41. Kapitel

Ihre Mutter hatte recht – die Gefahr, dass sie hier in Münsingen irgendwann versauerte, war unbestritten gegeben, dachte Mimi, während sie die letzten Fotografien aus der Entwicklerflüssigkeit nahm. Am besten sorgte sie dafür, dass es erst gar nicht so weit kam!, beschloss sie auf dem Weg zurück ins Haus. Bis zum Jahresende hatten Anton und sie noch unglaublich viel zu tun, aber gleich im neuen Jahr wollte sie ein Fest veranstalten und alle dazu einladen: Clara Berg vom Bodensee, Josefine und Adrian Neumann und weitere Bekannte aus Berlin. Alexander aus Stuttgart, Luise und ihren Mann Georg aus Laichingen, ihre Eltern aus Esslingen, den Kommandanten vom Soldatenlager, Bernadette, Corinne und Wolfram – für einen Tag würde Münsingen quasi der Nabel ihrer Welt sein!

»Ich bin wieder da!«, rief Mimi gut gelaunt, doch aus dem Gästezimmer ertönte kein Laut. Schlief Amelie etwa noch immer? Ein starker Kaffee war genau das, was ihre Mutter jetzt brauchte, beschloss Mimi, während sie Wasser aufstellte.

Voller Tatendrang ging sie dann ins Esszimmer und begann, den Inhalt ihrer Fotografien-Kisten auf dem Tisch auszubreiten. Sie besaß so viele Fotografien, dass ihr Schreibtisch im Büro dafür nicht ausreichte, und der große Esstisch wahrscheinlich auch nicht. Zu jeder Glasplatte hatte sie einst einen papiernen Abzug dazugelegt, so dass sie auf den ersten Blick erkennen konnte, um welche Fotografie es sich handelte.

Landschaften legte sie in die obere linke Tischecke, Städteansichten kamen nach oben rechts, den restlichen Platz nahmen diverse Motive ein. An viele Fotografien konnte sie sich schon gar nicht mehr erinnern – wann zum Beispiel hatte sie die hübsche junge Frau mit dem Bollenhut fotografiert? –, und so war ihr daran gelegen, sich zuerst einen Überblick zu verschaffen.

Mimi hatte schon drei Kisten sortiert, als Amelie Reventlows Stimme ertönte: »Kind, hörst du denn nicht, dass der Wasserkessel schon seit Ewigkeiten pfeift?«

Mimi schaute verwirrt von ihrem Tisch auf. »Was? Entschuldige, ich war so in meine Arbeit vertieft …«

»Ich habe Kaffee aufgesetzt, er läuft gerade durch«, sagte Amelie lächelnd, dann trat sie zu Mimi an den Tisch. »Kein Wunder, dass du die Welt um dich herum vergessen hast – es ist ganz schön beeindruckend, zu sehen, wie viel du in den Jahren fotografiert hast! Du kannst stolz auf dich sein.« Liebevoll drückte sie Mimis Arm, dann zeigte sie auf eine der Landschaftsfotografien. »Dieser Anblick vom Bodensee – ist der nicht für deine Zwecke geeignet?«

»Hmm …« Mimi runzelte die Stirn. »Das Motiv ist schön, aber leider war es an dem Tag so diesig, dass die Fotografie insgesamt zu dunkel wurde und ich sie nicht mal am Retuschiertisch aufhellen konnte.«

Amelie Reventlow nickte. »Und das Mädchen mit dem Bollenhut – wäre das nicht hübsch für ein Druckprodukt?«

Mimi zuckte ratlos mit den Schultern. »Im Schwarzwald ist eine junge Frau mit einem Bollenhut ein gern gesehener Anblick, aber könnten die Menschen woanders auch etwas damit anfangen?« Ein Notizblock mit einem Bollenhutmädchen? Sie verwarf die Idee, noch bevor sie zu Ende gedacht war.

