Aber dann geschieht ein Wunder.
Am nächsten Morgen fällt unser Mathelehrer Dr. Winkelmann aus. Hexenschuss. Seine Mittelsenkrechte ist aus dem Lot, ha, ha. Für diese geniale Gedankenverbindung zu seinen geliebten Transversalen müsste »Winkel« mir eine Eins anschreiben. Danis Mondscheinrechnerei war total unnötig.
Während meine Klasse in der Freistunde zum Türken marschiert und bei Tarek Fladenbrot mit Tzatziki kauft, rase ich mit dem Rad zum Habichthof. Ausgesprochen praktisch, dass unsere Schule nur drei Straßen entfernt von Pepper liegt.
Mein Pferd wirkt deutlich überrascht, als ich zu so ungewohnter Stunde vor seiner Box auftauche.
»Was hältst du von Grasen?«, flüstere ich über die Tür.
Pepper ist sofort bereit, sein Heu liegen zu lassen und mit mir nach draußen zu gehen. Er tippelt hin und her, als ich den Führstrick ins Stallhalfter klicke, so eilig hat er es.
Auf dem Hof stoppt mich Tapirs Ruf.
»Hi Flo, gut dich zu sehen. Hab eine Idee für dich.«
Tapir steht auf dem Misthaufen und verteilt die nasse Einstreu. Mit einem Satz springt er vom Gipfel und stützt sich auf die Mistgabel. Wie immer trägt er seine derbe braune Goldgräberhose mit Hosenträgern und die Sicherheitsstiefel der amerikanischen Sheriffs.
»Freistunde?«
»Genau. Mathe fällt aus.«
»Hast du morgens sonst immer zur ersten Stunde?«
»Nö, zweimal muss ich erst zur dritten.«
Der Strick spannt sich, ungeduldig zieht Pepper daran. Er will an sein Gras. Ich stecke ihm ein Leckerli zu, damit er beschäftigt ist.
»Geht gleich weiter, Süßer.«
Tapir grinst, wie immer, wenn wir unsere Pferde Süßer oder Mäuschen nennen.
»Warum teilst du dir deinen Stalldienst nicht auf? Komm morgens zum Reiten oder beschäftige Pepper, dann hast du abends nur noch die halbe Zeit im Stall zu tun. Das beruhigt deine Eltern. Kommst vielleicht fürs Erste um die Reitbeteiligung herum.«
Tapirs Erleuchtung ist Wunder Nummer zwei!!!
Sofort steigt meine Laune bombig an. Pepper hebt unternehmungslustig den Kopf, er spürt sofort, wenn sich meine Stimmung ändert.
Vor der Schule reiten. Das ist es! Warum fällt mir so etwas nicht selbst ein?
Bevor ich Tapir um den Hals fallen kann, kommt er schon mit dem nächsten guten Vorschlag.
»Du lagerst deine Reitsachen oben auf dem Dachboden im Spind. Kannst sie fix gegen die Schulsachen austauschen. Morgens ist hier wenig los, nur ein paar Einzelstunden.«
»Super, super, Tapir«, sage ich gerührt. »Was dir alles einfällt. Du bist der Allerbeste.«
Tapir lacht und kurvt wieder mit seiner Schubkarre über den Hof.
»Wenn du zurück bist, stelle ich die Pferde auf den Paddock.«
Auf dem Grasstreifen neben der Weide ist es restlos herrlich. Pepper frisst die ersten Frühlingshalme und ich lege mein Gesicht auf seinen Rücken und schmuse mich in seinem warmen Fell fest.
Aus halb geschlossenen Augen beobachte ich, wie er Halm für Halm abzupft. In diesem Moment wünschte ich, ich selber wäre das junge Gras und Pepper würde mich ratzekahl auffressen. Vor lauter Liebe.
»Unser Geheimnis«, flüstere ich in Peppers Fell.
Eine absolut grandiose Viertelstunde später bin ich fit für Englisch. Mit Pepper im feuchten Gras, sein Schnurzeln und Prusten hören – niemand kann sich vorstellen, wie gut das tut. Niemand außer Emily. Frau Fischer soll mich ruhig in Englisch drannehmen. Sie wird sich über meine Coolness wundern.
»Ask some more questions, Misses Fischer.«
Die Freistunde auf dem Habichthof kommt mir vor wie eine Gutelaunekur. Summend gehe ich in die Sattelkammer, um den Führstrick aufzuhängen.
