Mama steht Ausschau haltend unter der erleuchteten Nummer 6a, als ich zehn Minuten später vor unserem Haus vom Rad springe.
»Wir haben uns Sorgen gemacht«, empfängt sie mich und streicht ihre glatten Haare noch glatter. »Du allein um diese Zeit unterwegs. Im Dunkeln. Das gefällt mir ganz und gar nicht.«
»Mama, es ist Frühling.«
»Dunkel ist dunkel.«
Reicht es nicht, dass mich im Stall alle nerven? Geht der Stress zu Hause weiter? Ach Pepper, das haben wir nicht verdient.
Ich atme tief ein, als ich das Rad in den Ständer vor den frisch gepflanzten Primeln ramme.
Nicht aufregen, Flora. Tritt keinen Streit los. Das kostet nur Zeit.
Papa schiebt seinen Kopf durch die Tür.
»Musst du etwa noch Hausaufgaben machen?«
»Nur noch Mathe.«
»So haben wir nicht gewettet, Flora.«
Oha. Papas Stimme kommt mit diesem markigen Klang rüber, der jedes Mal eine Grundsatzdiskussion verheißt. Da geht es auch schon los.
»Unsere Abmachung war folgende, Flora: Pferd ja, Schule vernachlässigen nein.«
Solche Abmachungen können sich nur Menschen ausdenken, die unter totalem Realitätsverlust leiden. Wie soll das gehen? Ein Pferd und trotzdem satt Zeit für Hausaufgaben?
Wer jeden Tag dreieinhalb Stunden im Stall verbringt, muss die Schule zwangsläufig vernachlässigen. Das ist so sicher wie der Lehrsatz des Pythagoras.
»Ich vernachlässige die Schule nicht, Papa. Darf ich rein oder soll ich zwischen den Primeln übernachten?«
»Nicht in diesem Ton, Madame.«
Vorteil für Papa. Im Moment bin ich auf der schwachen Seite, da kommt es nicht gut, eine dicke Lippe zu riskieren.
Wortlos verschwinde ich durch die Diele über die Kellertreppe nach unten. In der Minigarderobe im Hobbykeller tausche ich im Zeitlupentempo meine Reitsachen gegen Jeans und Sweatshirt aus.
Sorgfältiger als sonst hänge ich meine Reithose auf, streiche die Weste glatt und platziere die Stiefel ausgerichtet nebeneinander auf das Abstellgitter. Ich setze darauf, dass meine Eltern keine Lust haben, in der Diele ewig auf mich zu warten. Mit Glück verziehen sie sich vom Esstisch auf die Fernsehcouch ins Wohnzimmer. Dann kann ich klammheimlich nach oben verschwinden. Von der Couch sehen sie mich nicht, wenn ich die Treppe zu meinem Zimmer hochsteige.
Auf Socken klettere ich die Kellertreppe geräuschlos hinauf und lausche in die Diele. Vorsichtig luge ich durch den Türspalt.
Unter dem wandhohen Flurfenster sitzen meine Eltern wie festgeklebt in unserer kleinen Essecke. Mist.
Papa redet sofort weiter, als er mich im Kelleraufgang sichtet. Als sei unser Gespräch nicht volle fünf Minuten unterbrochen gewesen.
»Thema Reitbeteiligung, Flora. Da müssen wir Nägel mit Köpfen machen.«
Ächzend lasse ich mich auf einen Lederstuhl fallen und stopfe mir zwei Radieschen vom Esstisch in den Mund.
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie mich im Stall alle belagern. Pepper ist schwer beliebt, jeder will eine Reitbeteiligung. Sogar zwei Frauen haben mich heute angequatscht. So alt wie du, Mama.«
Mama richtet sich kerzengerade auf.
»Was soll das heißen, so alt wie ich?«, fragt sie pikiert.
Schon wieder ein Fettnäpfchen. Sobald die Sprache auf ihr Alter kommt, fühlt Mama sich angegriffen.
»Ach, Erwachsene eben.«
Ist doch total egal, ob jemand dreißig oder vierzig oder fünfzig ist – alt ist alt. Wo ist der Unterschied?
Wenn ich meinen Eltern nicht entgegenkomme, reagieren sie todsicher noch gereizter. Ich versuche es mit einem Kompromiss.
»Okay, lasst es mich ein paar Monate allein probieren. Bis zu den Sommerferien. Nach den Ferien suche ich mir definitiv eine RB. Versprochen.«
Papa schüttelt den Kopf.