»Du suchst also Motive, die sozusagen universell fürs ganze Kaiserreich geeignet sind?« Amelie Reventlow tippte auf die Fotografie eines Zeppelins, die Mimi im Frühjahr am Bodensee gemacht hatte. »Vielleicht so etwas?«

»Von diesem Zeppelin hat Anton schon mal Postkarten machen lassen«, sagte Mimi. »Sie waren bei der Kundschaft sehr beliebt. Aber Postkarten sind jetzt nicht gerade der große Clou, ich hoffe immer noch auf einen Geistesblitz.«

»Kind, ich sehe schon, so kritisch, wie du bist, wird das eine schwierige Angelegenheit. Lass uns am besten erst mal Kaffee trinken«, sagte ihre Mutter lachend.

Sie waren schon fast an der Esszimmertür angelangt, als Amelie auf die hochglanzpolierte Anrichte zeigte, auf der der Stapel Fotografien lag, die Mimi frisch entwickelt hatte. »Was sind denn das für Bilder?« Noch während sie sprach, nahm sie sie hoch und schaute sie an.

»Ach, das sind nur Schafe«, wiegelte Mimi ab.

»Nur Schafe?« Amelie Reventlow schaute entrüstet auf. »Ich glaube, das Schaf ist das Tier, von dem in der Bibel am meisten die Rede ist! Denk doch nur ans Lukas-Evangelium und das Gleichnis vom verlorenen Schaf. Oder noch besser – denk an den Psalm 23, der mit den Worten ›Der Herr ist mein Hirte‹ beginnt.«

»Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zu frischem Wasser«, sprach Mimi unwillkürlich weiter, während ihr Blick auf den Schafen vor dem kleinen Bach ruhte. Diese Fotografie hatte sie gemacht, als Corinne und sie gemeinsam die letzten Kilometer nach Münsingen gegangen waren.

»Mimi, diese Bilder sind wunderschön! Und sie wirken so unglaublich idyllisch … Hier, wie die hübsche Frau mit dem Lämmchen im Arm auf der Heide sitzt – das sieht so anmutig aus! Und da, das Mutterschaf, das sein Junges abschleckt – von solch einer Idylle träumen wir Städter, wenn uns in der Stadt mal wieder alles zu laut und zu eng ist.«

Mimi lachte auf. »Das hätte jetzt Bernadette hören müssen – sie hasst alles, was mit Schafen zu tun hat«, sagte sie, während es jedoch irgendwo hinter ihrer Stirn nervös pochte. Idylle, Schäferglück. Das Schaf in der Bibel. Und ich will meiner Herde helfen, dass sie nicht mehr sollen zum Raub werden …

»Wie traurig«, stellte ihre Mutter fest. »Aber oftmals sieht der Mensch das Schöne im Alltag nicht mehr. Du jedoch hast die Schafe und die Landschaft der Schwäbischen Alb so schön dargestellt, dass mich eine friedliche Stimmung allein bei deren Anblick überkommt. Mimi, das war schon immer deine Gabe! Den Menschen Schönheit schenken …« Sie tippte auf ein Bild. »Hier, die Hirtin und ihre Schafe vor den Wacholderbüschen – diese Fotografie hat fast etwas Biblisches. Kannst du mir davon einen Abzug machen? Den würde ich dann einrahmen und Vater auf den Schreibtisch stellen.«

»Gern!«, sagte Mimi erfreut. Das Pochen hinter ihrer Stirn wurde heftiger. Schäferidylle …

Wie viele Schaffotos hatte sie eigentlich? Ihrem Gefühl nach war mindestens ein Dutzend der Aufnahmen, die sie entwickelt hatte, qualitativ und vom Motiv her sehr gut. Das würde bedeuten … Auf einmal war sie so aufgeregt, dass sie das Gefühl hatte, gleich aus ihrer Haut zu fahren.

»Was ist denn nun mit dem Kaffee?«, fragte Amelie und zupfte an Mimis Ärmel.

