7.

Wir lassen auf jeden Fall eine Ankaufsuntersuchung machen«, verkündet Papa eine halbe Stunde später am Frühstückstisch.

Ein Schlag in den Magen hätte mich nicht schmerzhafter treffen können. Ich klammere mich so fest an die Tischplatte, dass meine Knöchel weiß hervortreten, und starre meinen Vater an.

»Um sicher zu sein, dass dein Pferd gesund ist. Schließlich will ich kein Mängelexemplar kaufen.«

Mein Mund ist zu trocken, um lange mit Papa zu diskutieren.

»Wer hat dir das eingeredet?«, krächze ich.

Ein Wunder, dass die Frage so ruhig über meine Lippen kommt und nicht als schriller Aufschrei.

Seit dem dummen Gerede von Mellys Mutter ist nichts mehr wie vorher. Plötzlich sehe ich überall Krankheiten und mögliche Gefahren.

Dabei müsste ich mir gar keine Sorgen um Peppers Gesundheit machen. Hat Tapir mir doch bestätigt! Aber ich bin nicht blöd, ich denke weiter … nicht nur an Krankheiten. Es scheint mir höchst bedenklich, vor dem endgültigen Kauf Tierarzt Müller-Maring an Pepper heranzulassen. Denn selbst ein gesunder Pepper kann mir noch durch die Lappen gehen. Jawohl, das ist mir unter der Dusche eingefallen. Unser Tierarzt ist nämlich immer auf der Suche nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Was, wenn er in Pepper eine medizinische Sensation wittert? In meiner Ankaufsablehnungspanik male ich mir folgendes Szenario aus: Müller-Maring setzt bei Peppers Untersuchung plötzlich das Stethoskop ab und jubelt außer sich vor Freude: Er hat zwei Herzen! So ein Glücksfall! Davon habe ich nur während des Studiums gehört. Nie hat es so einen Fall in Europa gegeben! Und ausgerechnet ich entdecke dieses seltene Doppelherz. Vielleicht wird es nach mir benannt? Das Müller-Maringsche Doppelherz. Tut mir leid, Flora, aber dein Pferd muss sofort in die Tierärztliche Hochschule. Im Dienst der Wissenschaft.

Papa beißt von seinem Schinkenbrötchen ab.

»Man muss nur ›Pferdekauf‹ googeln, dann bekommt man hundertfünfundzwanzigtausend Ergebnisse.«

Das Internet ist die Pest, wenn man einen Vater hat, der wie meiner gestrickt ist. Angestachelt durch seine ewigen Vergleiche und Tests im Netz geht in unserer Familie nichts mehr normal ab.

»Ankaufsuntersuchung! So ein Quatsch! Das Geld kannst du sparen, Papa. Pepper ist gesund, sonst könnte Herr Habicht ihn wohl kaum als Schulpferd einsetzen.«

Papa wirft einen Blick auf die Uhr.

»Du meinst, der Wallach scheint gesund zu sein. Wer weiß, was er ausbrütet? Nein, eine Tierarztuntersuchung muss sein. Ich kaufe auch kein gebrauchtes Auto ohne Werkstattcheck. Weißt du übrigens, dass man bei Pferden zur Ankaufsuntersuchung auch TÜV sagt? Wie bei Autos?«

Natürlich weiß ich das, Papa, aber deine Vergleiche machen mich fertig. Kapierst du nicht, dass ein Pferd ein Freund fürs Leben ist und kein blödes Auto?

Papa wischt sich die Finger an der Serviette ab und beugt sich über den Tisch zu mir herüber.

»Und wenn dein Traumpferd eine versteckte Krankheit hat? Dann zahlen wir ewig nur Tierarztkosten und du kannst den Wallach vielleicht gar nicht reiten.«

Nie sagt er Pepper. Immer nur Wallach oder Pferd oder dein Tier. Das macht er bewusst. Wenn er Pepper sagte, würde Papa damit zugeben, dass mein Süßer zur Familie gehört und dieselben Rechte hat wie jeder von uns.

ICH WILL KEINE ANKAUFSUNTERSUCHUNG!

»Ist mir total egal, was Pepper hat, Papa. Damit würde ich mich abfinden! Ehrenwort.«

Papa lacht auf. Diese Art von Lachen hasse ich. Übersetzt heißt es: Komm du erst mal in mein Alter, dann weißt du, dass dein Vater alles zu deinem Besten regelt.