An Peppers Sattel prangt ein gelber Zettel mit der winzigen Krümelschrift des Chefs. Nachdem ihn seine Frau verlassen hatte, begann unser Habi, fitzelig zu schreiben, und rasierte sich eine Glatze. Mellys Mutter weiß natürlich wieder, warum.
»Das ist typisch, wenn man einen Schock verarbeiten muss und ein neues Leben beginnt. Dann ändert man oft Frisur und Schrift.«
Alles Quatsch. Habi muss so klein schreiben, weil seine Botschaften sonst kaum auf die winzigen Zettel passen. Normale Zettel sind im Stall nicht zu finden. Wenn jemand zehn Blöcke mitbringt, sind sie todsicher am nächsten Tag verschwunden. Der Habichthof ist eine Art Bermudadreieck, das jedes Schreibpapier auf geheimnisvolle Weise verschlingt. Deshalb trägt Habi immer Blöcke mit Haftetiketten bei sich, damit er uns jederzeit mit seinem aufgeklebten Fachwissen beglücken kann.
Ich zupfe den Zettel ab und lese.
Hallo Flora. Kannst du deinen Stalldienst nicht aufteilen? Reite doch morgens, falls du zur zweiten oder dritten Stunde in die Schule musst. Oder in Freistunden. Die Halle ist ab 7 Uhr frei. Gruß Habicht
»Wonderful! Great!«
Habis Info entlockt mir englische Freudenrufe. Wenn Frau Fischer mich jetzt hören könnte!
Unser Chef hat dieselbe Idee ausgebrütet wie Tapir. Wunder Nummer drei. Ich komme um das hochbrisante Thema Reitbeteiligung herum. Zumindest in den nächsten Wochen.
»Bist du noch da, Flo?«, ruft Tapir über die Stallgasse. »Oder jubeln auf dem Habichthof jetzt schon die Sättel?«
Grinsend stecke ich den Kopf aus der Sattelkammer.
»Der Chef schlägt mir auch vor, morgens zu reiten. Da kann ich mich doch wohl freuen.«
Tapir wedelt mit zwei DIN A4-Seiten. »Reitbeteiligungsvertrag« steht obendrauf.
»Lies dir den trotzdem mal durch. Dann weißt du für alle Fälle, was im Vertrag stehen sollte. Worüber du dich mit einer RB einigen musst.«
Entsetzt starre ich auf die klein bedruckten Seiten. Noch winziger hätte es auch Herr Habicht nicht schreiben können.
»Was? So viel? Ich will doch Pepper nicht verkaufen!«
Tapir lacht.
»Je mehr du vorher regelst, umso weniger Streit gibt es hinterher. Glaub einem alten Juristen.«
Mit schnellem Blick überfliege ich die Blätter und schon bei Punkt eins bin ich geschockt. Da steht unter anderem:
Die Teilnahme an Jagden, Pferdeleistungsschauen und anderen reitsportlichen Veranstaltungen (Turniere) bedarf der ausdrücklichen Zustimmung des Eigentümers.
Jagden? Mein Pepper auf einer JAGD?
Das fehlte noch. Auf diese Idee wäre ich bis vor einer Sekunde überhaupt nicht gekommen! Mein süßer, kleiner Pepper hetzt mit einer Reitbeteiligung über Stock und Stein, durch Ginstersträucher und Brombeeren?
Tapir hat recht: Solche Fragen muss man vereinbaren. Was heißt vereinbaren – da wird nichts vereinbart, das verbiete ich natürlich. Doch das ist längst nicht alles, was geregelt werden muss. Auch die Bezahlung, die steht in Punkt vier.
Die RB beteiligt sich mit … Prozent, also mit anteilig … Euro an den Unterhaltskosten für das Pferd.
Wieder etwas, das mir nicht schmeckt.
Für meinen Pepper will ich allein sorgen, ganz allein. Na ja, mit dem Geld meiner Eltern natürlich. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie meine Reitbeteiligung sich wichtig macht im Stall. Fast kann ich die Worte hören.
»Ich zahle schließlich anteilig für Peppers Stroh, Heu, Hafer und für seine Hufeisen. Da habe ich ja wohl ein Recht, das wieder abzuschmusen.«
Wie viel darf man als Gegenwert für zwei Hufeisen und zwei mal Hinterhufe beschneiden abschmusen? Das wäre mal eine sinnvolle Matheaufgabe, Herr Dr. Winkelmann.
