Als sie durch das Tor der Oregon Academy fuhr, erlebte Ashley ein Déjà-vu. In den letzten fünf Jahren hatte sich hier kaum etwas verändert. Zahlreiche Schüler saßen plaudernd auf dem Rasen oder schlenderten über das Gelände und wussten nichts mehr von dem Mord, der Ashley die Frau genommen hatte, die sie immer noch als ihre Mutter betrachtete. Der Anblick der arglosen Kinder ließ Ashley traurig werden. Auch sie war einst ein Kind gewesen, aber Joshua Maxfield hatte sie binnen einer einzigen entsetzlichen Nacht dazu gezwungen, erwachsen zu werden.
Das Herrenhaus kam in Sicht. Ashley rechnete damit, dass es anders aussehen würde, weil es nach Henry Van Meters Tod eine Weile unbewohnt gewesen war, aber der alte Herr hatte die Schule mit einer beachtlichen Stiftung bedacht, zu deren Aufgaben es zählte, das Haus der Familie Van Meter in Ordnung zu halten. Bis zuletzt hatte Henry gehofft, Casey würde wieder genesen, und dann sollte sie in einer vertrauten Umgebung leben können. Letzte Woche war Dr. Linscott zu dem Entschluss gelangt, Casey habe sich gut genug erholt, um zurück in das Haus ihrer Kindheit zu ziehen.
Ashley parkte in der Auffahrt, blieb aber im Wagen sitzen. Ihr war vor dem Treffen mit ihrer Mutter ein wenig bange, und sie verspürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Würde Casey sie zurückweisen? Würde sie für das Kind, das sie im Stich gelassen hatte, irgendeine Form von Zuneigung empfinden? Jerry hatte angeboten, sie zu begleiten, aber Ashley wollte sich dieser Begegnung allein stellen.
Sie riss sich zusammen und stieg aus. Das unauffällige Kostüm, das sie trug, hatte sie eigens für dieses Treffen gekauft. Ihre Hände waren feucht, und ihr Herz raste. Sie klingelte an der Tür. Eine stämmige Koreanerin mit kurzem schwarzen Haar ließ sie herein.
»Sie müssen Ashley sein. Ich bin Nan Kim, Miss Van Meters Pflegerin.«
»Hat Dr. Linscott mit meiner … mit Miss Van Meter über mich gesprochen?«
»Ja, es gab eine lange Unterredung. Er hat ihr alles erklärt, und sie möchte Sie sehen. Sie erwartet Sie in Ihrem Zimmer. Ich soll Sie fragen, ob Sie eine Erfrischung möchten.«
»Nein, vielen Dank.«
»Dann lassen Sie uns nach oben gehen«, sagte die Pflegerin.
Casey empfing Ashley in einem großen luftigen Raum mit hoher Decke. Ihr Bett stand in der Nähe des Fensters, sodass sie auf den Garten und den Swimmingpool hinunterschauen konnte. Sie saß aufrecht, auf mehrere Kissen gestützt, und hatte einen Teil ihres verlorenen Gewichts sowie eine gesunde Gesichtsfarbe zurück gewonnen. Ihr Haar war blond gefärbt und sah nun wieder wie vor dem Unglücksfall aus. In einer Ecke standen ein Rollstuhl und eine Gehhilfe. Neben das Bett hatte man einen bequemen Lehnsessel geschoben.
»Danke, dass ich herkommen durfte«, sagte Ashley, sobald sie Platz genommen und die Pflegerin das Zimmer verlassen hatte.
»Ich sollte mich dafür bedanken, dass Sie mich besuchen. Mir ist todlangweilig. Den Großteil des Tages hocke ich in meinem Bett. Nur zur Physiotherapie komme ich hier heraus – und wenn man mir zu den Mahlzeiten nach unten hilft.«
»Wie geht es Ihnen?«
Die Frage klang unbeholfen, und sie wussten beide, dass Ashley sich davor drückte, die harten Fragen zu stellen, die der Anlass für ihren Besuch waren.