Wie eine überflüssige Futtermilbe komme ich mir vor, wenn Papa dieses Lachen einsetzt. Mein Vater ist ein Unmensch, wie er da vor mit sitzt und den Kopf schüttelt.

»Das Pferd wird auf Herz und Nieren untersucht. Hat Herr Habicht selbst vorgeschlagen. Schon damit es später nicht heißt, er hat dir ein krankes Pferd angedreht.«

Ich schieße hoch.

»Wann soll Herr Habicht das gesagt haben? Das wüsste ich aber.«

»Pass auf deinen Ton auf, Flora! Schon mal was von Dankbarkeit gehört? Es gibt nicht viele Eltern, die ihren Töchtern ein Pferd schenken.«

»Stimmt«, gebe ich kleinlaut zu und sacke auf meinen Stuhl zurück. »Ich hatte gerade eine Panikattacke, dass ich Pepper doch nicht kriege.«

Versöhnlich wuschelt mir mein Vater durchs Haar.

»Wird schon glattgehen, Flöhchen.«

Da schimmert wieder mein süßer kleiner Papa durch.

»Gestern Abend habe ich noch mit dem Reitstall telefoniert«, sagt er und greift nach seiner Anzugjacke. »Heute Abend kommt der Tierarzt.«

Am frühen Abend treffen wir uns alle im Stall. Herr Habicht, Tapir, mein Vater und ich. Eigentlich wollte Mama mich begleiten, aber Papa traut ihr nicht. Er ist der Ansicht, sie würde großzügig über kleine Mängel hinwegsehen, damit ich Pepper kriege. Um jeden Preis will er alles mitbekommen, was der Tierarzt sagt. Dafür ist er sogar früher aus dem Büro heimgekehrt.

Die Männer lasse ich draußen auf dem Hof zurück, weil sie vorhin schon wieder mit diesem idiotischen Imponierverhalten anfingen. Ich möchte sie nicht in der Nähe haben, während ich Pepper in der Stallgasse anbinde und putze. Das würde die himmlische Ruhe stören.

Weil ich meinen Vater wegen seines Wichtigtuerauftritts gerade peinlich finde, gebe ich mir einen Minuspunkt auf der »Fiese-Flora-Skala«. In der artfremden Umgebung bewegt sich Papa ja nur deshalb, weil er mir ein Pferd kaufen will. Darum müsste ich mir eigentlich zwei fiese Punkte geben, aber heute bin ich nachsichtig mit mir.

Aus den Boxen dringt zufriedenes Malmen. Ab und zu befördert ein Pferd mit dem Maul ein Heubündel in den Trog und zupft gemächlich Halme daraus hervor. Ein Bild des Friedens. Damit nicht ein Dutzend Reiter zugucken, hat Herr Habicht den Tierarzttermin vor die Abendreitstunden gelegt.

Dauernd dreht Pepper seinen Kopf zu mir nach hinten, während ich ihn voller Hingabe sauber bürste und leise mit ihm spreche.

»Ahnst du, dass heute ein besonderer Tag ist?«

Peppers weiche Nüstern sind wie ein Luxus-Wellnesswochenende für die Seele. Leise grummelnd beschnuppert er mich, streicht mit seiner Samtnase über meine Arme, mein Gesicht und zupft an meinen Haaren.

Ich bin total glücklich. Zumindest, solange ich nicht an Frau Lanz’ Krankheitsdrohungen denke.

Es scheint Pepper nicht zu irritieren, dass ich unaufhörlich vor mich hin murmele: »Du bist gesund, du bist gesund, du bist gesund.«

Mit der Fußspitze ziehe ich den Wassereimer näher und gehe neben Peppers Beinen in die Hocke. Sorgfältig wasche ich jeden Huf und begutachte das Horn noch kritischer als sonst.

»Manche Hufkrankheit sieht man vorher nicht, erst der Tierarzt entdeckt sie«, hat Frau Lanz mir gestern genüsslich mitgeteilt.

Mit der Hand streiche ich über die gleichmäßige Glasurschicht der Hufe. Glatt und gut fühlt sie sich an. Keine Hornspalten, keine Risse.

