mittendrin in meinem Herzen gibt es eine fest verschlossene Geheimtür. Kein Zugang für fremde Pferde. Eine unüberwindliche Tür mit einer Schatzkammer dahinter. Besser gesagt: mit einer Schatzbox, denn dort wohnt ein brauner Wallach namens Pepper.
Ich huste meine Heiserkeit weg und stelle Tapir eine Gegenfrage.
»Wie ist das denn im Zoo? Hängt man da etwa nicht an seinen Pflegetieren?«
»Doch, klar. Ich hatte auch meine Lieblinge. Den kleinen Tomtom zum Beispiel, Flachlandtapir, den kenne ich seit der Geburt. Für ihn gehörte ich zum festen Bestandteil des Zoos. Der Kleine hatte witzige Eigenheiten.« Tapir lacht leise in sich hinein. »Der warf sich flach auf die Seite, wenn ich morgens kam, und wollte tüchtig gekrault werden.«
Während er redet, sucht Tapir auf seinem Handy nach alten Fotos und zeigt mir das Bild von einer grauen Walze mit kurzem Rüssel.
Ich beuge mich über die Aufnahme. Man muss schon einen reichlich schrägen Geschmack haben, um diesem glatten grauen Ding etwas abzugewinnen. Aber Tapir scheint das anders zu sehen, denn seine Augen glänzen wie die eines stolzen Vaters, als er weitererzählt.
»Als Tomtom das erste Mal zum Tierarzt musste, Impfungen und so, hat der Kleine mir das schwer übel genommen, weil ich ihn nicht davor bewahrt habe. Seine Mutter übrigens auch. Eine Woche brauchte ich, um Tomtom mit Weintrauben und Feigen wieder gnädig zu stimmen.«
»Vermisst du ihn nicht?«
»Klar«, sagt Tapir und dann dreht er sich abrupt um und ich frage nicht weiter, weil ich genau weiß, dass er jetzt an die geheime Ecke in seinem Herzen denkt, in der für immer ein kleiner Tapir wohnt.
Als mein Vater am anderen Ende des Hofes in der Casinotür auftaucht, drückt Tapir plötzlich meinen Arm und sagt: »Ich hab eine Idee, wie ich deinen Vater von Pepper überzeugen könnte. Misch dich besser nicht ein.«
Auf der Rückfahrt von Venus’ Reitanlage knabbert Papa immer noch an der Absage herum, jedenfalls muffelt er vor sich hin.
Im Grunde ist das nichts Unnormales. Papa wirkt gewöhnlich ziemlich unnahbar. Eine unsichtbare Wand aus Tabellen und Listen und Plänen und Zahlen umgibt ihn. Das Problem ist, dass Papas komische Aura andere Menschen regelrecht zurückprallen lässt. Zum Glück weiß ich, dass er innen drin ganz anders ist. Man muss nur das ganze Zahlengedöns wegschleifen, dann kommt plötzlich ein süßer kleiner Papa zum Vorschein.
Obwohl es im Moment eher so aussieht, als könnte man eine Million Jahre an ihm herumschleifen und er bliebe trotzdem der alte ruppige Oliver Rohde.
Leider sagt Tapir auch nichts. Wartet er auf eine günstige Gelegenheit?
Nachdem wir eine gefühlte Ewigkeit schweigend vor uns hin gebrütet haben, schlägt mein Vater plötzlich mit beiden Handflächen auf das Lenkrad.
»Ich verstehe dich nicht, Flo. Bei Emily gab es doch nicht so ein Theater. Ruck, zuck stand ihr neuer Gaul im Stall.«
Gequält drehe ich mich zu Tapir um. Er guckt zurück, als ob ihn ein Weisheitszahn schmerzt. Unmerklich zwinkert er mir zu und beugt sich zu Papa vor.
»Das können Sie nicht vergleichen, Herr Rohde. Flo muss sich ja für ein wildfremdes Pferd entscheiden. Emily dagegen kannte ihren Haflinger Alpino schon jahrelang. Er stand doch auf dem Ponyhof, wo sie dreimal im Jahr Reiterferien machte. Emily war daher sehr vertraut mit Alpino. So ähnlich wie Ihre Tochter mit Pepper.«
Tapirs Pferdeschwanz fällt ihm über die Schulter und streift Papas Ohr. Papa zuckt zusammen. Sicher aus Angst, er könnte durch die Berührung in einen Pferdefreund verhext werden. Das Ohr reibt er bestimmt nachher mit Sagrotan ab.
»Schon gut«, murmelt er.
Schweigend fahren wir weiter. Papas Kieferknochen malmen, er kaut an einem Problem. Kurz vor dem Habichthof strafft er unvermittelt seinen Rücken und sucht im Rückspiegel Tapirs Gesicht.
»Was ist denn mit diesem Pepper, Herr Nansen?«
BITTE? Papa fängt von sich aus mit Pepper an?
Mein Herz macht einen gefährlich hohen Sprung. Auf einmal rast es wie verrückt. Der Pulsschlag dröhnt in meinen Ohren. Warum kommt plötzlich wieder Pepper ins Spiel? Die Geheimtür in meinem Herzen klappert so sehr, dass ich zu zittern beginne.
Insgeheim taste ich Papas Worte ab. Was ist denn mit diesem Pepper, Herr Nansen? Kann ich darin Zeichen für eine Kapitulation sehen? Weicht mein störrischer Vater von seinem trotzigen »Nein« ab?
Aus Papas Gesicht werde ich nicht schlau, er schaut stur geradeaus auf die Straße.
Was bedeutet seine Frage bloß? Und vor allem: Was kann Tapir aus dieser Chance machen?
»Pepper?«, sagt Tapir hinter mir. »Den verkauft Herr Habicht nie im Leben. Ist doch sein bestes Schulpferd.«
Sofort rast mein Herz nicht mehr. Im Gegenteil, es droht auszusetzen. Gleich bleibt es stehen. Furchtbar, die Worte so deutlich gesprochen zu hören. Den verkauft Herr Habicht nie.
Wieso sagt Tapir so etwas?
Zuversichtlich sieht er mich vom Rücksitz aus an.
Wollte Tapir mit dem Satz nur Papas Ehrgeiz wecken? Ich schöpfe Hoffnung.
Störrisch schiebt Papa sein Kinn vor. »Das wollen wir doch mal sehen.«
Tapirs Einwand war ein oberkluger Schachzug!
Vor einem halben Jahr hat Papa noch rumgetönt: »Ich kaufe doch kein gebrauchtes Schulpferd!«
Und nun will er sich in den Zweikampf mit Herrn Habicht stürzen?
Ich zucke mit der Nase, um Tapir zu bedeuten, dass ich begeistert bin.
Mein Supertapir, du kennst dich besser mit Jungs aus als ich. Wenn du da einen Stein ins Rollen bringst … den Pepperstein sozusagen … nie würde ich dir das vergessen, Tapir. Du hättest drei Wünsche bei mir frei. Was heißt drei – hundert!