10.

Eigentlich bin ich zwei Floras.

Das ist mein erster Gedanke, als ich am nächsten Morgen aufwache und mit schweren Gliedern aus dem Bett rolle. Eine Flora, die sich wie verrückt über ihr eigenes Pferd freut, und eine, die nicht weiß, wie sie das alles schaffen soll.

Natürlich darf ich das niemandem sagen, schon gar nicht im Stall.

Mit der flachen Hand schlage ich den scheppernden uralten Wecker aus, der auf meinem Nachttisch tanzt.

Unsere liebe Frau Dr. Lanz braucht so eine Bemerkung nur aufzuschnappen, schon krallt sie mich und steckt mich in die Anstalt. Ihr Triumphgeheul tönt mir lauter in den Ohren als mein Wecker: Einweisung! Das Mädchen hält sich für zwei Floras! Gespaltene Persönlichkeit! Pepper muss zurück in den Schulbetrieb!

Beim Zähneputzen gehe ich alle meine Bekannten durch. Ob sich noch jemand für zwei hält? Zuerst fällt mir keiner ein, aber dann endlich – TAPIR! Der ist morgens im Stall Tapir und nachmittags im Büro Jonas Nansen. Deutlicher geht es nicht. Also kann ich genauso gut zwei sein. Ohne gleich in die Klapse gesteckt zu werden.

Allerdings bezweifle ich, dass ich jemals wieder normal auf meinem Schulstuhl sitzen und wie früher etwas vom Unterricht mitbekommen werde. Denn statt zuzuhören, grüble ich in der Englischstunde über meine Zeitplanung nach.

Entsprechend weggetreten muss mein Gesicht auf Frau Fischer gewirkt haben, denn nach dem Schlussgong schleift sie mich in eine Flurecke und fragt: »Sag mal Flora, hast du Probleme?«

»Nein, nein«, entgegne ich und schaue so ausdruckslos wie ein Tafelschwamm.

Dabei hätte ich gern etwas anderes geantwortet:

Probleme? Ich habe keine Probleme, Frau Fischer, sondern ein Pferd. Ich buchstabiere: P-f-e-r-d. Das, Frau Fischer, ist ein ausdauerndes Lauftier der Steppe. Verstehen Sie? Seine Beine sind nicht dafür gedacht, 23 Stunden am Tag in einer Box zu stehen. Sonst wird ein P-f-e-r-d nämlich krank, Frau Fischer. Doch statt abends mit meinem Pepper spazieren zu gehen, sitze ich bis Mitternacht über Ihren bescheuerten Chemie-Englischvokabeln. Mit einer Stirnlampe zum Lesen, damit meine Eltern nichts merken. Aber Probleme habe ich nicht, Frau Fischer. Noch nicht, muss ich sagen, denn ich fürchte, ich bekomme welche, weil der absolute Lieblingssatz meines Reitlehrers lautet: Hast du keine Probleme, kauf dir ein Pferd.

Aber diese Feinheiten über Pferde kann man jemandem wie Frau Fischer nicht vermitteln, deren einziges Haustier eine Computermaus ist.

Auf dem Weg von der Schule nach Hause trete ich wie verrückt in die Fahrradpedale. Obwohl ich mich so beeile, kommt erst um kurz vor drei unser kleines Reihenhaus in Sicht. Um vier beginnt der Unterricht für Reitschüler. Selbst wenn ich mich sekundenschnell auf den Habichthof beamen könnte – vor den Reitstunden schaffe ich es nicht, Pepper zu reiten.

Also muss ich schon wieder spät in den Stall. Wie gestern.

Frustriert werfe ich mein Rad in den Vorgarten und schlage auf die Klingel.

Heute darf ich also wieder bis Mitternacht pauken. Mit Stirnlampe.

»Sieht so eine stolze Pferdebesitzerin aus?«, fragt Mama verwundert, als sie die Tür öffnet.

Ich dränge mich an ihr vorbei in den Flur.

»Hä? Wie sehe ich denn aus?«

»Gereizt. Mit einem Anflug von unglücklich.«

Grunzend knalle ich meinen Schulrucksack auf die Treppe nach oben.