»Und Flecken sind auch nicht drin«, gebe ich zufrieden nach oben zu Pepper durch, der mich neugierig beäugt. Er muss es zwar nicht wissen, aber ich teile es ihm trotzdem mit.

»Rote oder dunkle Flecken sind nämlich ein schlechtes Zeichen, Pepper.«

Dahinter verbergen sich Einblutungen, hat Herr Habicht uns eingeschärft. Schlimm, wenn hinter dem Bluterguss eine Quetschung im Huf steckt oder gar eine schwere Krankheit wie Hufrehe.

Als ich den rechten Hinterhuf anhebe, entdecke ich am Tragrand eine winzige ausgebrochene Kante, die gestern noch nicht da war. Was so zwergenhaft klein ist, gilt nicht.

Ohne noch einmal hinzusehen, setze ich Peppers Fuß ab. Aber mein Kopf brütet weiter über dieses winzige Loch nach. Was, wenn dort bereits Keime eingedrungen sind? Fiese Monsterbakterien, die meinen Schatz von innen vergiften?

Ich zwinge mich zur Ruhe. An Peppers Hufen kann ich nichts Krankes entdecken und trotzdem rebelliert mein Magen. Dieser blöde Spruch »ohne Huf kein Pferd« steht wie ein stures Riesenross in meiner Fantasie herum und lässt wenig Platz für positive Gedanken.

Danke, Frau Lanz. Sehr freundlich, dass Sie mich mit Ihren Horrorstorys verrückt machen.

»Der Tierarzt fährt vor«, ruft Tapir auf einmal durch die Stallgasse und verschwindet gleich darauf wieder nach draußen.

Auf der Stelle beschleunigt sich mein Herzschlag.

»Nur noch diese kleine Untersuchung, dann gehören wir zusammen«, wispere ich Pepper zu, als ich ihn nach draußen führe. »Für immer und ewig.«

In der Tür zum Hof stockt mir der Atem. Am Paddock lungern die Durchgeknallten mit den Zwillingen herum. Über den Mädels thront Mellys Mutter! Wie eine große Glucke hockt Frau Dr. Lanz auf dem Zaunbalken und schart ihre Küken unter sich.

Das hat mir gerade noch gefehlt!

Unsere Chefpsychologin möchte wohl unverzüglich losjubeln, wenn Pepper nicht durch den TÜV kommt. Wie kann man so gemein sein!

Ich verabscheue die Lanz zutiefst dafür, dass sie ihre Sensationsgier nicht im Griff hat. Und dass sie mit ihren blöden Hühnern diesen feierlichen Moment entweiht. Wenn es nach ihr ginge, würde sie aus meiner Ankaufsuntersuchung ein Riesenevent machen. Public Viewing, Liveübertragung auf Großleinwand.

Nur Emily hätte ich hier ertragen, aber die hat den Anstand wegzubleiben. Am liebsten würde ich Frau Lanz rückwärts über den Zaun werfen.

Die zweite Schreckensnachricht braucht einen Moment länger, bis mein überlastetes Gehirn sie verarbeitet. Aus einem fremden roten Wagen steigt ein Unbekannter aus und nähert sich mit einer grauen Arzttasche. Das ist nicht unser vertrauter Tierarzt. Unseren Dr. Müller-Maring mit dem gutmütigen Bernhardinergesicht erkenne ich auf hundert Pferdelängen an seinem rotbraunen Haar, das beim Gehen wie Schlappohren flattert. Das ist auch nicht Müller-Marings Kollege, der ihn ab und zu vertritt – sondern ein Wildfremder.

Aufmerksam hebt Pepper den Kopf und mustert den Mann. Langsam und kritisch gleitet sein Blick über den Fremden. Ein Fluchttier kann es sich nicht leisten, etwas zu übersehen. Was, wenn der Zweibeiner etwas im Schilde führt? Wenn er plötzlich seine Tasche aufreißt, ein Jagdgewehr herausholt und auf ihn zielt?

Ich sehe Pepper genau an, was in seinem Kopf vorgeht. Selber hätte ich auch kein schlechtes Fluchttier abgegeben. Mir stehen ebenfalls sämtliche Haare zu Berge. Wegen des fremden Tierarztes.

Finster suche ich Papas Blick.

