SCHERBENSUCHE IM ERDZEITALTER

»Der Mensch ist gut, aber die Leut᾽ sind schlecht.«

Karl Valentin

Es war 1992 in Brasilien. Ich werde nie vergessen, wie ich das erste Mal in meinem Leben einen Wasserhahn aufdrehte und nichts herauskam. Das ist lange Jahre her, aber dieser Kulturschock hat sich bei mir eingebrannt. Ich war noch Medizinstudent, konnte ein wenig brasilianisches Portugiesisch und erlebte mit, wie eine Stadt notdürftig mit Tankwagen aus der Ferne versorgt wurde, weil die Wasservorräte aus Grundwasser und Staubecken trockengelaufen waren. Was es noch an Wasser gab, wurde sorgfältig aufgefangen und, wo es ging, mehrfach genutzt. Ich sollte bei diesem Trip noch mehr über Wasser und seine begrenzte Verfügbarkeit lernen. Und über das Anthropozän – auch wenn es das Wort damals noch nicht gab.

Ich besuchte einen Freund, den ich auf seiner Reise durch Italien in Assisi im Zug kennengelernt hatte. Adriano, Soziologe, lebte in einer franziskanischen Glaubensgemeinschaft und plante gemeinsam mit seinem Bischof Luiz Cappio eine sehr ungewöhnliche Pilgertour. Sie wollten einmal den Rio São Francisco entlangwandern, von der Quelle bis zur Mündung, ein ziemlich mutiges Unterfangen. Der São Francisco ist über dreitausend Kilometer lang, eine der wichtigsten Wasseradern in Brasilien, und nicht überall gibt es ausgewiesene Wanderwege. Aber wie heißt es in einem berühmten Lied: Caminante, no hay camino / Se hace camino al andar. »Wanderer, es gibt keinen Weg. Der Weg entsteht beim Gehen.« Die Gruppe, der ich mich dann für eine Etappe anschließen konnte, bestand aus drei Männern und einer Frau, die nicht nur im Dienste des Herrn unterwegs waren, sondern auch im Dienste des Flusses. Der stand nämlich kurz vor dem ökologischen Kollaps und das wollten die Pilger:innen zusammen mit den Einheimischen verhindern. Dafür füllten sie an der Quelle eine Flasche von dem frischen, klaren Wasser ab und trugen sie zusammen mit einer Statue des heiligen Franziskus ein Jahr lang in jedes Dorf am Ufer, in jede Stadt, in jede Gemeinde und verbanden die Gottesdienste mit Umweltbildung. Auf diese Weise warben sie an dreihundertfünfzig Stätten für Begegnungen entlang des Flusses, von den Menschen liebevoll Velho Chico, »Alter Chico«, genannt. An der Mündung gab es dann die feierliche Abschlusszeremonie, bei der das Quellwasser aus der Flasche dem Meer übergeben wurde: als Zeichen, wie sauber das Wasser ursprünglich mal gewesen war.

Warum ich das erzähle: Mir wurde bei dieser Reise erst so richtig klar, aus was für einem extrem reichen und privilegierten Land ich kam. Ich lernte zum ersten Mal Menschen kennen, die keinen Stromanschluss hatten, keine Schulbildung, dafür viele Kinder und ein großes Herz. Überall wurde ich willkommen geheißen, durfte mitessen, mitfeiern und im Rahmen meiner Möglichkeiten auch mittanzen. Ich lernte das Land und die Menschen lieben und beneide sie bis heute um ihre Tiefe an Spiritualität und Lebensfreude, zu der viele Europäer nicht mehr gelangen. Ich mochte den Ansatz, die Menschen mit Liedern, mit Ritualen und Zeichen wie einer Pilgerwanderung für den Zustand des Flusses oberhalb ihres eigenen Gebietes zu sensibilisieren und wachzurütteln, in einer Zeit vor Internet und Social Media. Und vor allem durch das persönliche Zeugnis, die Hingabe der Pilger:innen, die nicht als Besserwisser auftraten, sondern als Dienende.

Auch wenn ich den Kontakt zu der Gruppe verloren habe, bleibt mir das Bild derjenigen, die über Tausende von Kilometern nichts als Flipflops an den Füßen hatten. Ich hörte kürzlich von Projektverantwortlichen von Misereor, dass sich nach dieser Tour zwar viele regionale Umweltprojekte bildeten und Teilerfolge erzielt werden konnten, dass aber der Kampf um eingeleitete Industriegifte, Staudämme, Atomkraftwerke und das Überleben der lokalen Fischer mit einem Präsidenten wie dem jetzigen Klima- und Coronaleugner Bolsonaro immer schwieriger werden.