Tapir stellt einen Plastikeimer unter den Wasserhahn und dreht ihn auf.
»Schreib auch in die Vereinbarung, wie lange sich die RB um Pepper kümmern soll, wenn er nicht geritten werden kann. Einen Monat ist üblich. Kann passieren, dass Pepper eine kleine Verletzung auskurieren muss und trotzdem bewegt werden soll. Über solche Dinge gibt’s oft Streit.«
Meine Güte, ist das alles umständlich.
So zäh habe ich mir das nicht vorgestellt, sondern ganz einfach. Etwa so: Ich frage z. B. Janne: Willst du Pepper zweimal die Woche eine Stunde reiten? 60–80 Euro im Monat?, sie sagt: Klar, total gern, und die Sache ist vom Tisch.
Aber wenn ich auf meine Formulare blicke, ist so schnell nichts gegessen. Stöhnend lese ich weiter.
Die Nutzungszeiten werden in einem Plan festgehalten. Die Reitbeteiligung hat das Recht, das Pferd an folgenden Wochentagen zu reiten …
Nutzungszeiten, das klingt, als wollte ich die Spielzeiten für einen Tennisplatz vereinbaren. Und nicht eine Reitstunde auf dem Rücken meines besten Freundes.
Ich lasse die Blätter sinken. Nutzungszeiten.
»Höchstens montags«, murmele ich vor mich hin. Montags habe ich am längsten Schule, das wäre der richtige Tag für die RB.
Tapir lässt frisches Wasser in den Eimer laufen, in dem wir die Trensen auswaschen.
»Na«, sagt er. »Und?«
Ich zucke die Schultern.
»Weiß nicht. Was ist, wenn ich Lust habe, montags mit Pepper zu schmusen? Und wenn ich komme, trabt er gerade mit der RB durch die Halle? Dann stehe ich wie ein Idiot an der Bande und meine Reitbeteiligung ruft mir zu: ›Ätsch, ich habe heute die Nutzungszeit. Und meinen Schmuseanteil hole ich mir auch noch ab.‹«
Tapir muss lachen.
»Was dir immer einfällt. Sicher, ein bisschen teilen musst du Pepper schon, anders geht es nicht. Aber wenn es dir total gegen den Strich geht, kannst du jederzeit einen Rückzieher machen. Ihr seid ja nicht auf ewig zusammengekettet. Überleg trotzdem gründlich, wen du nimmst. Kündigen macht sich schlecht für die Stimmung im Stall, haben wir schon besprochen.«
Mit nassen Fingern tippt er auf Punkt sechs.
Diese Vereinbarung ist mit einer Frist von … Tagen zum Monatsende kündbar.
»Der Punkt ist das einzig Gute«, stelle ich fest. »Besten Dank, Tapir. Ich muss dann. Tschau.«
Tapir ruft mir nach:
»Sprich mit deinem Vater wegen der Versicherung für die Reitbeteiligung. Das Stichwort heißt Fremdreiterrisiko.«
FREMDREITERRISIKO! Geht’s noch?
Energisch klopft Pepper mit dem Huf gegen die Holzwand, als ich die Seiten einstecke.
Mein Pferd schickt mir einen mahnenden Blick herüber. Als ich schnell noch einmal zu ihm hineinschlüpfe, tritt Pepper zufrieden grummelnd zur Seite
Na bitte, geht doch.
»Bald komme ich öfter morgens zum Reiten, Pepper. Danach kannst du zu deinen Kumpels auf den Paddock oder auf die Weide. Wir machen es uns richtig schön. Und das Fremdreiterrisiko soll der Teufel holen.«
Pepper versucht, ein Leckerli in meiner Schuljacke zu entdecken und reibt seine Nase vorsichtig über den Reißverschluss der Seitentasche.
»Abends gehen wir dann spazieren und ich mache deine Box. Wie findest du das, Peppermaus? Jetzt muss ich aber los. Englisch.«
Im Großen und Ganzen scheint Pepper mich verstanden zu haben, obwohl seine Augen sagen: Ein Leckerli ersetzt tausend Worte.
Eigentlich ein guter Teebeutelspruch.