»Ach, die Fischer mit ihren blöden englischen Chemievokabeln nervt. Das war’s schon.«

»Und du bist wirklich nicht überfordert mit allem?«

Forschend sucht Mama in meinem Gesicht nach einer eindeutigen Antwort. Sämtliche Mutterantennen fährt sie aus. Ein falsches Wort von mir und es heißt: Das Pferd ist schuld. Aber in meinem Pokerface wird sie nichts finden.

»Kann ich mein Essen mit raufnehmen?«, erkundige ich mich ganz zahm.

»Das gefällt mir nicht, dass jetzt alles so zwischen Tür und Angel abläuft«, sagt Mama zögernd. Aber sie macht den Weg in die Küche frei.

»Mmmh. Super, Mama. Crêpes mit Marmelade.«

Ich rolle mir zwei dünne Pfannkuchen zusammen, packe sie auf einen Teller und balanciere ihn aus der Küche.

»Muss bloß erst den richtigen Rhythmus finden«, beruhige ich meine Mutter und drücke ihr einen Kuss auf die Wange. Im Vorbeigehen hänge ich meinen Rucksack über die Schulter und sause die Stufen zu meinem Zimmer hinauf. »Entspann dich, Mama.«

Bevor ich mich mit den Crêpes aufs Bett werfe, hänge ich das unübersehbar große Schild »Störungen verboten!« an die Klinke. Mein Gedankenfluss verträgt jetzt keine Unterbrechungen.

Ich schiebe den Teller auf den Tisch, direkt unter das Regal mit meinen Pferdebüchern. Grimmig betrachte ich die ansehnliche Sammlung.

In meinen Kinderbüchern sah das Happy End immer anders aus. Das Lieblingspferd wurde gekauft und alle lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage. Zeitmangel? Das Wort existierte überhaupt nicht. Doch nun dämmert mir: Das wahre Reiterleben enthält auch einen Haufen komplizierter Probleme.

Jedenfalls ist mir das Happy End in meinen Büchern völlig falsch geschildert worden.

Was ich brauche, ist richtig guter Rat: Wie kann ich dreißig Stunden in einen Vierundzwanzigstundentag stopfen? Mit der Lösung wäre sogar unser oberschlauer Dr. Winkelmann überfordert. Bei solchen verzwickten Fragen kann nur Tapir helfen. Und ein großes Stück Crêpe, um meine Magennerven zu versöhnen.

Ich beiße ein Stück ab und schließe die Augen wie Pepper, wenn er eine Banane verdrückt.

Mein Handy meldet: 15.09 Uhr. Da müsste Tapir in seinem Büro sitzen. Hoffentlich guckt er nicht die ganze Zeit in das öde Bürgerliche Gesetzbuch, sondern auch mal auf sein Handy.

Ich lecke Erdbeermarmelade vom Daumen und simse eine kurze Mitteilung.

Hi Tapir, geheime Geheimfrage: Was hältst du von einer Reitbeteiligung? Ich meine grundsätzlich? Flo. Viiiel Schule, wenig Zeit.

Während ich den zweiten Pfannkuchen reinschiebe, vibriert mein Handy die Antwort ins Haus. Unser Supertapir! Stallfragen sind für ihn wichtiger als jeder Rechtsanwaltsfall.

Grundsätzlich kommt man selten ohne Reitbeteiligung aus. Hast du jemanden im Kopf? Tapir

Blitzschnell simse ich zurück:

Nö. I-wie nicht direkt. Vllt probiere ich einfach jemanden aus. Ich kann ja immer wechseln, wenn nix klappt. Flo

Jetzt dauert die Antwort einen Moment. Dafür kommt eine längere Predigt von Tapir.

Reitbeteiligung wechseln ist nicht problemlos. Überleg dir sehr gut, wen du nimmst. Wenn es schiefgeht mit der RB und ihr kriegt euch in die Haare, gibt es ständig gereizte Stimmung in der Stallgasse. Ihr seht euch ja jeden Tag. Tapir.

Seine Antwort passt mir überhaupt nicht. Klingt fast wie Mamas Lieblingsteebeutelspruch: »Was du beginnst, beginne es klug und bedenke das Ende«.