Fürchtet er, Müller-Maring würde hinter seinem Rücken mit Herrn Habicht krumme Geschäfte machen?

Denkt Papa vielleicht, Habi steckt unserem Tierarzt heimlich hundert Euro zu, damit er verschweigt, dass Pepper voll mit Cholera, Typhus, Schweinegrippe, Fadenwürmern und Tollwut steckt? Oder das Müller-Maringsche Doppelherz besitzt? Das ist lächerlich und peinlich. Wenn Müller-Maring sagt, ein Pferd ist gesund, dann ist es auch gesund.

Vor Scham erröte ich bis unter die Haarwurzeln.

»Hat mein Vater das so gewollt?«, frage ich Herrn Habicht im Vorbeigehen.

»Ja«, sagt Habi mit unbewegter Miene. »Aber es ist nicht selten bei Ankaufsuntersuchungen, dass ein fremder Tierarzt kommt.«

Mit den Handknöcheln klopft Habi auf Peppers Pferdepass, den er für den Tierarzt bereithält. Sein genervtes Pochen verrät, was er wirklich denkt: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.

Der Spruch stand vorhin auf meinem Teebeutel und trifft auf Papa hundertprozentig zu.

»Bergengrün«, stellt der lange Fremde sich vor und drückt allen die Hand, bevor er mich ansieht. »Du sollst das Pferd haben?«

Stimmlos grunze ich ein bisschen, mehr gibt mein Kehlkopf nicht her.

Tierarzt Bergengrün nickt und stellt seine Tasche ab.

»Dann mal los. Der Bursche guckt ja mit blanken Augen in die Welt.«

Sofort ändere ich meine Meinung über den Unbekannten. Was für ein genialer Tierarzt!

Tja, Papa, Pech gehabt, das ist nicht der Beißer, den du gesucht hast. Dieser Bergengrün sieht sofort, was für ein Schatz Pepper ist.

Durch die Armbeuge wirft der Tierarzt einen Blick auf die lungernden Zuschauer am Paddock, dann fragt er leise: »Gehören die auch zur Familie?«

»Nein, zum Teufel!«, gebe ich sofort zurück. »Ganz im Gegenteil.«

Schmunzelnd zwinkert er mir zu, dann ruft er der Gruppe freundlich, aber bestimmt zu:

»Lasst uns doch bitte allein. Die ärztliche Schweigepflicht gilt nämlich auch für Tierärzte.«

Was für ein sympathischer, intelligenter Mann!

Zögernd verkrümeln sich die fünf. Normalerweise hätte ich eine passende Bemerkung hinterhergebrüllt, etwas, das auf der »Fiese-Flora-Skala« mindestens sieben Punkte gebracht hätte. Aber mein aufgewühltes Innenleben lässt keine Nebengeschichten zu.

Die fünf verschwinden im Stall. Ich verwette einen Silageballen, dass sie nach anderen Spionagemöglichkeiten suchen. Und richtig: Während Dr. Bergengrün ein Klemmbrett mit einem Packen vorgedruckter Protokolle aus seiner Tasche zieht, bemerke ich, wie sich die Holztür im Dachgiebel leise bewegt. Im Sommer befördern wir durch die Luke Heu nach oben.

Durch die Ritzen blitzt Mellys weißes Prinzessinnenjäckchen. Demonstrativ starre ich hoch. Die sollen wissen, dass ich sie gesehen habe. Garantiert hängen alle fünf da oben zwischen den Heuballen und gucken gierig zu. Widerlich.

Obwohl ich es genauso machen würde.

Dr. Bergengrün zückt den Kuli und erkundigt sich nach Impfungen, Krankheiten, Operationen, Medikamenten, Hufbeschlag, Koliken und auffälligem Verhalten.

Sachlich und schnell antwortet Herr Habicht.

Aber dann fragt der Tierarzt doch tatsächlich: »Welche Art Futter geben Sie?«

Was soll die Frage? Will er damit etwa andeuten, Pepper sei nicht gut gefüttert? Bergengrüns Sympathievorschuss schmilzt …

»Herr Habicht füttert nur das Allerbeste«, gehe ich laut dazwischen, bevor Lennart Habicht nur ein Wort erwidern kann. »Ich weiß das, weil ich fast immer bei der Abendfütterung dabei bin.«

Habi ist wirklich oberpingelig. Schimmeliges Stroh hat bei ihm keine Chance. Und das Kraftfutter misst er sorgfältig ab, damit jedes Pferd die richtige Menge frisst. Nicht zu wenig, nicht zu viel.

