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Mit wie viel »p« schreibt man eigentlich Kipppunkt? Mit drei. Okay. Aber was sind Kipppunkte des Erdsystems und warum sollen die so wichtig sein für unser Wohlergehen? Wenn es stimmt, dass es gesunde Menschen nur auf einer gesunden Erde gibt, sollten wir wissen, in welchen Bereichen Mutter Erde ihre Beschwerden hat, was sie verkraften kann und wann es ihr wirklich zu viel wird.
Als der YouTuber Rezo für sein virales Video vor der Europawahl Ministatements aus der Bundespressekonferenz der »Scientists for Future« verwendete, stach ein Wort hervor: »irreversibel«. Nicht umkehrbar. Die Klimawissenschaftler:innen sagen sehr klar: Wenn wir unsere Lebensgrundlagen überstrapazieren, gibt es irgendwann kein Zurück. Aber wie soll man sich das vorstellen? Was passiert, wenn man sogenannte planetare Grenzen und Kipppunkte erreicht oder überschreitet? Und warum sind die nächsten zehn Jahre hierfür so entscheidend?
Ein Mann, der mir das beantworten kann, ist Johan Rockström. Johan ist Schwede und einer der beiden Direktoren des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Das Konzept des »sicheren Korridors für menschliche Zivilisation« und der planetaren Grenzen erschien 2009 in ›Nature‹, einer der wichtigsten Wissenschaftszeitschriften. Kippelemente und »Nichtlineare Dynamik« bedeutet sehr simpel ausgedrückt: Es geht nicht immer so weiter, wie man annimmt. In einem Witz fällt jemand aus dem dreißigsten Stock eines Hochhauses und denkt bei Stockwerk 10: »Also bis jetzt ging es doch gut.« Dabei steht ein nichtlineares Ereignis, eine Kettenreaktion, die dann auch nicht mehr zurückzudrehen ist, kurz bevor.
Hätte man mich vor zwei Jahren gefragt, was planetare Grenzen sind, hätte ich mit Udo Lindenberg etwas gemurmelt von: »hinterm Horizont geht’s weiter«. Johan nimmt sich Zeit, zeigt mir sein Institut – auf historischem Terrain. Hier in Potsdam hat schon Einstein geforscht. Auf dem großen alten Globus in dem musealen Gebäude steht: Handle with care – bitte vorsichtig behandeln. An dem Ausstellungsstück versteht man leichter als in der Realität: Die Erde hat ihre Grenzen. Ihre Ressourcen und ihre Belastbarkeit sind endlich. Und diese Grenzen haben wir Menschen in weiten Teilen überstrapaziert, ohne uns klarzumachen, dass damit ein ganzes System außer Kontrolle gerät, unaufhaltsam. Ging der Weltklimarat IPCC im Jahr 2001 noch davon aus, dass das Erreichen von Kipppunkten erst bei einer Erwärmung von mehr als 5 Grad wahrscheinlich ist, kam er in den Sonderberichten aus den Jahren 2018 und 2019 zu dem Ergebnis, dass dies bereits bei 1 bis 2 Grad der Fall sein könnte. Wir sind also schon mittendrin in einer Entwicklung, die immer schneller voranschreitet.
Dabei haben wir doch schon in der Schule gehört: »Nicht kippeln!« Obwohl es so viel Spaß machte, immer wieder auszutesten, wie weit man den Stuhl nach hinten kippen konnte, ohne auf die Schnauze zu fallen. Anatomisch korrekter auf den Hinterkopf. Kipppunkte hat auch ein Wasserglas, wenn man es immer weiter an die Tischkante schiebt. Irgendwann kommt der Moment, an dem es kippt, hinunterfällt und zerbricht. Bis kurz vor diesem Punkt denkt man: »Ach, ein bisschen geht noch.« In der Schule kam man mit einem Eintrag ins Klassenbuch davon. Was wir lernen müssen: Wir zerstören gerade lauter Dinge, die wir nicht einfach wiederherstellen können. Es reicht nicht, naiv zu sagen: »Entschuldigung, das wollten wir nicht.«
Ein sehr konkretes Beispiel ist der Verlust der Biodiversität. Ist eine Art erst einmal ausgestorben, kommt sie nie mehr zurück. Millionen Jahre feinsinnigster Evolution – vorbei. So stolz wir auf die Ausrottung des Pockenvirus durch systematische Impfungen sein können – die Ausrottung von fünfundsiebzig Prozent der Arten ist alles andere als ein Grund, stolz zu sein.
