Gerade wuchten wir eine neue Getränkekiste auf die Mauer zum Hof, da schnorchelt Alpino auf einmal laut und spitzt die Ohren in voller Konzentration. Gleichzeitig stößt Pepper ein trompetenartiges Schnauben aus. Sein Schweif geht in Alarmstellung hoch. Mit angehobenem Kopf wittert er zur Straße hin.
Die lauten Lachsalven und das Stimmengewirr sind nicht zu überhören.
»Stellt euch nicht so mädchenhaft an, Jungs«, sage ich gut gelaunt und meine Gäste lachen. »Habt ihr noch nie Straßengeräusche gehört? Hallo ihr beiden Schisser, da oben laufen Menschen herum.«
In meinem Bauch springt das Sicherheits-Informationssystem an.
Pling, Sie haben eine Nachricht.
Sofort klicke ich auf logout. Von der Bauchnachricht will ich gar nichts wissen.
Dabei denke ich unterschwellig: Hast du sie noch alle, Flora Rohde? Guck dir Peppers Verhalten an. Weißt doch genau, dass Pferde eine Gefahr eher wittern als ein Mensch. Weshalb checkst du nicht, woher die Stimmen kommen? Und vor allem – warum sie sich nähern???
Aber die Warnung findet leider nicht den Weg von meinem Bauch ins Hirn. Meine Party ist gerade richtig in Gang. Diese super Stimmung lasse ich mir nicht durch hysterische Mamagedanken verderben.
Von einem Moment zum andern ziehen über dem Paddock düstere Abendwolken auf. Schnell hereinbrechende Dämmerung ist nicht ungewöhnlich Ende März. Mein Sicherheitssystem versucht, mir über die Bauchnerven mitzuteilen, dass die Wolken eine Warnung des Himmels sind. Aber muss ich mich von meinen inneren Organen herumkommandieren lassen?
Ich schnappe mir vier Colaflaschen und verteile sie an Gloria, Janne und die Zwillinge.
Und dann passiert es: An der Ecke des Stalls tauchen drei Fremde auf. Erst jetzt schrillt meine innere Alarmanlage so durchdringend, dass ich sie nicht überhören kann.
Unmittelbar darauf fällt eine Gruppe johlender Jugendlicher auf den ruhigen Habichthof ein.
Ich bin wie erstarrt. Alles Fremde, soweit ich das überblicke. Mit steifen Knochen dränge ich mich zwischen meine Geburtstagsgäste.
Einer nach dem anderen kommt unsere Zufahrt herunter. Wie unter Zwang zähle ich sie einzeln ab. Als könnte ich die Situation damit unter Kontrolle behalten.
Sieben, acht, neun …
Nervös zähle ich weiter.
… dreizehn, vierzehn, fünfzehn …
So langsam wird es schwer, den Überblick zu behalten. Zwanzig Jungs sind es mindestens, eher mehr. Und alle älter als wir.
Hilfe! Mama! Papa! Dani! Hoffentlich wache ich gleich auf.
Gloria schlägt die Hand vor den Mund.
»Das gibt’s doch nicht.«
Mir wird gleichzeitig heiß und kalt. Meine Haare kleben feucht im Nacken. Von rechts und links krallen sich eisige Hände in meine Arme.
Jede von uns ahnt, was da flaschenschwenkend auf uns zurollt: Besucher, die unsere Fete für Randale nutzen wollen. Partycrasher.
Unzählige Male haben wir von solchen Partyüberfällen gehört. Dass es uns nun selbst trifft, noch dazu auf dem Habichthof … furchtbar.
Hundertprozentig wird hier alles aus dem Ruder laufen. Solche Überfälle laufen immer aus dem Ruder.
Tausend Gedanken wirbeln mir durch den Kopf. Pepper! Alpino! Der Paddock! Der Stall! Meine unerlaubte Geburtstagsfeier! Strafmündig! Randale! Zerstörung!
Teuer!
Teuer!
Teuer!
Die ersten Jungs stehen vor dem gesicherten Gattertor und zerren mit Gewalt am Verschlussbügel herum.
Ich sehe nur ihre Kapuzen, die sie tief ins Gesicht gezogen haben.