Dr. Müller-Maring hätte sich nie erlaubt, solche dreisten Fragen zu stellen. Weil er weiß, wie es auf dem Habichthof zugeht. Kampfbereit funkle ich den fremden Tierarzt an. Wie kann er einfach auf unseren Hof spazieren und Herrn Habicht unterstellen: Sie sehen nicht so aus, als ob Sie ein Pferd richtig füttern könnten.

Gut, dieser Bergengrün sagt es nicht so direkt, aber im Kern trifft es die Sache. Empörend.

Verwirrt sieht Papa in die Runde. Er begreift offenkundig nicht den Grund für meine Aufregung.

Ich suche nach Anzeichen, dass Habi genauso ausflippt wie ich. Treten seine Adern an den Schläfen hervor? Lange kann es doch nicht mehr dauern, bis er vor Wut platzt.

Habi merkt, wie ich nach Luft schnappe, und legt mir lächelnd eine Hand auf den Arm.

»Das ist normal, Flo. Er muss das fragen.«

Tapir nickt mir beruhigend zu. »Standard«, sagt er.

Lennart Habicht gibt Auskunft über das Futter.

»Kraftfutter-Pellets, Heu, Heulage, Stroh, bei Bedarf Mineralfutter, Salz, Möhren.«

»Einstreu?«, fragt Dr. Bergengrün.

»Späne und Stroh.«

Ich weiß zwar nicht, was das mit einer Ankaufsuntersuchung zu tun hat, aber da Habi nicht mosert, muss es seine Richtigkeit haben.

Der fremde Tierarzt Bergengrün redet wenig. Ab und zu murmelt er etwas, das wie »o weh« klingt und mich total nervös macht. Dazu kommt, dass er nach diesem unverständlichen Stöhnlaut jedes Mal etwas in seinen Untersuchungsbogen kritzelt. Aus den Augenwinkeln suche ich Habis Miene nach Ärger und stummer Verzweiflung ab. Aber das Gesicht des Chefs unter der schwarzen Baseballkappe wirkt unbeweglich und starr wie eine Hufraspel.

Papa spitzt die Ohren, um mögliche Feinheiten herauszuhören.

Dann fragt Dr. Bergengrün: »Wer will Pepper vortraben? Der Chef? Oder du, Flora?«

Beim Vortraben sieht der Tierarzt, ob alle vier Hufe und Beine belastbar sind. Ob das Pferd z. B. ein Bein schont und lahmt.

Glasklar habe ich meinen Huftraum wieder vor Augen. Nein. Pepper vortraben, das kann ich jetzt nicht. Da muss Herr Habicht ran. Stumm schaue ich ihn an und er nickt.

»Komm, Pepper.«

Mit meinem Braunen am Strick läuft der Chef die lange Einfahrt vor seinem Wohnhaus hinauf und herunter.

Ich starre auf die Pflastersteine. Den langen Weg hat Herr Habicht für ein Schweinegeld anlegen lassen. Damit er eine befestigte Strecke zum Vortraben hat, also zum Checken von Beinschäden.

Zwanghaft ziehe ich mit den Augen Fuge für Fuge zwischen den sechseckigen Steinen nach. Ich darf keine einzige Fuge verpassen beim Hinsehen, sonst entdeckt der Tierarzt etwas bei Pepper. So ein Blödsinn! Was bilde ich mir da nur krampfhaft ein? Trotzdem, ich klammere mich an die Fugen. Nichts anderes geht mir durch den Kopf als diese verdammten Pflastersteine. Mein Gehirn will nichts von Beinschäden wissen. Ich kann gar nicht hinsehen, ob Pepper klar geht.

Als Herr Habicht atemlos mit Pepper am Strick zurückkehrt, höre ich genau, was Dr. Bergengrün murmelt. »O. B.«

Warum redet der Tierarzt keinen Klartext?

Entweder: Pepper lahmt hinten rechts, wo der Tragrand ausgebrochen ist. Oder besser: Ich sehe nichts, die Beine sind gesund.