»Gleich«, sagte sie abwesend und blätterte die Fotografien erneut durch. Würden sich ein paar Motive davon eignen, um sie in andere, frühere Fotografien hineinzublenden? Mit jahreszeitlich passenden Landschaftsbildern konnte sie dann von frühlingshaft bis winterlich jede Stimmung erzielen. Weidende Schafe auf einer blühenden Obstbaumwiese oder Schafe in einer verschneiten Winterlandschaft …

Sie schaute ihre Mutter perplex an. »Ich glaube, ich hatte gerade den Geistesblitz, auf den ich schon so lange warte!«

Nun, wo die Idee geboren war, gab es kein Halten mehr. Und so arbeitete Mimi den Rest des Nachmittags und den ganzen Abend hindurch – wenn auch mit schlechtem Gewissen. Da besuchte sie ihre Mutter einmal, und sie nahm sich keine Zeit für sie!

»Kind, mach dir keine Gedanken. Ich bin froh, einmal ein wenig Zeit für mich zu haben«, versicherte Amelie ihr und ging in die Küche, um etwas zu Abend zu kochen.

Am Samstag waren Mutter und Tochter beide früh wach und voller Tatendrang: Mimi wollte dringend zu Bernadette, um mit ihr über ihre Idee zu sprechen. Und Amelie wollte Münsingen kennenlernen!

Nachdem sie gestern so wenig Zeit für ihre Mutter gehabt hatte, musste die Arbeit heute hintanstehen, beschloss Mimi, und so brachen sie nach einem kurzen Frühstück zu einem Spaziergang auf.

Schnell stellte sich dabei heraus, dass Amelie Reventlows Vorstellung von »Ich will Münsingen kennenlernen« anders war, als ihre Tochter gedacht hatte. Denn statt die schönen Fachwerkhäuser und den Dorfbrunnen zu bewundern, wollte Amelie den meisten Geschäften einen Besuch abstatten. »Ihr Brot schmeckt wirklich ganz vorzüglich«, lobte sie den Bäcker und vertraute ihm im selben Atemzug an: »Wissen Sie, meine Tochter ist eine sehr gute Hausfrau, sie hat mir heute Morgen ein üppiges Frühstück bereitet und mir von ihrem Hefezopf vorgeschwärmt. Den hätte ich jetzt gern!« Strahlend zeigte sie auf einen Stapel duftender Hefezöpfe.

Beim Metzger lobte sie den Bauchspeck, den Mimi für die gestrige Suppe gekauft hatte, und erwähnte ganz nebenbei, dass Mimi sich das Kochen selbstständig beigebracht hatte. Ob das nicht lobenswert sei, fragte sie den etwas ratlos dreinschauenden Metzger freundlich.

Mimi stand verlegen daneben und fühlte sich wie ein Schulmädchen von zwölf Jahren.

Im Kolonialwarenladen, in dem sich zu Amelies Amüsement auch ein Friseur befand, ließ sich Amelie Kehrschaufeln zeigen und erwähnte dabei ganz beiläufig Mimis längeren Aufenthalt in Laichingen. »Sie hätten mal erleben müssen, wie aufopferungsvoll meine Tochter ihren Onkel gepflegt hat!«, sagte sie stolz zur Verkäuferin.

Mimi wurde knallrot vor Scham. Nun reichte es aber! Als Nächstes würde die Mutter noch in die Limonadenfabrik gehen und erzählen, dass Mimi schon als Kind am liebsten Orangenlimonade getrunken hatte!

Kaum hatten sie den Kolonialwarenladen mit einer Tischdecke verlassen, blieb sie auf dem Gehsteig stehen und drehte sich zu Amalie um. »Mutter, ich weiß, du meinst es gut. Aber ich habe weder vor, hier im Ort Kochkurse zu geben, noch mich bei der Pflege von Kranken einzubringen. Und ob die Leute glauben, dass ich eine gute Köchin bin oder auch nicht, ist mir völlig egal. Auch wenn ich mich hier häuslich niedergelassen habe, werde ich dennoch weiterhin ein eigenständiges Leben führen und zuvorderst das tun, was mir beliebt. Deshalb bitte ich dich wirklich, deine Bemühungen, mich als soliden Pfeiler der Münsinger Gesellschaft zu etablieren, einzustellen«, sagte sie halb lachend, halb verärgert.