Der Satz stammt von einem berühmten Griechen namens Herodot und ist zweitausendfünfhundert Jahre alt, sagt Mama.

Ob dieser Herodot auch eine Reitbeteiligung hatte?

Tapir hätte mal lieber schreiben sollen: Nimm die oder nimm die.

Was ich brauche, sind Namen, Vorschläge, konkrete Tipps, keine altgriechischen Weisheiten.

Ein leises Gefühl von Panik sitzt mir im Nacken, als ich um halb fünf zum Habichthof fahre. Gerade mal die Hälfte meiner Hausaufgaben sind abgehakt. Wenn ich im Dunkeln zurückkomme, erwarten mich noch meine geliebten Englischvokabeln und vier langweilige Seiten aus dem Geschichtsbuch.

Hoffentlich hat dein Akku noch genug Saft, Stirnlampe!

Weg mit dem Gedankenmüll. Pepper wartet und wenn er mich sieht, darf kein einziger Stresskrümel in meinem Gehirn festsitzen.

Kaum setze ich die erste Stiefelspitze in den Stall, verfliegen meine Bauchschmerzen. Wie weggezaubert. Man müsste Pferde auf Krankenschein verordnen.

Als ich um die Ecke biege, steht mein schönes Pferd mit hoch erhobenem Kopf in der Box. Aufmerksam verfolgt Pepper jede meiner Bewegungen, und als ich näher komme, macht er drei Schritte zur Boxentür, als könnte er genau ausrechnen, wann ich dort eintreffe – und es stimmt haargenau.

Freudig brummelt er mir seine Begrüßung entgegen, als ich die Tür öffne.

Für diesen Glücksmoment lohnt sich jeder Schulstress!

Ich nehme Peppers Kopf in die Hände und reibe seine Backen. Mit halb geschlossenen Augen bewegt er den Kopf.

»Du alter Genießer«, flüstere ich ihm zu und ziehe vorsichtig an einem Ohr. »Du willst aber auch nicht in der kleinsten Ecke kuschelfrei bleiben.«

Pepper grunzt ein bisschen und genießt das Kraulen ausgiebig.

»Komm, wir gehen spazieren.«

Eilig verlässt er die Box, als ich den Führstrick schwenke. Die Geste kennt Pepper. Es geht nach draußen! Ohne zu zögern, schlägt er nach Verlassen der Box den Weg nach rechts ein – zum Hof, zum Reitweg, ins Grüne. Wie gut er mich kennt. Pepper weiß genau: Ohne ihn zu putzen, gehe ich nie in Richtung Halle zum Reiten.

Mit großen Schritten zieht er mich in Richtung Gelände, wo am Zaun zwischen Sandweg und Weide ein schmaler Grasrand wächst. Kaum sind wir am ersten Hälmchen angelangt, senkt Pepper den Kopf und zupft verzückt das junge Gras ab.

Vom Hof kommt jemand mit wehenden blonden Haaren auf mich zu. Ich kneife die Augen zusammen. Janne, mit der ich früher in einer Gruppe geritten habe. Früher, als ich noch kein Privatreiter war. Wie das klingt.

Vielleicht will Janne ja gar nicht zu mir? Wäre mir lieber. Ich möchte allein sein mit Pepper. Aber Janne schlendert eindeutig in meine Richtung und ich kann sie schlecht ignorieren, als sie vor mir stehen bleibt und eine Zeit lang durch die Lücke ihrer Vorderzähne pfeift. Diesen besonderen hohen Ton kriegt nur sie hin.

»Schönes Pferd«, sagt Janne schließlich.

»Hm. Kennst ihn ja.«

Pepper lässt sich nicht stören. Ohne Pause zupft er an den zarten Hälmchen.

Janne streckt die Hand aus und legt sie auf Peppers Widerrist. Stirnrunzelnd sehe ich mir diesen Übergriff an. Am liebsten würde ich sagen: Nimm die Finger von meinem Privatpferd.

Aber wie hört sich das an? Sofort würde es im Stall heißen: Seit Pepper Privatpferd ist, denkt Flo, sie ist was Besseres. Ich beiße mir auf die Zunge und dulde Jannes Hand auf meinem Pferd.