Warum sagt er nur »o. B.«? Was zum Teufel heißt das? Plötzlich schießt mir die Lösung in den Kopf. O. B. kann nur eins bedeuten: ohne Bein.

Bewusst sagt Dr. Bergengrün nicht: ohne Huf. Um mich zu schonen. Um mich nicht mit der schrecklichen Diagnose zu überfallen.

Ohne Huf kein Pferd.

Ohne Bein auch nicht.

Meine Gedanken überschlagen sich. Kann Pepper nie geritten werden? Natürlich kauft Papa so ein Pferd nicht.

Pech. Durchgefallen beim TÜV, wird er achselzuckend sagen.

Eine Welle des Mitleids für Pepper überflutet mich. Ich gebe ihn nicht mehr her. Wenn er krank ist, schon gar nicht. Was soll denn aus ihm werden? Mit anfälligen Beinen kann Herr Habicht ihn auch nicht länger als Schulpferd einsetzen. Aber auf der Koppel könnte Pepper noch stehen. Jahrelang. Jahrzehnte. Ohne Reiter geht es auch Pferden mit kaputten Beinen oft gut. Das weiß ich genau.

Niemals wird mein Vater das einsehen. Ich kann ihn schon hören: Ich kaufe doch kein Pferd, das nur auf der Weide herumsteht und mein Geld wegfrisst.

Meine Knie zittern. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Wie ein Flächenbrand breitet sich das Zittern in meinem ganzen Körper aus. Bis unter die Schädeldecke. Es würde mich nicht wundern, wenn ich im nächsten Moment tot umfiele.

Einen Ausweg, ich muss einen Ausweg finden, sofort, bevor ich in Schreikrämpfe ausbreche. Wenn ich mir nicht auf der Stelle eine bessere Zukunft für Pepper ausmale, drehe ich durch. Das Beste ist, ich entführe ihn. Bei Nacht und Nebel fliehen wir vom Habichthof. Nur Emily werde ich heimlich informieren.

Schon sehe ich mich auf dem Reitweg, Pepper läuft neben mir am Strick.

Als Erstes werfe ich mein Handy ins Unterholz, damit ich nicht geortet werden kann. Wir flüchten in den Wald, irren zwischen Wiesen umher, bis wir eine leer stehende Weidehütte entdecken, wo wir übernachten. Emily besorgt mir ein fremdes Handy, versorgt mich mit Essen und bringt mir Alpinos Mineralfutter für Pepper.

Mit Hubschraubern und Hundestaffeln suchen sie nach mir: Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Vermisst wird die knapp vierzehnjährige Flora Rohde. Flora Rohde ist einen Meter siebzig groß, hat glatte honigbraune Haare und braune Augen. Sie ist mit ihrem Pferd Pepper unterwegs, einem Braunen, der aufgrund eines schweren Beinschadens vermutlich lahmt.

Heimlich melde ich mich über Handy bei einer Talkshow und erzähle meine traurige Geschichte im Fernsehen, um meine Eltern richtig unter Druck zu setzen. In einer Live-Schalte spreche ich direkt aus dem Wald in zehn Millionen Haushalte. Ich spüre förmlich, wie mir die Zuschauer an den Lippen hängen. Alles berichte ich haarklein. Dass mein geiziger Vater mir meinen geliebten Pepper nicht kaufen wollte und dass ich jetzt lieber Gras und Gänseblümchen von den Wiesen nage, anstatt nach Hause zu gehen.

Weinend sitzen meine Eltern mit Dani in unserem Reihenhaus am Fichtenkamp 6a vor dem Fernseher und machen sich die größten Vorwürfe. Von morgens bis abends verteilen sie eilig bedruckte Flugblätter: Flo komm zurück. Du darfst Pepper behalten. Wir pflügen unseren Garten um und legen eine Pferdekoppel an, damit du immer bei ihm sein kannst.

Natürlich glaube ich ihnen kein Wort. Zwei Wochen geht das vielleicht gut, dann kramt mein Vater garantiert wieder seine Kosten-Nutzen-Rechnung hervor.

Einmal geht Papa auf seiner rastlosen Suche sehr nahe an meinem Unterstand vorüber. Die ganze Zeit hält er ein Schild hoch: VERZEIH MIR!!!