»Und was ist, wenn du vorher ausfällst?«
»Ich falle nicht aus.«
»Du könntest Grippe kriegen«, wirft Mama ein. »Oder dir den Magen verderben. Salmonellen. Noroviren. Und was passiert, falls du dir den Fuß verstauchst? Oder dir das Wadenbein brichst wie Dani letzten Sommer? Dann muss schnell jemand einspringen.«
Hat sich schon mal jemand totgeplant? Meine Eltern können einfach nicht anders, sie denken alles in alle Richtungen durch.
»Mama! Warum soll ich mir plötzlich ein Bein brechen? Ich habe mir noch nie etwas gebrochen. Vierzehn Jahre nicht. Warum jetzt?«
Mama bleibt hartnäckig.
»Aber wenn? Wir können dein Pferd jedenfalls nicht durchamüsieren.«
Verstohlen sehe ich auf die Uhr. Fast neun. Zu meinem chronischen Zeitmangel gesellt sich nun auch noch diese überflüssige Familiendiskussion.
»Ich könnte mir auch Malaria einfangen«, sage ich unschuldig, »Gelbfieber. Ebola. Cholera. Tollwut. Oder die afrikanische Pferdepest.«
Mama übergeht meine Bemerkung.
»Nimm doch eine von den Frauen«, schlägt sie vor. »Volljährige eignen sich am besten als Reitbeteiligung. Schon wegen der Haftung. Wenn etwas passiert, erleichtert das die Sache. Sonst könnte das eine Katastrophe werden.«
»Wenn etwas mit Pepper passiert, ist das immer eine Katastrophe. Unter achtzehn oder über achtzehn.«
Mama seufzt genervt und wendet den Blick Richtung Decke.
»Du willst mich nicht verstehen«, sagt sie.
Ihren Augen sehe ich an, dass sie sich an unseren letzten sensationellen Teebeutelspruch erinnert. Von ihrem Liebling Schiller: »Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.«
Stimmt. Ich will sie nicht verstehen.
Natürlich weiß ich genau, was Mama meint. Denn diese unselige Idee mit einem Erwachsenen als Reitbeteiligung hat mir auch Tapir aufgetischt. Neulich kam wieder der Jurist in ihm durch.
»Falls tatsächlich beim Reiten etwas passiert«, sagte Tapir, »lassen sich die Folgen mit einem Erwachsenen als Reitbeteiligung direkt regeln. Zum Beispiel, wer den Tierarzt bezahlt, wenn das Pferd sich verletzt. Bei Jugendlichen als RB muss man jede Kleinigkeit mit den Eltern ausfechten.«
Ein Albtraum, wenn es um schwierige Mütter wie Frau Dr. Lanz geht.
Schon gut. Alles richtig. Trotzdem. Ich will keinen Erwachsenen als Reitbeteiligung. Alles in mir sträubt sich dagegen. Die alten Säcke möchte ich mir nicht auf Pepper vorstellen. Am Ende halten sie sich noch für erziehungsberechtigt und wollen mir Tipps geben.
Never ever.
»Morgen früh erwarten wir deine Entscheidung«, brummt mein Vater und Mama ergänzt: »Leg eine Liste der möglichen Reiter an. Um deine Gedanken zu ordnen. Mit Pro und Contra, Plus und Minus.« Da spricht die Bankfrau.
Papa steht auf und klopft auf den Tisch. »Und jetzt Schluss mit Pferden. Bevor ich zu wiehern anfange.«
Gut Papa, du willst es nicht anders. Dann schreibe ich Mathe eben morgen vor der ersten Stunde auf dem Klo ab. Das möchtest du doch, oder?
Ich nehme zwei Stufen auf einmal zu meinem Zimmer hinauf.
Beides schaffe ich nämlich nicht, oh großer Bestimmer. Die blöde RB-Liste für dich und das ganze Gedöns um den Schnittpunkt von Mittelsenkrechten im Dreieck für Dr. Winkelmann.
In meinem Zimmer stoße ich meine klemmende Tür zum Balkon auf und zerre den Drehstuhl über die Schwelle. Rappelnd schlagen fünf Rollen gegen die Metallschiene. Mit meiner kuscheligen Bettdecke und einem Block setze ich mich in die offene Tür, durch die ein kühler Abendhauch streicht. Ich packe die Decke enger um meine Schultern, während meine Augen den Himmel absuchen. Vielleicht sehe ich Peppers Stern und er inspiriert mich?
Plötzlich wird die Tür aufgerissen. Daniel.
»Bei dir hat es teuflisch gescheppert.« Er bleibt im Türrahmen stehen und mustert mich mit gerunzelter Stirn. »What happened, Schwester?«
»Hä?«
Mein Bruder zieht die Tür hinter sich zu und tippt sich auf den Kopf.