»Wollte nur sagen«, sagt sie und sieht sich dabei um, ob jemand zuhört, »falls du mal jemand zum Reiten für Pepper brauchst …«

Aha, daher weht der Wind. Janne denkt an eine Reitbeteiligung.

»Ist gut.«

Ich nicke und lasse offen, was ich mit Jannes Information anfangen will. Janne ist okay, geht in die 7c, reitet ganz anständig. Andererseits: ein Mädchen aus der Siebten, die jetzt schon weiß, dass sie später den Mathe-Leistungskurs nimmt???

Janne dreht sich um und macht sich unschlüssig auf den Weg zurück zum Hof. Mit beiden Händen ordnet sie ihr Haar und pfeift wieder durch die Zahnlücke, als wäre das Leben unkompliziert und schön. Dabei merke ich ganz genau, dass sie gerade alles andere als glücklich ist. Plötzlich komme ich mir mies vor. Hätte jemand anders mir Pepper weggekauft, wäre ich auch verrückt auf eine Reitbeteiligung gewesen. Hätte ich nicht freundlicher sein können?

»Danke«, brülle ich ihr nach, um doch noch etwas Nettes zu sagen. Zu spät. Schon fällt die Stalltür hinter ihr zu.

Schuldbewusst gebe ich mir zwei miese Punkte auf meiner »Fiese-Flora-Skala«.

Nachdem Janne verschwunden ist, führe ich Pepper ein Stück weiter zum Wald, wo das Gras höher steht und dichter wächst.

Als wir endlich den besten Platz gefunden haben, tauchen auf dem Waldweg kaugummikauend die Zwillinge Tessy und Kriss auf. Eine von beiden – wer, erkenne ich natürlich nicht – hat Avatar an der Leine, ihren rauhaarigen Jack-Russell-Terrier. Entgegen ihrer Gewohnheit tragen die Zwillinge blaue Reithosen und Westen. Sonst erscheinen sie gern in Girlie-Klamotten wie Melly.

Ihr Terrier reißt an der Leine. Sicher wittert Avatar ein Kaninchen, er zerrt und jault in einem fort.

»Tessy«, sagt das Mädchen am Ende der Hundeleine und danach: »Nimmst du eine Reitbeteiligung auf Pepper?«

Die Zwillinge haben sich angewöhnt, zur Begrüßung erst mal ihren eigenen Vornamen zu nennen, damit wir nicht irre werden. Danach ist es ein bisschen wie beim Hütchenspielen: Man muss nur im Auge behalten, wer sich wohin bewegt.

»Äh«, sage ich lahm.

Auf Fragen nach einer Reitbeteiligung bin ich schlecht vorbereitet. Ich dachte, ich könnte mir in aller Ruhe selber eine aussuchen. Aber dass die Reiter zuerst mich nach einer RB fragen, überrumpelt mich.

Warum hat Emily mich nicht gewarnt? Die muss das doch auch erlebt haben, damals, als sie Alpino bekam.

Tapirs SMS schwirrt mir durch den Kopf: »Überleg dir sehr gut, wen du nimmst.«

Die Zwillinge sind nicht schlecht. Eine von ihnen müsste immer Zeit haben. Verträglich sind Kriss und Tessy auch. Nur weiß ich manchmal nicht, ob sie auf meiner Seite sind oder auf der von Melly und Gloria. Und ob sie sich von deren bescheuerten Ideen anstecken lassen.

Kriss verzieht das Gesicht.

»Was denn nun? Wir sind doch wohl der Knaller als Zwillinge.« Sie grinst. »Wo findest du eine Reitbeteiligung, die gleich zweimal einspringen kann?«

»Stimmt, aber ich weiß noch nicht«, sage ich wahrheitsgemäß. »Eigentlich möchte ich Pepper ziemlich gern erst mal allein haben, wo er so lange Schulpferd war. Aber ob ich das schaffe mit der Schule, keine Ahnung.«

Kriss schiebt ihren Kaugummi von einer Backe in die andere und nickt seufzend. Avatar zieht Tessy zu mir herüber, sie fliegt fast hin und die Leine wickelt sich um Peppers Beine.