Darüber muss ich weinen, aber ich verharre trotzdem in meinem Versteck. Dani möchte ich am liebsten heimlich eine Botschaft schicken, damit er sich keine Sorgen macht. Aber meine Eltern sollen suchen, bis sie schwarz werden!

Und wenn sie mich finden, verweigere ich die Heimkehr. Ich kette mich an den nächsten Zaunpfosten. Da muss die Feuerwehr schon mit schwerem Katastrophengerät anrücken, um mich freizuschweißen.

Irgendwer legt mir schwer die Hand auf die Schulter. Ich schieße herum. Wer hat mich gefunden?

Hinter mir steht Papa.

Ich hocke nicht angekettet neben einem Zaunpfosten, sondern stehe aufrecht und steif auf dem Habichthof, eingerahmt von Pepper, Papa, Habi, Tapir und Tierarzt Bergengrün.

Erneut tippt Papa mich an und guckt sorgenvoll.

»Was ist los mit dir, Flo? Geht es dir nicht gut? Dr. Bergengrün ist fertig.«

Die Stunde der Wahrheit.

Los, spuckt es schon aus!

Doch keiner redet, alle Blicke ruhen nur erstaunt auf mir. Macht es ihnen Spaß, mich zu quälen? Warum sagt niemand, was Sache ist? Ich weiß es doch sowieso.

»Und das Bein?«, bringe ich schließlich heraus.

»Welches Bein?«, fragt Herr Habicht.

»Welches Bein?«, fragt mein Vater.

»Welches Bein?«, fragt Dr. Bergengrün.

Ich muss ein Schluchzen unterdrücken. Ob ich will oder nicht, mir kommen die Tränen.

»O. B. haben Sie gesagt.«

»Stimmt.«

Eine Sekunde noch und ich heule los, vor allen Männern. Und vor den Durchgeknallten auf dem Dachboden, die durch die Ritzen spähen und mir das babyhafte Heulen noch in fünfzig Jahren vorhalten werden.

Meine Stimme zittert, als ich rede.

»Ohne Bein kein Pferd.«

Verständnislos starren die vier Männer mich an. Pepper guckt verwirrt in die Runde.

»O. B. heißt doch ›ohne Bein‹«, flüstere ich.

»O. B. heißt ›ohne Befund‹, stellt Dr. Bergengrün amüsiert richtig. »Das sagt man, wenn man keine krankhafte Veränderung findet.«

Die Auskunft verschlägt mir die Sprache. Weil ich stumm bleibe, spricht Dr. Bergengrün weiter.

»Präzise heißt es: o. b. B. Ohne besonderen Befund.«

Es dauert einen Moment, bis meine Stimmbänder wieder etwas hergeben.

»Echt?«

»Echt!«

Er hält mir das Protokoll unter die Nase.

»Hier, sieh selbst. Wenn alles in Ordnung ist, hake ich alle diese Kästchen mit dem aufgedruckten Vermerk o. b. B. ab.«

Tatsächlich. Die Liste wimmelt von abgehakten Kästchen. Wie ein himmlisches Muster ziehen sie sich über die Seite. Häkchen, Häkchen, Häkchen.

Auf die anderen muss ich ziemlich lustig wirken, so durcheinander, wie ich bin, denn auf einmal lacht Habi laut los und Tapir lacht auch.

Nur ich lache nicht. Mein Sinn für Humor ist vorübergehend außer Betrieb.

»Was ist daran witzig?«, frage ich mit dünner Stimme.

Klar fällt mir ein Stein vom Herzen. Trotzdem, die Sache mit diesem o. B. hätte man mir vorher erklären müssen. Was, wenn mich vor Schreck der Schlag getroffen hätte? Dann hätten wir ein gesundes Pferd und eine tote Besitzerin. Auch unlustig.

»Sorry, Flo, aber das war für uns gerade ziemlich komisch.« Tapir stößt mir entschuldigend seinen Ellenbogen in die Seite. »Komm schon, gib zu, das war lustig.«

»Und warum lache ich nicht?«

Aber dann falle ich meinem Pepper um den Hals und lache doch.

Weil ich so glücklich bin, dass er gesund ist und dass Papa nicht mehr Nein sagen kann und dass ich mich nicht mitten im März an einen Zaunpfahl festketten muss.