Die neun wichtigsten planetaren Grenzen werden oft wie eine Zielscheibe dargestellt, mit einem sicheren grünen Bereich in der Mitte. Artenvielfalt ist tiefrot, sprengt alle Grenzen der Wiedergutmachung. Von den anderen acht Kippelementen stellen derzeit das Abschmelzen des arktischen Meereises und des grönländischen Eisschilds die größten Bedrohungen dar, beides ist in vollem Gange. Die Weltgemeinschaft hat 2015 im Paris-Abkommen beschlossen, dass die Erderwärmung bei 2 Grad gestoppt werden soll, besser aber bei 1,5 Grad. 2020 lag die durchschnittliche Temperatur an der Erdoberfläche laut den Daten des von der EU betriebenen Copernicus-Klimawandeldienstes um 1,25 Grad Celsius über der im vorindustriellen Zeitalter. Deutschland hat die 1,5 Grad schon überschritten.
»Diese Kippelemente können sich wie eine Reihe von Dominosteinen verhalten. Wird eines von ihnen gekippt, schiebt es die Erde auf einen weiteren Kipppunkt zu«, erklärt Rockström. Solche Kettenreaktionen im Klima- und Erdsystem verstärken sich unkontrollierbar, aus der Erde könnte eine »Hothouse Earth« werden, ein Treibhaus mit einer »Heißzeit«, die das Ende der menschlichen Zivilisation mit sich brächte, wie wir sie kennen. Die Kippelemente sind also die Achillesfersen unseres Planeten. Selbst wenn wir mit einem Mal komplett »klimaneutral« würden, kehrten gekippte Systeme nicht mehr in den alten Zustand zurück, so wenig wie die Scherben wieder zum Wasserglas werden oder die Dominosteine sich wieder aufrichten oder der Mann aus dem 30. Stock. Egal, wie lange man wartet und bangt.
Ein greifbares Beispiel für Rückkopplungen und Teufelskreise ist der Albedo-Effekt. Damit ist das Rückstrahlvermögen einer Oberfläche gemeint. Vielleicht kennen Sie die »Schneeblindheit«, die entsteht, wenn die UV-Strahlen der Sonne nicht nur direkt ins Auge treffen, sondern über die weiße Oberfläche von Schnee und Eis noch eine Extraportion ins Auge geworfen wird. So ähnlich wirkt sich der Albedo-Effekt auch auf die Wärmestrahlen aus. Helle Flächen spiegeln mehr Wärmestrahlung zurück ins All als dunkle. Eisflächen kühlen den Planeten also nicht nur durch ihr Eis, sondern auch durch ihren Spiegeleffekt. Wenn der Spiegel kleiner wird und die abgetauten Flächen statt des weißen den braunen Boden freilegen, beschleunigt sich schlagartig die Geschwindigkeit, mit der das noch verbliebene Eis abtaut.
Wenn Sie das nicht glauben, machen Sie das umgekehrte Experiment mit Ihrem Toaster. Ein weißer Toast speichert anfangs wenig Hitze. Aber sobald er braun ist, wird er auch ganz schnell schwarz. Ein anderes Beispiel aus dem Alltag: Was passiert, wenn man eine Flasche mit Sprudel offen in der Sonne stehen lässt? Die ganze Kohlensäure, sprich das gelöste CO2, geht aus dem Wasser in die Luft und die Limo schmeckt nur noch warm, schlapp und süß, weil die Säure und der Bitzel weg sind. Genau das Gleiche passiert in der globalen Dimension. Die Sprudelflasche sind die Weltmeere, die momentan noch als enormer Puffer unser Klima stabilisieren. Zum einen schlucken sie einen großen Teil des CO2, der sonst direkt in die Atmosphäre ginge. Der Preis ist allerdings hoch, denn auf diese Weise wird aus dem Wasser saurer Sprudel, worunter die Korallen und alle Lebewesen mit einem Kalkskelett leiden. Zum andern schlucken sie die Wärme. Unglaubliche neunzig Prozent der Erderwärmung werden momentan noch abgefedert, weil sie erst mal nicht die Luft und Atmosphäre aufheizen, sondern sich mit dieser Energie das kalte Wasser langsam erwärmt. Damit ist aber auch klar, was für ein Kipppunkt da lauert: Wenn die Meere sich weiter erwärmen, werden Unmengen von CO2 frei, das bislang im Wasser gespeichert ist. Und warmes Wasser kann auch weniger zusätzliche Wärme aufnehmen als kaltes.