»Vorsicht, dein Hund!«

Zum Glück reagiert Pepper völlig entspannt, zieht das Bein aus der Schlinge, und bevor er weiterfrisst, beschnuppert er im Vorbeigehen Avatars Ohren. Der Jack Russell fiept und legt sich neben Pepper ins kurze Gras. War er vorhin gar nicht hinter Kaninchen her? Wollte er zu Pepper? Zwischen den beiden stimmt die Chemie, das steht fest. War mir bisher nicht aufgefallen.

Tessy beeilt sich, die Leine zu lösen und den Karabinerhaken neu einzuklinken.

Ist die Hundeliebe ein Zeichen?, geht mir durch den Kopf. Kann ich die Zwillinge als RB ins Auge fassen?

Ich nehme es so.

»Vielleicht in den Ferien«, schlage ich vor. »Kann sein, dass meine Eltern mich zwingen, mit ihnen in Urlaub zu fahren. Dann brauche ich definitiv jemand.«

Tessy nickt zufrieden und wendet sich zum Gehen. »Geritzt. Wehe, du überlegst es dir anders.«

Kriss schließt sich ihr an. »Man sieht sich. Komm, Avatar.«

Der Terrier sträubt sich und lässt sich stocksteif nachziehen wie ein Holzspielzeug auf Rädern. Ich glaube, er wäre gern noch länger geblieben. Pepper brummelt ihm Grüße nach.

Schon halb sechs. Zeit zurückzugehen. Das kann ich ganz allein entscheiden!

An dieses prickelnde Gefühl der Macht muss ich mich erst gewöhnen. Eben gehörte Pepper noch allen, jetzt nur noch mir. MIR, MIR, MIR.

Gehe ich nicht erheblich aufrechter als sonst den Weg zum Stall hinauf? Womöglich sogar … auch hochmütiger?

»Hochmut kommt vor dem Fall«, lautet unser aktueller Teebeutelspruch.

Diese Weisheit steht schon in der Bibel, sagt Mama, und ich soll um jeden Preis vermeiden, wie eine arrogante Gans durch den Stall zu stolzieren. Denn, sagt Mama, man kann schnell stolpern und fallen. Und wenn man am Boden liegt, trampeln alle auf einem herum. Das meint sie als Bild. Meine Mutter glaubt nicht wirklich, dass Tapir und Habi mir in die Rippen treten – nicht mal Melly oder Gloria –, sondern dass man einen Pechvogel verspottet, falls er vorher hochmütig war.

Schon klar, Mama.

Allerdings weiß ich nicht, worüber ich stolpern und fallen sollte.

Pepper merkt sofort, dass ich mich bei dem Wort »stolpern« verspanne, denn er verzögert den Schritt und sieht mich von der Seite an.

Irgendwas nicht in Ordnung?, fragt sein prüfender Blick.

»Doch, alles okay.« Beruhigend tätschele ich seinen Hals. »Nur dass ich über Nacht von Level drei auf Level sechs hochgestiegen bin. Und keinen Schimmer habe, was ich dazwischen verpasst habe. Weißt du, was ich meine, Pepper?«

Scheint so, denn er trottet wieder mit entspannt hängender Unterlippe neben mir her.

Vor dem leeren Paddock binde ich ihn an den Anbindepfosten und gehe zum Stall, um Putzzeug zu holen.

Mit gespitzten Ohren sieht Pepper mir nach.

In der Sattelkammer leuchtet mir ein gelber Haftzettel von Peppers Sattel entgegen. Nachricht vom Chef. Das weiß ich, ohne näher hinzugucken. Gelbe Notizzettel sind das Höchste, was Lennart Habicht der modernen Kommunikation abgewinnen kann. Computer, Internet, Netzwerke, damit steht unser Chef auf Kriegsfuß. Habi kriegt schon zu viel, wenn Reitermütter ihm SMS schicken.

Er wünscht sich die Zeit der Rauchzeichen zurück, glaube ich. Und träumt von Lagerfeuern, an denen er mit seinem kleinen Sohn Johnny sitzt und aus blauen Emailletassen trinkt. Wie in Cowboyfilmen.

Ich zupfe den gelben Zettel ab. Was will der Chef mir mitteilen?