»Darf man fragen, ob du beim letzten Sturz vom Pferd gelitten hast? Hier oben?«
»Was soll die hohle Frage?«
»Im März draußen sitzen! Nachts! Dauert sicher nicht mehr lange, bis die Männer in den weißen Kitteln kommen …«
»Du hast ja keine Ahnung, was ein Pferd so alles mit sich bringt.«
Ich zeige hinter mich auf die Klarsichtmappe »Mein Pferd«, die auf dem Laptoptisch liegt, und wedele mit meinem Blatt Papier.
»Papa will unbedingt wissen, wer mich vertritt, falls ich krank werde. Ich lege gerade eine Liste an.«
»Wo ist das Problem? Nenn ihm doch eine von deinen Stalltanten.«
Stalltanten! Das sagt Dani immer, wenn er von den Jugendlichen auf Habichts Hof spricht. Kein Respekt. Für Daniel sind Pferde so weit weg wie für mich die Knüppelschaltung seines Fahrschulwagens.
»Leider hast du keine Ahnung. Wenn ich eine nehme, sind alle anderen sauer.«
Daniel streicht seine halblangen Haare hinter die Ohren und wirft sich auf mein rotes Sofa.
»Verstehe.«
»Außerdem, du kennst doch Mama und Papa.« Ächzend erhebe ich mit von meinem Drehstuhl, werfe die Bettdecke ins Zimmer und hocke mich zu Dani auf die Sofalehne. »Die wollen sofort echte Verträge machen. Reitbeteiligungsverträge. Ich kann nicht einfach irgendwen nennen.«
»Böse Falle.«
Wenigstens einer in der Familie, der meine Zwangslage versteht.
»Genau deshalb sitze ich hier und lege Listen an. Und danach warten noch gigantische Probleme in meinem Mathebuch. Transversalen-Berechnung im Dreieck. Mittelsenkrechte und so ein Schrott. Hast ja schon vorausgesehen, dass es eng werden könnte.«
»Gib her.«
Daniel streckt die Hand aus.
»Was, das Mathebuch?
»Klar.«
»Machst du mir das etwa?«
»Ausnahmsweise.«
»Super. Was willst du dafür haben?«
Daniel grinst und breitet die Arme aus.
»Dein Zimmer für meinen Austauschschüler.«
Mortimer aus England kommt dieses Jahr. Danis Zimmer unterm Dach ist definitiv zu klein für beide.
»Geht in Ordnung. Hast du dir sowieso schon verdient. Wegen der Stirnlampe.«
Bevor er es sich überlegen kann, springe ich auf, krame das Mathebuch aus meinem Rucksack und zeige Dani, was wir aufhaben.
Nach einem kurzen Blick nickt er und klemmt das Buch unter den Arm.
»Kinderspiel. Ich leg’s dir dann vor die Tür.«
Habe ich nicht einen sensationellen Bruder?
»Super, Dani. Du bist mein Held!«
»Musst es nachher nur noch abschreiben. Ist sicherer wegen der Schrift. Tschau.«
»Danke, Mann.«
Als Dani weg ist, fällt mir ein unglaublich kitschiger Teebeutelspruch ein: »Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.«
Im Moment stimmt der Spruch hundertprozentig. Vielleicht gibt es noch ein zweites Licht für mich? Eine knallhelle Glühlampe, die auf eine optimale Reitbeteiligung leuchtet. Das weiß nur einer: Tapir.
Ich angle mein Handy aus dem Regal.
Hilfe, Tapir! Meine Eltern wollen mir eine RB aufdrängen … Weiß nicht, wen ich nehmen soll. Hast du eine Eingebung? Flo
Ungeduldig klopfe ich auf das Gehäuse. Wo bleibt die Antwort? Er kann mich doch jetzt nicht hängen lassen. Da fällt mir ein, dass Tapir heute Abend zum Italiener wollte.
Wie kann der Mann sich Pizza Funghi reinschieben, während ich hier schier verzweifle?
Mit meiner Bettdecke hocke ich mich wieder in die offene Tür. Muss ich wirklich alles allein machen? Seufzend greife ich zum Filzer und kritzle eine schwarze Tabelle auf meinen Karoblock.
Meine Einteilung für eine mögliche Reitbeteiligung lautet:
Name
Positivfaktor
Nervfaktor
Eifersuchtsfaktor
Obwohl sich bei meinem Stift die Filzhaare in sämtliche Richtungen sträuben, schreibe ich alle Mädchen auf, die halbwegs für meinen Pepper infrage kommen.