Kohlendioxid ist nicht das einzige Treibhausgas, ein sehr viel wirkmächtigeres ist Methan. Beide Gase sind über Jahrmillionen sicher unter der Frostschicht der sibirischen Permafrostböden eingeschlossen gewesen. Wenn diese Tiefkühltruhe aber abtaut, können wir das Gas mit keinem Geld und Gerät der Welt daran hindern, aus dem Boden in die Atmosphäre zu strömen. Der gefrorene Boden in Sibirien und Nordamerika hat Milliarden Tonnen Kohlenstoff eingelagert, etwa fünfzig Prozent des gesamten im Boden gespeicherten Kohlenstoffs weltweit. Er stammt aus Tier- und Pflanzenresten, die sich während und seit der letzten Eiszeit dort angesammelt haben. Klimakiller on the rocks.
Schwirrt Ihnen schon der Kopf? Nein? Dann hätte ich da noch eine weitere planetare Grenze für Sie, über die Sie und ich wahrscheinlich nie spontan nachgedacht hätten – den Kreislauf von Stickstoff und Phosphat. Was zum Teufel haben die beiden mit den planetaren Grenzen zu tun? Die Luft besteht doch zu achtundsiebzig Prozent aus Stickstoff, also wo ist das Problem?
Stickstoff in der Luft tut nicht viel, reagiert nicht wesentlich und stört niemanden. Allerdings haben Menschen Wege gefunden, den Stickstoff zu nutzen und als Dünger in die Erde zu bringen, und dadurch kommt der Kreislauf massiv durcheinander. Der Einsatz von Stickstoff als Dünger ist gigantisch – genauso wie die Erntemengen, die dadurch ermöglicht werden. Einhundertzwanzig Millionen Tonnen Stickstoff, die vorher in der Atmosphäre träge vor sich hinflogen, werden jedes Jahr zu einem Turbo der Landwirtschaft. Wie viel Energie in diesen Mineraldüngern steckt, wurde klar, als in Beirut im August 2020 ein Lager am Hafen explodierte. Mehrere Tausend Tonnen Stickstoffdünger verursachten eine der größten nicht-nuklearen Explosionen der Weltgeschichte. Stickstoff sprengt unsere Vorstellungskraft und die Grenzen des Erdsystems. Er steckt in jedem Maiskolben, der in Südamerika, dort, wo eigentlich Regenwald hingehört, gepflanzt und gedüngt wird, dann in einem Rindermagen in Ostwestfalen landet und schließlich auf zugeschissenen Feldern als Gülle zum Himmel stinkt. Ein Teil des Stickstoffs strömt in Form von »Lachgas« in die Atmosphäre – für den Treibhauseffekt fatal, denn Lachgas heizt 298-mal heftiger auf als CO2.
Stickstoff kann noch über einen anderen Weg ersticken. Da viel zu viel Stickstoffdünger auf die Felder dieser Welt gekippt wird, landet ein Teil mit dem nächsten Regen über Grundwasser, Bäche und Flüsse schließlich im Meer, »düngt« dort weiter und bewirkt ein krankhaftes Algenwachstum. Sinkt das pflanzliche Material zu Boden, verbraucht sein Abbau jeglichen Sauerstoff im Wasser. Alles stirbt. Sacrifice zones nennen Forscher:innen solche Regionen, »geopferte Zonen«, Kollateralschäden des Zuviel.
Für physikalische Systeme wie Eisschilde und die Ozeanzirkulation sind die Grundgleichungen gut bekannt. Schwieriger vorherzusagen sind die Wechselwirkungen für ökologische Systeme wie den Amazonasregenwald oder die borealen Nadelwälder. Johan Rockström erklärt, wie vor gut zwölf Jahren die Tipping Points als Prognosen für eine Zukunft verstanden wurden, die in weiter Ferne lag. Heute ist klar, dass wir schon jetzt voll in Richtung »Hothouse Earth«, einer überhitzten Erde, unterwegs sind. Während ich dies schreibe, hier und jetzt, brennen Wälder, schmelzen Pole, Gletscher und Permafrostböden. Indem wir die planetaren Grenzen ignorieren, bereiten wir uns die Hölle auf Erden. Einer der bekanntesten Klimawissenschaftler, Hans Joachim Schellnhuber, nennt dies die »Selbstverbrennung«. Das »Hothouse« hat keinen Wellnessbereich. Sauna macht nur Spaß, wenn man auch wieder abkühlen kann.