Hallo Flora. Leg dir einen Stallkalender für Pepper an, damit du den Überblick behältst. Trag folgende Termine ein: fällige Impfungen, Wurmkuren und Schmied. Eisen braucht Pepper alle 6–8 Wochen. Letzter Beschlag war am 2. März. Süß von ihm.

Ich stecke den Zettel ein und durchquere mit meinem Putzkasten die Stallgasse Richtung Hof.

Gerade fange ich an, Pepper zu putzen, da schießt Emily um die Ecke.

»Reitest du um sechs?«, hechelt sie.

»Na klar, was denkst du denn?«

»Cool. Dann bin ich nicht allein mit den Durchgeknallten in der Halle.« Schon rennt Emily zur Stalltür. »Warte, ich hole Alpi zum Putzen nach draußen.«

Alpino geht mit ausgestrecktem Hals auf Pepper zu. Mit ihren Nasen nehmen sie Kontakt auf und reiben ihre Wangen aneinander.

Sie mögen sich. Zum Glück, denn im Sommer stehen sie künftig mit ein paar anderen Privatpferden auf einer eigenen Weide.

»Melly und Gloria dürfen nach dem Unterricht oft noch ein paar Minuten länger reiten, weil sie ja schon ein bisschen weiter sind als der Rest ihrer Abteilung, und dann machen sie immer blöde Bemerkungen, wenn Herr Habicht nicht zuhört.«

»Was sagen sie denn?«

Emi zählt auf: »Ein Haflinger ist doch das Allerletzte, da schleift man ja mit den Füßen über die Erde, wie kann man nur so ein Bauerntier reiten …«

»Die Mistbienen!«

»Wenn du dabei bist, trauen sie sich nicht.«

Ich seufze. Das grenzt schon an Mobbing und das kann ich nicht dulden. Ich bin und bleibe Emilys Beschützerin. Für solche Beschützerdienste müsste ich eigentlich Schutzgeld von ihr kassieren. Weil ich das nicht mache, gebe ich mir acht Punkte auf meiner »Feine-Flora-Skala«. Wenn ich tot bin, kriege ich hoffentlich eine fette Belohnung im Himmel.

Als Emily und ich unsere Pferde in die Halle führen, marschiert Habis Schulpferdeabteilung gerade auf. Beim Aufsitzen sehe ich Melly und Gloria auf Flemming und Collin auf den oberen Zirkel gehen, während die restlichen Reiter die Halle verlassen. Kaum ist Habi verschwunden, zieht Gloria ihr Handy hervor. Ihr Daumen fliegt über die Tasten, obwohl er samt Handy auf dem Zügel liegt. Das muss doch Collin im Maul stören!

Emi wirft mir einen furchtsamen Blick zu, als die Durchgeknallten an uns vorbeireiten, aber die sagen kein Wort zu ihr.

Klar, weil ich da bin!

Wahrscheinlich verleiht mir der Bundespräsident demnächst das Bundesverdienstkreuz für meinen Einsatz für Emily.

Gerade bin ich eine Runde geritten, als Gloria plötzlich antrabt. In meine Richtung! Als sie mit Schulpferd Collin neben mir ankommt, pariert sie mit dem Handy am Zügel durch zum Schritt.

Hä? Gloria reitet freiwillig in meine Nähe? Habe ich Halluzinationen? Oder hat sie ihre eigene Software nicht im Griff? Neben mir reiten, das hätte Gloria früher nur gemacht, wenn der restliche Hallenboden mit Stacheldraht bedeckt gewesen wäre.

Schon legt Gloria los. Kaum haben die ersten Worte ihre schwarz umrandeten Lippen verlassen, weiß ich, was Sache ist. Auch sie peilt eine Reitbeteiligung an.

»Unsere schönen Braunen sehen hammer nebeneinander aus.«

Unsere Braunen?

Sie meint wohl: Dein Brauner und das Schulpferd Collin … Was erzählt Gloria plötzlich von schönen Pferden mit braunem Fell? Sonst schwärmt sie doch ständig von Rappen. Von Flemming beispielsweise, der viel besser zu Glorias schwarzem März-Outfit passen würde. Den Brandenburger Wallach reitet heute Melly.