Emily (falls sie neben Alpino jemals Zeit hat)
Janne
Maxie
Katta
Leonie
Melly
Gloria
Tessy & Kriss
Weil jetzt schon fast alles egal ist, setze ich noch die Antiken darunter:
Eva Vollmer
Annette Tauscher
Eine Stunde später sitze ich immer noch über der verflixten Liste. Inzwischen habe ich mich mit meiner Bettdecke auf die Matratze gelümmelt. Der Himmel hängt voller Wolken. Peppers Stern am Großen Wagen ist nicht zu sehen, deshalb kann ich genauso gut ins Warme kriechen.
Ich glaube, ich habe das Anti-Reitbeteiligungs-Gen, das ARBG. Alles in mir sträubt sich gegen eine RB, es sei denn, ich könnte einen Sklaven finden, der alles haarscharf so macht, wie ich es sage.
Hoffnungslos studiere ich meinen Block. Die Positivspalte und die Nervigspalte stehen voller Notizen.
Was die Liebe zu Pepper angeht, musste ich Melly zähneknirschend neun Positivpunkte geben. Neun von zehn möglichen. Gleichzeitig stehen bei Melly unter »Eifersuchtsfaktor« zehn fette Punkte. Angenommen, Pepper begrüßt Melly mit lauterem Grummeln als mich … oder er schnaubt bei ihr öfter. Dann platze ich!!!
Nehme ich Melly – natürlich ist allein der Gedanke daran absurd – habe ich die Superpsychologin gleich mit an der Hacke. Melly gibt es nur im Doppelpack mit ihrer krassen Mutter. Aber Melanie Scarlett Lanz reicht mir auch schon allein. Gestern wieder dieser peinliche Auftritt auf dem Pausenhof. Ständig hat sie es auf die Jungs aus der zehnten Klasse abgesehen. Nach der Pause erzählt sie uns unaufhörlich von ihren Traumtypen. Ich kenne die Jungs nicht mal einzeln. Nur im Rudel.
Wie ich es drehe und wende, von den Mädchen kommt keine infrage.
Nehme ich Janne, Katta, Maxie oder Leonie, habe ich in Melly und Gloria endgültig zwei Feindinnen. Genau dasselbe gilt, falls ich mich für die Zwillinge entscheide.
Das Problem kommt mir vor wie meine absolute Hass-Denksportaufgabe aus der dritten Klasse. Ein Bauer will mit Hund, Kohlkopf und Ziege an das andere Flussufer. In seinem Kahn kann er immer nur ein einziges Teil mitnehmen. Zwei müssen am Ufer bleiben. Lässt er den Hund bei der Ziege, wird sie gefressen. Bleibt die Ziege mit dem Kohlkopf allein, futtert sie den Kohl weg.
Meine Suche nach der Reitbeteiligung ist so unlösbar wie der fiese Fall mit der Ziege, dem Kohlkopf und dem Hund.
Für wen ich mich auch als RB entscheide, immer wird nur EINE im Stall happy sein und hundert andere sauer.
Ob Tapir endlich wieder da ist? Erwartungsvoll hacke ich auf mein Handy ein.
Tapir hilf!!!!!!!!!
Er ist da!
Komme gerade vom Italiener zurück. Immer noch kein RB-Ergebnis, Flo?
NEIN!
Hast du dir alle möglichen Namen aufgeschrieben?
Alle!
Nun lässt Tapir den abgeklärten Erwachsenen heraushängen.
Tatsache ist, dass du überhaupt keinen an deinen Schatz heranlassen willst. Außer Emily in Notfällen. Hab ich recht oder hab ich recht?
Ich simse zurück.
Ja! Ja! Ja! Hast recht. Aber ich brauche konkrete Vorschläge!
Tapir lässt nicht locker mit seiner ekligen Erwachsenen-Ermahnsucht.
Du suchst keine Reitbeteiligung, sondern einen SKLAVEN! Schmusen verboten. Pepper lieben verboten. Besser reiten als Flo verboten. Kette mit Eisenkugel am Bein erlaubt.
Was soll das denn jetzt? Ich dachte, er wäre auf meiner Seite. Und nun wühlt er in meiner schwärzesten Seelenecke. Klar suche ich einen Sklaven. So kommen wir nicht weiter. Ich simse ihm eine konkrete Frage.
Was hältst du von den Zwillingen? Die haben sich gegenseitig und sind nicht so scharf darauf, etwas Eigenes zu besitzen.
Natürlich sehe ich die Zwillinge nur als Notnagel. Die Sache müsste top secret bleiben im Stall. Kriss und Tessy dürften nicht darüber sprechen. Zumindest nicht bis zu ihrem ersten Auftritt. Sonst erwürgt Melly mich. Und wenn nicht sie, dann ihre hysterische Mutter.