»Hey, lasst das sein. Ihr macht das Tor kaputt.«
Mehr bringe ich nicht hervor.
Lautes Grölen ist die Antwort. Mit Gewalt reißen sie zu viert an den Stahlrohren.
Todesmutig schießt Avatar auf die Bande zu und springt einen Meter hoch auf die Störenfriede zu. Einen Moment schreckt die erste Linie zurück, doch dann grölen sie um so lauter und versuchen, den aufgeladenen Terrier mit fuchtelnden Händen zu ärgern.
»Avatar, bei Fuß«, rufen die Zwillinge durcheinander. »Sofort hierher.«
Kläffend rennt Avatar hin und her, bis ein Zwilling ihn schließlich am Halsband erwischt und an die Leine nimmt.
Emily fängt an zu weinen und versteckt sich hinter meinem Rücken.
»Eins, zwei. Eins, zwei.«
Unter lauten Anfeuerungsrufen ruckeln die vier Anführer am Tor. Quietschend lösen sich Schrauben und Bolzen.
Die Jungs drücken das schiefe Tor auf und stürmen zu uns auf den Auslauf, alle anderen im Schlepptau.
Pepper und Alpino weichen zurück und stoßen lautes Angstschnauben aus.
»Hey, das sind original Gäule hier«, brüllt einer und schwenkt seine Wodkaflasche. »Kommt bei Fuß, wir wollen mit euch einen trinken.«
»Geh zu den Pferden«, raune ich Emi zu. »Wir versuchen, die Bande hier vorn in Schach zu halten.«
Sie schluchzt auf und läuft zu Pepper und Alpino, die sich hinter einem Stapel Bauholz an das Weidetor drücken.
Johlend drücken ein paar Jungs ihre glühenden Zigaretten in die Luftballons. Andere schlagen die Ballons zwischen den Händen zusammen, bis sie mit plötzlichem Knall in der Luft zerplatzen.
Pepper, die tun dir nichts, die sind nur blöd und laut. Bleib ganz ruhig.
Oder?
Hektisch blicke ich zwischen meinem aufgeregten Pferd und der Horde hin und her.
Unter den Kapuzen versuche ich, jemand zu erkennen, aber das sind alles Fremde. Soweit ich das überhaupt sehen kann. Fast nur Jungs.
»Wo bleibt die Performance?«, brüllt einer.
»Genau, wo ist hier der Reitrapper?«, ruft einer aus der Mitte.
Reitrapper?
Das Wort elektrisiert mich. Nie habe ich diesen Namen benutzt. Außer … im Internet. Aber dort habe ich keine Adresse genannt. Keinen echten Namen. Keinen Ort, keine Straße. Oder? Nein. Hundertprozentig nicht. Wie ein Laufband flitzt der Raptext durch meinen Kopf – und bleibt plötzlich hängen.
»Join the riding school, ja, sei nicht doof:
Komm zu uns auf den Habichthof!«
Komm zu uns auf den Habichthof.
Habichthof, Reitschule. Einmal gegoogelt und gewonnen.
Mir wird flau im Magen, ungefähr wie bei der vorletzten Mathearbeit, als mir auffiel, dass ich meinen Spickzettel mit abgegeben hatte.
ICH SELBER BIN DER AUSLÖSER FÜR DEN ÜBERFALL!
Wie blöd bin ich eigentlich?
Das muss ich jetzt sofort verdrängen. In diesem Moment hilft nur kühles Überlegen.
Dani muss kommen! Am besten mit ein paar Freunden. Und versuchen, die Eindringlinge zu verjagen.
Mit fahrigen Fingern suche ich seine Nummer im Handy. Wieso dauert das alles so lange? Bitte sei da, Dani. BITTE!
»Die gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht erreichbar.«
Er hat das Handy ausgeschaltet. Ausgerechnet heute.
Bevor ich mich entscheiden kann, wen ich als zweite Feuerwehr anrufe, stürzen vier Jungs sich auf die Heuraufe und versuchen, sie zu zerlegen. Das erste silberne Element gibt nach, unter lautem Triumphgeschrei fliegen die restlichen Teile auf den Paddock. Peppers erschrecktes Schnauben erfüllt den Platz. Mir schnürt es das Herz zusammen. Ich kann jetzt niemand anrufen.