In den Predigten des Bischofs während der Pilgertour kam die Idee von »Gesunde Erde – Gesunde Menschen« schon direkt vor: »Der Fluss und die Menschen sind zwei Seiten einer Wirklichkeit, denn das Blut, das in den Adern der Menschen fließt, ist das Wasser des São Francisco: Wenn der Fluss gesund ist, werden die Menschen gesund sein. Wenn der Fluss krank ist, werden die Menschen krank sein. Und wenn der Fluss zum Sterben kommt, werden die Menschen mit dem Fluss sterben.«

Im Rückblick verstehe ich besser, dass ich durch die Erfahrung am Rio São Francisco eine Vorstellung dessen bekam, was heute »Anthropozän« genannt wird, das Zeitalter des Menschen, der die Dimension seines Tuns und die Auswirkung auf andere und die Zukunft schwer begreift. Praktisch alle Menschen, die ich damals dort kennenlernte, lebten direkt oder indirekt vom Fluss, als Fischer oder in der Landwirtschaft, die auf die Bewässerung angewiesen war; der »Chico« war ihnen auf eine gewisse Art heilig. Aber durch den Bau von Staudämmen und durch die Anschaffung vieler elektrischer Pumpen für den wasserintensiven Anbau von Gemüse für den Export sank die Wassermenge bedrohlich. Zudem wurde der Fluss in Ermangelung einer Kanalisation oder Müllabfuhr zur Entsorgung aller Arten von Abfällen missbraucht. So mischte sich immer mehr Dreck in immer weniger Wasser, je weiter man sich von der Quelle entfernte.

Jeder Einzelne entlang dieses Flusses hatte gar kein schlechtes Gewissen, er tat das, was die anderen auch taten. Man hatte keinen Vergleich, wie lebendig der Fluss noch vor zwei Generationen gewesen war. Ein Phänomen, das in der Umweltpsychologie Shifting baseline heißt – ein unmerkliches, aber stetiges Verschieben der Messlatte. Jeder wurschtelt vor sich hin und meint, sein eigener Beitrag der Entnahme von Wasser und der Einleitung von Abwässern sei minimal angesichts des großen und ewigen Flusses, der schon von den Vorfahren verehrt und besungen wurde. Und doch kann so ein System kippen, wenn sich die Beiträge von Einzelnen millionenfach summieren.

Willkommen im Erdzeitalter, auf dem Planeten der Menschen, willkommen im Anthropozän. Geolog:innen nennen die Phasen der Erdentwicklung »Zäne« und finden dafür jeweils charakteristische Spuren im Gestein. So wie wir uns aus Einschlüssen im Bernstein oder den Abdrücken von Flugsaurierskeletten den Alltag vor Millionen Jahren herleiten, werden in einer Million Jahren immer noch bestimmte Dinge aus den letzten achtzig Jahren unserer Zeit überdauert haben. Ab der Mitte des letzten Jahrhunderts tauchen zum Beispiel Reste von strahlendem Atommüll auf, die es in keiner Steinschicht vor uns gab. Wenn ich wissen will, wie ich früher so drauf war, suche ich im Keller in alten Kisten und finde zum Beispiel Postkarten aus Brasilien. In welcher Zeit wir heute leben, versteht man am besten durch einen gedanklichen Zeitsprung. Was werden künftige Geolog:innen an Überresten aus unserer Epoche in Museen ausstellen? Nespresso-Kaffeekapseln? Autokarosserien anstelle von Saurierskeletten? Jede Menge Knochen von immer derselben Sorte Nutztieren wird die Forscherinnen und Forscher rätseln lassen, welchem Fleischkult wir unsere Zukunft geopfert haben. Auch Beton als eine der »Gesteinsformationen«, die vom Menschen geschaffen wurden, wird auf ewig auffallen. Und Plastik ohne Ende. Ja, wir haben schon jetzt auf dieser Erde einen im wahrsten Sinne des Wortes bleibenden Eindruck hinterlassen.

Christian Schwägerl hat die Geschichte des Anthropozäns tief inhaliert, den geistigen Übervater und Nobelpreisträger Paul Crutzen noch erlebt und mir mit seinen Texten auf der Plattform »RiffReporter« geholfen zu verstehen: »Bisher verschanzten Menschen sich hinter der Formel, ihre Handlungen durch die Milliardenzahl der Menschen zu teilen und daraus abzuleiten, dass man selbst doch nur einen minimalen Teil Verantwortung trägt. Die Zukunftsformel lautet dagegen, seine eigene Lebensweise mal acht, neun, zehn Milliarden zu nehmen und zu sehen, was die Folgen wären.«

Könnte von Kant sein.