Dass ich schweige, stört Gloria nicht. Unser Pseudogrufti plappert munter weiter.

»Sollen wir nicht am nächsten Reiterfest beim Paarreiten mitmachen? Du Pepper, ich Collin?«

Gloria bläst sich auf wie ein Auerhahn auf Brautschau. Und ich bin die Braut.

Pepper bewegt die Ohren nach hinten und verspannt sich. Er mag es nicht, wenn andere Pferde so dicht aufreiten, dass sie uns bequem in den Sattel beißen könnten. Ich drehe mich um.

Flemming ist uns mit Melly auf den Fersen. Vor Ärger stöhnt sie auf, weil sie Glorias Geschleime mit anhören muss.

Als Melly meinen Blick auffängt, verzieht sie das Gesicht zu einem gezwungenen Lächeln, das ihr voll misslingt. Sie gibt sich allergrößte Mühe, ihre nette Seite hervorzukehren. Wie vor ihr bereits Gloria, Janne und die Zwillinge.

Letzte Woche noch hätte ich bei diesem Grinsen einen passenden Spruch losgelassen, heute stimmt mich meine neue Königsposition nachsichtig. Mit Peppers Pferdepass in der Tasche muss ich keine Giftpfeile auf Melly abschießen.

In meiner milden Majestätenlaune gefalle ich mir spitzenmäßig.

Melly treibt Flemming voran und drängt ihr Pferd zwischen Pepper und Collin.

»Geht’s noch!« Vom Eingang donnert Habis Stimme in die Halle. »Bleibt mit den Pferden auseinander. Ich will hier keine Schlägerei.«

Erschrocken nimmt Melly die Zügel an und holt Flemming zurück.

»Hoffentlich ist das Handy bald verschwunden«, bellt Lennart Habicht weiter.

Bevor er sich noch mehr aufregen kann, wird er von hinten angesprochen. Eine streitlustige Frauenstimme. Leider sieht man von meiner Position aus nicht, wer unseren Chef mit Beschlag belegt, obwohl ich mich so weit zur Seite beuge, dass ich fast aus Peppers Sattel rutsche. Doch als es innerhalb von wenigen Sekunden vor der Tür laut wird, ist mir alles klar.

»Meine Tochter hat Pepper bisher gut geritten. Ich finde, Sie könnten dafür sorgen, dass sie die Reitbeteiligung an ihm bekommt.«

Natürlich. Frau Dr. Lanz in ihrer Paraderolle als rächende Mutter.

Vor Entsetzen fällt Melly fast vom Pferd. Dunkelrot vor Scham linst sie zu mir herüber. Es kommt nicht oft vor, dass ich Melly bemitleide. Aber jetzt. Andererseits ist sie selbst schuld. Warum spannt sie auch ihre komische Mutter immer zu ihrem Vorteil ein? Dann muss die Frau ja irgendwann überzeugt sein, Melly und sie seien ein unschlagbares Team.

Was Herr Habicht und Frau Dr. Lanz sich weiter an den Kopf werfen, hören wir nicht, weil beide mit gedämpfter Lautstärke weiterreden.

Auf einmal schießt Mellys Mutter an die Bande und reißt die Holztür auf. Mit wehender Jacke stürmt sie durch die Späne auf uns zu.

Alarmiert bleiben unsere Pferde stehen. Ihre Ohren spielen. Peppers Rücken spannt sich unter meiner Reithose an. Sofort beginne ich zu summen, Tapirs Tipp für nervöse Pferde. Es hilft. Aber nur bei Pepper. Alpino sucht mit Emily im Sattel das Weite. An der kurzen Seite galoppiert er an und schwenkt drohend den Kopf in Frau Lanz’ Richtung.

Pepper gibt einen kleinen aufmunternden Laut von sich. Für mich klingt der wie: Richtig so, Alpi. Vertreib sie.

Gebieterisch hebt unsere Chefpsychologin die Hände in Emilys Richtung.

»Halt mal an.«

Mit dem Erfolg, dass Alpi auf dem Huf kehrtmacht und quer durch die Halle fetzt. Sägespäne wirbeln hoch und hinterlassen einen grauen Staubschleier auf der Psychologin.