»Man muss sich erst daran gewöhnen, von den Toten auferstanden zu sein. Mir fehlen mehrere Jahre. Hinzu kommen die körperlichen Probleme.«
Casey hielt inne und musterte ihre Besucherin. Ashley fühlte sich immer unbehaglicher.
»Und dann sind da noch Sie.« Casey lächelte. »Wie sollen wir einander zum Beispiel anreden? Ich weiß nicht, ob ›Mutter‹ überhaupt angebracht wäre.«
Ashley senkte den Blick. »Ich möchte Sie nicht kränken, aber ich kann mir nur Terri als meine Mutter vorstellen.«
»Das kann ich verstehen. Früher haben Sie mich als Rektorin angesprochen, aber das bin ich nicht mehr, und es wäre auch viel zu formell für unsere Beziehung. Warum nennen Sie mich nicht Casey, und ich nenne Sie Ashley. Und da wir schon dabei sind, sollten wir auch auf das lästige ›Sie‹ verzichten. Na, wie wär’s?«
»Einverstanden.«
»Woher weißt du von der Sache zwischen deinem Vater und mir?«
»Dein Vater hat meinem Anwalt Jerry Philips von der Adoption erzählt. Von ihm habe ich es dann erfahren.«
»Und warum hat Henry unsere Beziehung nach so vielen Jahren enthüllt?«
Ashley beschloss, Casey nicht zu verraten, dass Henry ihre Unterstützung benötigt hatte, um Miles daran zu hindern, die Lebenserhaltung seiner Schwester abzuschalten. Sie war sich nicht sicher, wie viel Casey davon wusste.
»Ich schätze, er wollte mich wissen lassen, dass ich immer noch eine Familie hatte.«
»Hasst du mich dafür, dass ich dich im Stich gelassen habe?«
Die Direktheit dieser Frage überraschte Ashley. Dann wurde ihr klar, dass Casey Van Meter plötzlich wieder die Rektorin war und die Kontrolle übernahm.
Sie beschloss, genauso offen zu sein. »Anfangs schon.«
»Und inzwischen?«
»Ich bin durcheinander, aber ich hasse dich nicht mehr. Ich habe versucht, es von deiner Warte aus zu betrachten und mir vorzustellen, wie ich mich gefühlt hätte, wenn ich von einem Mann schwanger geworden wäre, den ich … den ich nicht liebe.«
Ashley senkte den Blick.
»Du hast Recht, Ashley. Ich habe deinen Vater nicht geliebt. Eine Ehe wäre für uns beide ein Fehler gewesen und hätte nicht lange gehalten. Außerdem war ich zu jung, um Mutter zu sein. Als ich dich zur Adoption freigegeben habe, hatte das nichts mit dir zu tun. Es war nicht deine Schuld. Ich habe dich nicht einmal zu Gesicht bekommen. Man hat dich sofort nach der Geburt weggebracht. Ich hatte ein Beruhigungsmittel bekommen und kann mich nur undeutlich an alles erinnern. Aber es hat sich doch alles zum Guten gewendet, oder? War Norman nicht ein guter Vater?«
»Der beste, den man sich vorstellen kann.«
»Und hast du Terri geliebt?«
»Von ganzem Herzen.«
Ashley hielt inne und nahm ihren ganzen Mut zusammen, um die nächste Frage zu stellen. »Hast du es je bedauert, mich weggegeben zu haben?«
»Ich habe mich hin und wieder gefragt, was wohl aus dir geworden ist. Es freut mich, dass du liebevolle Eltern hattest, und ich bin froh, dass du eine starke, selbstbewusste Frau bist, auch wenn ich keinen Anteil an deiner Erziehung hatte.«
»Hast du je versucht, mich zu finden?«
»Nein, nie.«
»Warum?«
»Darf ich ganz aufrichtig sein?«
»Bitte«, sagte Ashley und wappnete sich.