Könnte klappen. Kopf hoch. Du schaffst das schon. Wir halten Kriegsrat im Stall! Tapir
Am nächsten Morgen scheint es so, als hätten meine Eltern die ganze Nacht nichts anderes getan, als sich gegenseitig anzufeuern: Wenn Flo die Treppe herunterkommt, sofort nach der RB fragen.
Papa fällt mich an, bevor ich mich überhaupt hingesetzt habe. Dabei kaut er sogar noch an seinem Vollkornbrot. Er nutzt Mamas Abwesenheit, sie zieht sich gerade oben fertig an.
»So, Flo, nun reden wir Klartext. Du hast dir hoffentlich über Nacht etwas Passables überlegt.«
Seufzend greife ich mir ein Brötchen. Daniel schlürft seinen Milchkaffee, zwinkert mir zu und verschanzt sich hinter seinem Übungsheft für die Fahrprüfung. Das geht in Ordnung, denn er hat mich mit der fiesen Mittelsenkrechten gerettet.
Bin gespannt auf Papas Gesicht, wenn ich ihm mitteile: Papa, ich habe das ARBG, das Anti-Reitbeteiligungs-Gen. Da kann man nichts machen.
Natürlich wird mein Vater sofort seinen Arzt oder Apotheker fragen, aber gegen ARBG helfen keine Pillen und keine kalten Umschläge. Dagegen kann nicht mal Dr. Müller-Maring etwas ausrichten. Mein Erzeuger müsste mich schon umzüchten lassen.
Ich weiß nicht, welche höhere Macht mein Sprachzentrum steuert, aber ohne dass ich es will, höre ich mich antworten: »Kein Problem, Papa. Wenn ich keine Zeit habe, können Kriss und Tessy reiten.«
Eigentlich wollte ich das gar nicht sagen, aber nun ist es heraus.
Im Grunde ist es egal, welchen Namen ich nenne, denn ich lasse sowieso keinen auf Pepper. Lieber sitze ich die ganze Nacht mit Danis Stirnlampe über meinen Hausaufgaben.
»Du hast dir also gleich zwei ausgesucht. Sehr gut.« Papa sieht überrascht aus. »Kriss und Tessy, die Namen sagen mir nichts. Sind die beiden neu im Stall?«
Ich schüttele den Kopf und bestreiche mein Brötchen extradick mit Nusscreme, um mich für die Nachtarbeit zu entschädigen.
»Tessy und Kriss Brinkmann. Wir nennen sie nur die Zwillinge.«
»Zwillinge?« Papa horcht auf. »Eineiige Zwillinge?«
Prompt tappe ich in die Falle.
»Und ob die eineiig sind! Nicht einmal Herr Habicht kann Kriss und Tessy unterscheiden.«
»Ha!« Papa schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Unmöglich! Eineiige Zwillinge. Da sind Nachweisprobleme schon vorprogrammiert.«
»Was meinst du mit Nachweisproblemen?«
»Man weiß nie, wer geritten hat. Wenn etwas passiert, kann jede es auf die andere schieben. Nie kann man klären, wer es war. Das mach mal einer Versicherung klar. Viel zu kompliziert.«
Seine Sorgen möchte ich haben.
Wenn Papa hört, dass Tessy und Kriss dreizehneinhalb sind und erst im Herbst vierzehn werden, erstickt er vor Schreck an seinem Vollkornbrot. Unter vierzehn bedeutet nämlich: Man ist nicht strafmündig. Wer unter vierzehn etwas verbrochen hat, kann nicht vor Gericht gestellt werden. Dieser Zustand zwischen Kind und Jugendlicher ist für Papa ein Albtraum. Er zählt schon die Tage bis zum 28. März, wenn ich endlich strafmündig werde. Dauernd treibt ihn die Angst um, dass ich Mist baue und er wegen Verletzung der Aufsichtspflicht verdonnert wird.
Mit meinen 13-jährigen Zwillingen habe ich einen sagenhaften Grund, die Reitbeteiligung hinauszuschieben.
In ihrem schicken Bankkostüm kommt Mama die Stufen herunter.
»Oliver!«, sagt sie kopfschüttelnd, als sie seine letzten Worte aufschnappt. »Nicht alle Leute sind auf Betrug aus. Du setzt mal wieder das Schlimmste voraus. Warum sollen die Mädchen uns etwas vormachen? Besser die Zwillinge als gar keine Reitbeteiligung.«
Klingt wie: Besser doppelter Beinbruch als einfache Gehirnerschütterung.
Wird man so als Erwachsener?