Amelie Reventlow schien ihr ihre Rede nicht übelzunehmen. »Dann jammere auch nicht darüber, dass die Leute dir nicht über den Weg trauen«, sagte sie lediglich.

Mimi drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und den Hausschlüssel in die Hand. »Ich weiß, dass du es gut meinst. Hör mal, wäre es in Ordnung, wenn du allein zur Kirche gehst? Ich hab dringend etwas zu erledigen!«

Die Mutter nahm den Hausschlüssel entgegen und sagte: »Der Herr Pfarrer muss warten. Wenn ich dir schon so nicht helfen kann« – sie zeigte vage auf die Häuser ringsum – »dann wasche ich dir wenigstens die Küchenschränke aus, sie haben es dringend nötig. Und du geh nur, es ist ja nicht mit anzusehen, wie hibbelig du bist!«

»Einen Schafkalender willst du drucken? Mit Fotografien von unseren Schafen und biblischen Sprüchen?« Bernadette schaute Mimi über ihren Schreibtisch hinweg entgeistert an.

Mimi nickte. »Die Schäferidylle ist sehr beliebt bei den Leuten, ob auf dem Land oder in der Stadt. Als eure Schafe gestern lammten, konnte ich sehr schöne Fotografien machen. Auf einigen ist übrigens auch Corinne zu sehen …«, fügte sie verhalten hinzu und zog unwillkürlich das Genick ein. Sie musste nicht lange auf Bernadettes Donnerwetter warten.

»Wie bitte? Das Flittchen soll arbeiten und dir nicht Modell stehen!«, plusterte sich die Schafbaronin sogleich auf. »Was glaubt diese Frau eigentlich, wofür ich sie bezahle?«

»Bernadette«, sagte Mimi leise. »Corinne war bei der Arbeit, als ich die Fotografien gemacht habe. Und magst du nicht auch mal fotografiert werden? Mit deiner wunderschönen Haarkrone bist du eine so imposante Erscheinung, ich könnte mir gut vorstellen, dass du auf einem Foto neben einem dieser großen Widder stehst, die die prächtigen Hörner haben.«

Bernadette stieß ein abfälliges Schnauben aus. »Tut mir leid, Mimi, aber für so etwas bin ich mir nun wirklich zu schade. Und ich habe auch kein Interesse daran, dass meine Schafe bei irgendwelchen Leuten als Kalenderbild an der Wand hängen!« Sie gab Mimi die Fotografien zurück, ohne auch nur einen weiteren Blick darauf geworfen zu haben, dann ging sie zum Fenster und schloss es ruckartig. »Draußen stinkt es heute ja widerlich!«

Mimi glaubte nicht richtig zu hören. Da echauffierte sich Bernadette lieber über ein bisschen Rauchgeruch anstatt ihr zu helfen? »Bernadette, bitte, das kann doch nicht dein letztes Wort sein«, flehte sie. »Der Schafkalender ist genau das, was unsere Druckerei jetzt benötigt. Ich bin mir sicher, dass er sich erfolgreich verkaufen wird. Und nicht nur hier auf dem Land, sondern gerade in den großen und lauten Städten, wo sich die Menschen nach der friedlichen Natur sehnen.«

»Nach Frieden sehne ich mich auch! Deshalb lass mich jetzt bitte in Ruhe mit dieser Schnapsidee«, antwortete Bernadette, und die Vehemenz, mit der sie sich wieder ihrem Kassenbuch widmete, bedeutet nichts anderes als: Gespräch beendet.

Einen Moment lang blieb Mimi noch wie belämmert in Bernadettes Büro stehen, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging wortlos davon. Eine solche Abfuhr hatte sie schon lange nicht mehr kassiert. Wütend und enttäuscht stapfte sie durch den Ort. Und das ausgerechnet von Bernadette!

Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie die Unruhe um sich herum nur wie durch einen Nebel wahrnahm. Mütter mit ihren Kindern an der Hand rannten an ihr vorbei, ein Mann stürzte so hektisch aus einer Haustür, dass er Mimi fast umriss. Weitere Männer rannten in Richtung Ortsausgang. Was war denn nur los?, fragte sich Mimi dann doch, während sie in die Hauptstraße einbog, die aus dem Ort hinaus in Richtung ihrer Druckerei führte. Und dieser Gestank – rußig roch es, verbrannt …

»Aus dem Weg! Alles aus dem Weg!«, hörte sie jemanden hinter sich schreien. Im nächsten Augenblick wurde sie von einem Trupp Feuerwehrmänner überholt, die, beladen mit Eimern, Leiter und Schläuchen, eine Handdruckspritze hinter sich herzogen.

Mimi griff sich erschrocken an den Hals. Es brannte? Wo? Doch nicht etwa … Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte, rannte schließlich.

Als die Druckerei in Sicht kam, wusste sie, dass Bernadettes Nein zu ihrem Schafkalender im Moment ihr kleinstes Problem war.

*

Als Anton am nächsten Morgen aufwachte, wusste er einen Moment lang nicht, wo er war. Sein Mund war trocken, und als er versuchte, sich zu räuspern, um ein wenig Speichel zu produzieren, gelang es ihm nicht. Neben ihm ertönte leises Schnarchen.

Er rappelte sich auf einen Ellenbogen auf, verwundert irrte sein Blick durch den Raum und blieb dann an der Frau in seinem Bett hängen. Es dauerte einen Moment, bis ihm alles dämmerte. Er war in seinem Pensionszimmer und neben ihm lag – wie hieß sie nochmal?

Sein Blick wanderte zu dem Haarkamm, der auf dem Nachttisch lag und mit dem sie ihre Frisur zusammengehalten hatte. Das Horn war abgewetzt und stumpf.

Anton runzelte die Stirn, hinter der ein pochender Schmerz ihm das Denken erschwerte. War der viele Schnaps schuld, oder lag es an seiner übervollen Blase, dass sein Kopf so durcheinander war? Mit Mühe stellte er seine Füße auf den abgewetzten Läufer vor dem Bett. In diesem Augenblick wachte die Frau neben ihm auf.

»Schatzerl, wo willst’ denn hin?«, fragte sie in breitestem Bayerisch.

»Muss pinkeln gehen«, murmelte er, während er versuchte, die Balance zu halten. Schatzerl?

Auf dem Weg zum Abort kehrte die Erinnerung zurück. Die Frau und er – sie hatten sich in der Wirtschaft kennengelernt, die er nach dem Treffen mit Alexander aufgesucht hatte.

Zuerst hatte er allein getrunken, aber dann hatte er eine Runde ausgegeben, die angesichts der Tatsache, dass sich außer ihm nur der Mann am Nachbartisch und die Frau ein paar Tische weiter dort aufhielten, recht übersichtlich ausgefallen war. Während der Mann kurz darauf gegangen war, war die Frau zu ihm an den Tisch gekommen. Sie hieß Sybille und war eine Hausiererin, die Haarbänder, Gummilitzen, Knöpfe und anderen Kleinkram verkaufte.

Ein hübsches Ding, befand Anton nach einem kurzen Blick.

Sie habe einen schlechten Tag gehabt, hatte sie ihm erzählt, und dass sie sich den Besuch in der Wirtschaft eigentlich nicht leisten konnte, aber manchmal bräuchte der Mensch einfach etwas, was ihn wärmte. Bei diesen Worten hatte sie ihn bedeutungsvoll angeschaut, und Anton hatte sie eingeladen, sich zu ihm zu setzen. Im Gespräch hatten sie dann festgestellt, dass sie wohl schon des Öfteren zur selben Zeit im selben Ort gewesen waren, mehr noch – auf denselben Märkten sogar! Diese Gemeinsamkeit und der Alkohol hatten am Ende dazu geführt, dass Anton die Frau mit in seine Pension genommen hatte. Sie sei seine Cousine, hatte er der Zimmerwirtin mit schwerer Zunge erklärt und angeboten, für deren Übernachtung in seinem Zimmer einen extra Obolus zu zahlen.