»Feigling, fass den E-Zaun an«, feuern die Leute sich gegenseitig an. Ein betrunkener Schlaks torkelt auf das Elektroband zu und reißt es ab. Schreiend schwingt er seinen Arm, als wäre er tödlich verletzt. Idiot. So schlimm kann das nicht gewesen sein, wir haben alle schon mal am Zaun einen gewischt gekriegt.
Auf keinen Fall darf die Horde in den Stall laufen und unsere Schulpferde verrückt machen.
Wohin mit Pepper und Alpino? Und Avatar?
Zwischen den angetrunkenen Idioten können sie nicht länger bleiben. Verstohlen gebe ich Emily am Weidegatter ein Zeichen.
»Gebt uns Deckung«, flüstere ich den Zwillingen zu. »Wir bringen die Pferde über die Weide in die Reithalle. Gebt den Hund her, der kommt auch mit.«
Vorsichtshalber nehme ich den aufgeregten Avatar auf den Arm und drücke mich neben den Zwillingen am Zaun entlang zu Emi. Der Holzstapel verdeckt uns halbwegs. Auf mein Nicken hin fasst Emily Alpino am Halfter, ich nehme Pepper und wir schlüpfen durch die zweite Gattertür, die Tessy und Kriss sofort hinter uns schließen.
Hastig führen wir unsere Pferde über die Weide um die Anlage herum. Brombeerranken reißen an meiner neuen Jeans. Avatar winselt und versucht, sich aus meinem Klammergriff zu winden. Endlich ist das Tor der Reithalle in Sicht. Zitternd öffne ich die Tür und lasse die Pferde und den Hund los.
Pepper und Alpino rennen sofort los, toben sich die Anspannung aus den Knochen, wälzen sich in den Sägespänen, springen wieder auf und galoppieren die nächste Runde.
Mit fliegenden Ohren saust der Jack Russell hinterher.
Endlich Ruhe vor der wüsten Bande da draußen. Mein Herzschlag beruhigt sich.
Am liebsten würde ich gar nicht mehr zum Paddock zurückgehen, sondern den Rest meines Geburtstags mit Pepper, Alpino, Emi und Avatar verbringen. Allerdings wäre das echt unfair. Schließlich war ich es, die alle Reiter eingeladen hat. Also muss ich die Sache durchstehen. Bis zum bitteren Ende.
Das neue Unwort des Jahres geistert durch meinen Kopf: Strafmündig.
Wieder hinaus in das Chaos. Ob ich Emi mit ihren verweinten Augen zumuten kann, mich in die Höhle des Löwen zu begleiten?
Da packt mich die kleine ängstliche Maus am Arm und sagt tapfer: »Ich komme mit.«
Wir gehen über die Weide zurück. Der Anblick auf dem Paddock kommt mir vor wie ein Science-Fiction-Film. Kapuzenmenschen, erstarrt in einem sandigen Wackelpudding. Flaschen, die in Zeitlupe geleert werden. Fuchtelnde Arme. Beine, die über Zaunpfosten hängen. Einzelteile der Raufe, silbern blinkend wie ein zerstörtes Raumschiff. Nur weiß ich hundertprozentig sicher, dass dieser irre Anblick kein Film ist, sondern Wirklichkeit.
Wie von fremden Kräften bewegt greift meine Hand in die Tasche, angelt das Handy hervor und drückt Tapirs Kurzwahlnummer.
Als Tapir sich meldet, bin ich sofort wieder die alte aufgeregte Flo.
»Tapir, Tapir, auf unserem Paddock sind lauter Fremde! Die saufen und randalieren. Zwanzig Leute Minimum.«
»Wie bitte? Wie ist das passiert?«
»Weiß ich auch nicht.«
»Ich höre den Krach ja bis hier! Was macht ihr überhaupt auf dem Paddock?«
»Ich wollte ein bisschen meinen Geburtstag feiern. Nur mit ein paar Stallmädchen, na ja … vielleicht sechzehn, siebzehn oder so.«
Tapir atmet schwer.