Hoffentlich buckelt Alpi Emily nicht runter. Bitte nicht vor diesem Publikum.

Mellys rotes Gesicht unter der Reitkappe wird noch eine Spur dunkler. Der totale Albtraum: Eine Mutter blamiert ihre Tochter bis auf die Knochen. Vor allen anderen.

»Mama, das kannst du nicht machen.«

Heulend sitzt Melly auf Flemming. Frau Lanz heult jetzt auch. Richtig laut.

Furchtbar. Ich fühle mich schuldig und unbehaglich.

»Frau Lanz! Das geht zu weit.«

Habi durchquert die Halle und bedeutet Mellys Mutter, ihm an die Bande zu folgen.

»Kommen Sie raus da.«

Als der Chef sich nähert, beruhigt Alpi sich und fällt in Schritttempo.

Mit äußerster Vorsicht tupft Frau Lanz ihre Wimpern mit dem Taschentuch ab. »Meine Tochter reitet seit vier Jahren bei Ihnen.«

Zwar entfernen die beiden sich bis an den Ausgang, aber Frau Dr. Lanz’ aufgeregte Stimme dringt problemlos auch noch in den hintersten Winkel der Halle.

»Die ganze Zeit haben Sie gut an Melly verdient.«

»Bitte?«

»Da könnten Sie wohl etwas gefälliger sein. Und der Flora Rohde meine Tochter als Reitbeteiligung empfehlen.«

»Frau Lanz, das ist einzig und allein Floras Sache.«

»Es gibt noch andere Reitställe, Herr Habicht. Meine Tochter kann ebenso gut woanders reiten. Dann melde ich Melly eben bei Ihnen ab.«

Genervt hebt Herr Habicht beide Hände und faltet sie über seiner Baseballkappe.

»Meine Güte, dann wechseln Sie eben. Reisende soll man nicht aufhalten.«

Reisende soll man nicht aufhalten.

Ein klasse Teebeutelspruch. Muss ich mir für Mama merken. Und was er für eine Wirkung hat. Zumindest auf Melly, denn die hockt nun in Schockstarre auf Flemming. Stallwechsel? Dann würde sie Pepper ganz verlieren.

Mellys zuckende Schultern kann ich beim besten Willen nicht übersehen.

Meine Gedanken kreisen plötzlich um die Frage: Was, wenn es umgekehrt gekommen wäre? Mellys Mutter hätte Pepper gekauft und ich müsste zusehen?

Ungewolltes Mitleid mit Melly überschwemmt mich. Seit ich Pepper habe, sehe ich sie in einem milderen Licht. Wie alles. Melly tut mir leid. Trotz ihrer blöden Art. Kann man bei so einer Mutter überhaupt normal bleiben?

Ich drehe mich zu Melly um und irgendetwas lässt mich sagen: »Ich nehme wahrscheinlich gar keine Reitbeteiligung. Hat nichts mit dir zu tun.«

Durch einen dichten Tränenschleier blinzelt Melly mich dankbar an.

Da hämmert erneut die Stimme von Frau Dr. Lanz auf mein Trommelfell ein.

»Herr Habicht! Sie wissen genau, dass es in der Nähe keinen anderen Reitstall gibt.«

Der Chef zuckt hektisch die Schultern. Diese Bewegung kennen wir alle im Stall: Der Mann steht kurz vorm Explodieren. Er sieht sich in seiner meistgehassten Rolle – als Raubtierdompteur.

»In solchen Momenten«, hat er uns in einer schwachen Stunde gestanden, »möchte ich zur Longierpeitsche greifen und jeden auf ein Postament in eine Ecke dirigieren, wo er nichts mehr anrichten kann.«

Sicher ahnt Frau Lanz das nicht, sonst würde sie endlich aufhören zu jammern.

»Ich kann meine Tochter nicht zweimal in der Woche durch die halbe Stadt zur nächsten Reitanlage kutschieren.«

»Schicksal«, brummelt Stalldompteur Habi. Mit großen Schritten verlässt er die Halle, die die Psychologin in einen Raubtierkäfig verwandelt hat.