Die Wirtin hatte wissend dreingeschaut, Antons Geld aber gern genommen.

Kaum dass sie Antons Zimmer betreten hatten, hatte Sybille sich wortlos ausgezogen, anschließend hatte sie Antons Hose aufgenestelt – daran erinnerte er sich noch, aber an sonst nichts mehr.

Es war nicht das erste Mal, dass er eine Liebelei hatte. Er sah gut aus, war unterhaltsam und charmant – die Frauen mochten ihn! Und wenn ihm nach einem langen Markttag das Geld locker saß, hatte dies seine Anziehungskraft nur noch weiter erhöht. Es war zwar nicht so, dass er in jeder Stadt ein Mädchen hatte, aber hin und wieder hatte Anton sich nicht zwei Mal bitten lassen. Liebe? Die hatte damit nichts zu tun, und nachdem er der Enge seines Heimatdorfes hatte entfliehen können, wollte er sich gewiss nicht binden und sich somit die nächsten Fesseln anlegen!

Unwillkürlich musste er an Alexanders dumme Sprüche denken, und hinter seiner Stirn begann es wieder heftiger zu pochen. Er und Mimi!

Als er ins Zimmer zurückkam, war Sybille gerade dabei, sich ihr Leibchen überzustreifen. Gott sei Dank, dachte Anton.

»Ich geh auch g’schwind brunzen«, sagte sie.

Anton zuckte zusammen. Brunzen – so einen Begriff würde Mimi nie im Leben verwenden.

Als Sybille zurückkam, wartete er mit gepacktem Koffer in der Tür. Der Hausiererin stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, doch als Anton ihr Geld für ein Bier und eine Brezel in die Hand drückte, lächelte sie schon wieder.

Frühstücken wollte er nicht, sein Zimmer hatte er schon im Voraus gezahlt, also saß er binnen fünf Minuten in seinem Auto.

Hatte das sein müssen? Trotz allem blieb im Anschluss an solch eine Nacht immer ein fader Nachgeschmack zurück, dachte er, während er gegen eine leichte Übelkeit ankämpfend, durch die von Tag zu Tag blasser werdende Herbstlandschaft fuhr.

Wenn er so darüber nachdachte, hatte ihn eigentlich an jeder Frau, mit der er zusammen gewesen war, etwas gestört. Ein Mangel an Bildung, ein zu lautes Lachen, irgendein optischer Makel. Und eigentlich hatte er – das wurde ihm jetzt erst bewusst – alle Frauen mit der Fotografin verglichen.

So neblig feucht es im Neckartal gewesen war, so klar war die Luft auf der Schwäbischen Alb. Und die Sonne schien ebenfalls! Ein paar Kilometer vor Münsingen blieb Anton stehen und klappte das Verdeck des Wagens nach unten. Die frische Luft tat ihm gut, die Weite der Landschaft ebenfalls.

Nun, da er den Weg kannte, war er ohne größere Anstrengung in einem Stück durchgefahren. Und einen Entschluss hatte er während der Stunden am Steuer auch gefasst: Er würde Mimi Reventlow nichts von seinem seltsamen Treffen mit Alexander erzählen. Wenn sie erfahren würde, wie abfällig und undankbar sich Alex über sie, Mimi, geäußert hatte, traf sie das gewiss tief. Wozu ihr Kummer bereiten, wenn er einfach nur schweigen musste?

Die Sonne schien ihm mitten ins Gesicht, als er beschloss, sich noch einer anderen, weitaus wichtigeren Frage zu stellen: Was, wenn Mimi wirklich sein Maßstab war, was Frauen anging? Und mehr noch – was, wenn Alexander doch recht hatte und er Mimi Reventlow liebte?

Verdammt, dann war es eben so!, dachte er und trat aufs Gaspedal.

ENDE