»Geht’s noch?«
»Wir wollten nur zwei Stunden. Ehrlich, Tapir.«
»Und woher kommt die betrunkene Horde?«
»Keine Ahnung. Bitte, Tapir, komm schon! Hast du keinen Tipp für mich?«
»Ihr müsst verhindern, dass die Verrückten zu den Pferden gelangen. Schließ die Türen ab. Du hast doch einen eigenen Stallschlüssel?«
»Ja.«
»Ich komme sofort. Aber erst rufe ich noch die Polizei.«
Angstvoll kreische ich auf.
»Polizei? Das kannst du nicht machen, Tapir! Ich bin ab heute strafmündig!«
»Perfekt! Bin schon unterwegs.«
Mit einer Handbewegung rufe ich Mascha, Lina und Katharina herbei.
»Stellt euch als Wache vor den Außenstall. Lasst keinen durch. Ich schließe den Hauptstall ab.«
»Okay«, sagt Mascha.
Hintereinander drängeln wir uns durch die Masse. Janne geht vorneweg, sie ist die Unerschrockenste von uns. Ein paar Jungs rempeln und strecken den Ellenbogen aus, um uns zu stoppen. Einer hält mir die Wodkaflasche vors Gesicht.
»Trink mit, komm schon.«
Ich wehre seinen Arm ab und beeile mich, Anschluss an die anderen zu halten.
Endlich am Stall.
Drinnen schließe ich sofort hinter mir ab und renne durch die Stallgasse. Alarmiert heben alle Pferde ihre Köpfe und spannen die Muskeln an. In den Boxen verbreitet sich Unruhe. Man rennt nicht im Stall, Fluchttiere geraten schnell in Panik. Hilft nichts. Weiter. Lieber ein kurzer Schreck, als zu riskieren, dass eine Horde Betrunkener den Stall stürmt.
Mit zitternden Fingern sortiere ich meine Schlüssel am Karabinerhaken und schließe die zweite Eisentür am Eingang ab, dann zurück durch die Stallgasse. Als ich den Schlüssel auf dem Hof von außen abziehe, kann ich wieder ruhiger atmen. Ein erster Erfolg.
Ich befehle mir, klar zu denken.
Gesichter merken!
Im diffusen Abendlicht kann man schlecht etwas ausmachen, zumal die Bande so dicht beieinandersteht und fast alle Kapuzen tragen. Außerdem arbeitet mein Gehirn nicht so zuverlässig wie sonst.
Doch dann glaube ich, einige Gesichter zu erkennen. Vielleicht vom Pausenhof? Ja, von der Schule, sicher. Ich muss Melly fragen, die kennt mehr Jungs als ich. Gerade kämpfe ich mich zu ihr durch, da sehe ich eine lange, dünne Gestalt mit wehendem Pferdeschwanz den Weg entlang den Weiden hochkommen.
Tapir.
Dich schickt der Himmel!
Er wird die Sache in den Griff kriegen. Schon schlägt mein Puls ruhiger.
Ein schwerer Wagen röhrt mit lautem Hupen die Einfahrt zu uns herunter. Noch fährt er verdeckt hinter den Mauern des Stalls.
Polizei?
Eine paar Leute auf dem Paddock werden aufmerksam. Einer pfeift durchdringend und schreit: »Weg hier.«
Mein Herz überschlägt sich wieder. Die Polizei kommt. Wunderbar und furchtbar zugleich. Wie soll ich das morgen Herrn Habicht erklären?
Blitzartig verteilen die ungebetenen Gäste sich nach links und rechts, springen über Gräben und suchen das Weite.
Erregter Wortwechsel dringt von der Weide herauf, als einige Flüchtige Tapir in die Arme laufen. Er versucht, sie festzuhalten, doch es sind zu viele.
Gerade als ich denke, ich muss vor Aufregung alle Chips wieder rückwärts essen, kommt es noch schlimmer. Was da hupend um die Ecke biegt, ist nämlich kein blau-weißer Polizeiwagen.
»Oh-oh«, flüstert Melly, als die ersten Zentimeter der schwarzen Motorhaube zu erkennen sind.
Es ist der Geländewagen von Lennart Habicht, der auf den Hof rollt.
Gloria greift sich mit ihren pestfarben lackierten Fingernägeln in die Frisur.
»Shit, verdammter«, flucht sie.