»Du warst nie real für mich. Ich hatte dich nie im Arm gehalten oder dich gesehen. Wie konnte ich dich lieben oder bei mir haben wollen? Und wer hätte etwas davon gehabt, wenn ich aus heiterem Himmel aufgetaucht wäre und deinen Seelenfrieden zerstört hätte? Sieh dir doch an, was für ein Gefühlschaos du durchlebst, seit du weißt, dass ich deine Mutter bin.«
Ashley schluckte, um den Kloß in ihrer Kehle zu vertreiben. »Was nun? Möchtest du mich kennen lernen, oder würdest du es vorziehen, dass wir keinen Kontakt mehr zueinander haben?«
Casey zog eine Augenbraue hoch und lächelte gequält. »Was für eine dumme Frage! Natürlich möchte ich dich kennen lernen. Ich habe dich vom ersten Tag an gemocht. Weißt du noch, als ich euch beiden den Campus gezeigt habe? Ich wusste sofort, dass du ein guter Mensch bist. Ich habe bewundert, wie du dein schlimmes Schicksal ertragen hast, dein Rückgrat, deine Haltung. Wären wir im selben Alter gewesen, hätte ich dich zur Freundin haben wollen. Der Altersunterschied zwischen uns ist immer noch derselbe, aber je älter wir werden, desto weniger spielt er eine Rolle. Daher schlage ich vor, dass wir es als Freundinnen miteinander versuchen. Wir können uns gelegentlich treffen und uns bemühen, nichts zu erzwingen. Mal sehen, wie es läuft. Bist du damit einverstanden?«
»In Ordnung.«
»Gut. So, du weißt ja, was ich die letzten fünf Jahre gemacht habe. Ich fände es nur fair, wenn du mir nun erzählen würdest, was bei dir los war, während ich geschlafen habe.«
Jerry musste lange arbeiten, also verabredete Ashley sich mit ihm in einem Thai-Restaurant, das nur wenige Blocks von seinem Büro entfernt lag. Die Empfangschefin brachte sie durch den vollen Saal zu dem Tisch, an dem Jerry wartete.
»Wie ist das Treffen mit Casey gelaufen?« fragte Jerry, sobald sie Platz genommen hatte.
»Besser, als ich befürchtet hatte.«
»Das sollte dich eigentlich nicht überraschen. Du hast Casey damals auf der Academy gleich gemocht, nicht wahr?«
»Ja, aber ich hab sie nur ein paar Mal gesehen. Außer an dem Tag, an dem sie meine Mutter und mich herumgeführt hat, haben wir uns allenfalls kurz gegrüßt, wenn wir uns zufällig auf dem Campus begegnet sind. Damals wusste ich ja noch nichts von der Adoption, und ich hatte auch noch nicht so viele üble Dinge über sie gehört.«
»Was für üble Dinge?«
»Du hast mir selbst erzählt, wie zügellos sie war, als sie meinem Vater begegnet ist. Miles hat praktisch dasselbe gesagt. Sie war auf Drogen. Sie hat herumgevögelt. Wenn man Randy Coleman glauben darf, konnte sie außerdem gewalttätig und sadistisch sein.«
Ashley berichtete ihm, dass Coleman von Casey angeblich ans Bett gekettet und mit Zigaretten verbrannt worden sei. Jerry war entsetzt.
»Aber vielleicht hat das glücklich überstandene Koma sie verändert«, sagte Ashley. »Heute Nachmittag sind wir gut miteinander klargekommen. Ich möchte sie unbedingt besser kennen lernen.«
Jerry umfasste ihre Hände. »Das ist gut. Es kann dir wirklich helfen. Nachdem Maxfield im Gefängnis sitzt und du nun weißt, dass zwischen Casey und dir ein gutes Einvernehmen herrscht, kannst du neu beginnen. Du kannst dein Leben zurückbekommen.«
»Du hast etwas vergessen.«
»Was?«
Ashley drückte seine Hände. »Dich, Jerry. Falls jemand mich gerettet hat, dann du.«