Das Wort »Anthropozän« wurde 2014 in das ›Oxford Dictionary‹ aufgenommen. Im selben Jahr wie »Selfie«. Wie stark hängt unsere Selbstbezogenheit damit zusammen, dass wir die Erde – und damit unsere Lebensgrundlage – zerstören?

Der Begriff der Zeitenwende bedeutet ein Umdenken unserer Rolle. Wir haben »die Natur« über Jahrtausende unserer menschlichen Entwicklung als »feindliches Gegenüber« betrachtet. Wir mussten uns verteidigen gegen ihre Willkür, gegen ihre Übermacht, ihre schiere Größe und Gewalt. Wir gaben den Gewittern Götternamen, um sie gnädig zu stimmen. Aber eigentlich war uns klar, dass die Umwelt sich wenig Gedanken über uns machte, und so sorgten wir vor. Wenn es kalt wurde, warfen wir uns Felle über, machten Feuer und erzählten uns Geschichten. Im Kampf ums Überleben war jedes Mittel recht, wir hatten das Recht des Schwächeren auf unserer Seite. In vielen indigenen Kulturen war das sicher anders, mehr ein Wechselspiel, ein Miteinander, da bat man ein Tier um Entschuldigung, wenn man es tötete und verspeiste. Aber es war klar, dass es im Wald immer noch genug Tiere gab. Und während wir immer mehr Menschen wurden und immer aufwendigere Dinge erfanden, bauten und raubten, verpassten wir den Moment, ab dem nicht mehr die Natur die Bedrohung für uns darstellte, sondern wir die Bedrohung für die Natur.

Der Mensch ist heute die wichtigste Spezies für die Gestaltung des Lebens auf der Erde geworden. Die Mikrobiologin Lynn Margulis und der Chemiker, Biophysiker und Mediziner James Lovelock haben Mitte der 1970er Jahre die Gaia-Hypothese entwickelt. Der Name leitet sich von Gaia, der Großen Mutter in der griechischen Mythologie, ab. Demnach können die Erde und ihre Biosphäre wie EIN Lebewesen betrachtet werden, da die Gesamtheit aller Organismen erst Bedingungen schafft, die nicht nur Leben, sondern auch eine Evolution komplexerer Organismen ermöglichen. Im Studium der Mikrobiologie mussten wir »Abstriche« machen, so wie heute beim Coronaschnelltest zum Beispiel aus dem Rachen. Und dann schmierte man diesen Wattebausch auf einen Nährboden in einer Petrischale und schaute, ob etwas anwuchs. Aus einem Bakterium wurden so zwei, aus zwei wurden vier, und so weiter. Und ehe man sich’s versah, war die Schale voll. Aber die Bakterien wachsen nur so lange, bis sie ein Feedback-Signal bekommen. Entweder ist die Schale voll oder die Nährstoffe im Boden sind alle. Oder es ist zu heiß oder zu kalt für die Vermehrung. Irgendwann ist Schluss mit Wachstum.

Unsere Petrischale ist die Erde. Sie ist limitiert, die Nährböden geben nicht endlos mehr her. Aber wer soll uns Menschen im Wachstum stoppen? Der Mensch hat keine »natürlichen« Feinde mehr – außer sich selber. Keiner hat uns seit dem letzten Weltkrieg nennenswert reduziert, und so steuern wir ungebremst auf die Situation zu, dass die knapper werdenden Ressourcen wie Nahrung, Wasser und Lebensraum uns dazu bringen, uns die Köpfe einzuhauen und uns selber zu reduzieren. Wir verstehen nicht, dass die Zeit des ewigen Wachstums längst vorbei ist. Im Anthropozän ist jeder von uns ein »Global Player«, ob wir es wissen, ob wir es wollen, spielt dabei keine Rolle. In einer zunehmend komplexeren Welt macht es zunehmend keinen Sinn, auf andere zu zeigen und DEN Schuldigen zu suchen. Klar ist die Ölindustrie »böse«, aber wer kauft ihr denn das ganze Zeug ab?

Die große Frage ist also: Können wir uns ein bisschen schlauer verhalten als die Bakterien oder wachsen wir einfach blind weiter, überhören alle Signale der Begrenzung, bis wir uns selber in die Knie zwingen und das Erdzeitalter des Menschen vom Menschen befreien? Wer weiß, ob jemand übrigbleibt, um dem nächsten Erdzeitalter einen passenden Namen zu verpassen.