DANN GEH DOCH

Das Einzige, was mich hier noch hält,
ist die Erdanziehung.

Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Was haben wir uns den Kopf zerbrochen, um diese Frage möglichst vorteilhaft für unsere eigene Spezies zu beantworten. Sprache! Fehlanzeige. Kooperation! Fehlanzeige. Sogar das Aufrechtstehen sieht beim Erdmännchen viel niedlicher aus. Jetzt endlich gibt es wieder etwas, worauf wir uns etwas einbilden können: das Verabschieden. Denn nirgendwo sonst im Tierreich sagt man sich gescheit »Bis dann!«. Wer hätte gedacht, dass uns gerade das »Hallo« und »Tschüss« zum Menschen macht!?

Jane Goodall beschrieb schon 1968 die vielen Spielarten der Begrüßung unter Affen: Umarmen, Küssen, Händchenhalten, Verbeugen bis hin zum Inspizieren der Genitalien. Vieles davon kommt einem bekannt vor, wenn auch vielleicht nicht gleich am ersten Abend und in dieser Reihenfolge. Aber was Primaten eindeutig fehlt, ist ein Tschüssikowski-Gen beim Gehen. Haben Menschenaffen nicht genug Sinn für die Zukunft, um zu kapieren, dass man sich immer zweimal sieht? Ein Schimpanse im Kopenhagener Zoo bewies Weitblick. Er versteckte Steine vor den Wärtern, um am nächsten Morgen die Zoobesucher damit zu bewerfen. Aber viel weiter darüber hinaus geht es offenbar nicht. Dazu fehlt unseren nächsten Verwandten das Bewusstsein für die Zukunft und ihre eigene Endlichkeit. Wenn wir Menschen also die Einzigen sind, die weiter vorausdenken können, folgt daraus: 1. Niemand wird uns abnehmen, dass wir uns keine Gedanken über das Überleben machen. Und 2. Wollen wir als menschliche Zivilisation nicht den ganz großen Abschied von der Erde, dann dürfen wir, verdammt nochmal, den Gedanken an die Zukunft nicht ständig verdrängen, sondern müssen so handeln, dass es eine Zukunft geben kann. Die Party soll schließlich weitergehen.

Was uns von den Tieren auch unterscheidet, ist unsere Lebensdauer. Eine Eintagsfliege hat ihre Oma nie kennengelernt, die meisten von uns schon. Großeltern speichern das kulturelle Gedächtnis, die Erzählungen, die Lieder und Geschichten. Und können sie den Enkeln erzählen, während die Zwischengeneration am Ackern ist oder im Homeoffice. Wie in dem Buch ›Die bessere Hälfte‹ von Tobias Esch und mir beschrieben, macht es viel Sinn, vor großen Entscheidungen diejenigen in der Gruppe zu fragen, die schon lange dabei sind. Dann wird man belohnt mit großen Weisheiten: »Zieh dir was an die Füße!« zum Beispiel. Gehen Sie mal in den Zoo: Sie finden kein Tier, das Socken trägt. Weil denen die Großmütter fehlen, die ihnen diesen wesentlichen Beitrag zum Wohlergehen vermitteln – und die auch noch stricken können.

Aber kommen wir zurück zum eingangs erwähnten Verabschieden als Zeichen unserer Intelligenz. Gerade weil das Sichverabschieden so ein zentraler Teil unseres Menschseins ist, nehmen wir es übel, wenn sich jemand auf einer Party mir nichts, dir nichts aus dem Staub macht. Also dreht man besser die große Abschiedsrunde, bei der man die Leute, denen man gerade Tschüss gesagt hat, garantiert noch dreimal trifft. Heimlich abzuhauen, ohne sich fürs Essen und die Einladung zu bedanken, gilt als unhöflich. Wenn nicht gar als un-menschlich, wie die Redensart »davonlaufen wie die Sau vom Trog« beweist. Jede Nation liebt es, negative Eigenschaften nicht nur Tieren, sondern auch den Nachbarvölkern anzudichten. So heißt die besagte Unart in England »french leave«, sich aus dem Staub machen wie die Franzosen. Die Franzosen rächen sich für diese pauschale Unterstellung, indem sie das Phänomen direktemang »s’excuser à l’anglaise« nennen – sich auf die englische Art verabschieden. Ein »polnischer Abgang« hinterlässt ebenfalls keinen guten letzten Eindruck.

Kurz: Das Leben ist ein Kommen und Gehen. Goethe und Howard Carpendale, die beiden großen deutschen Dichter, wären undenkbar ohne den Hang zum dramatischen Adieu, von ›Willkommen und Abschied‹ bis zu ›Dann geh doch!‹. Hätte Hape Kerkeling auch einen Bestseller mit dem Titel ›Ich bin dann mal da‹ gelandet? Ich achte jedenfalls seit dieser Studie viel mehr auf die Nuancen unseres Menschseins. Deshalb möchte ich mich, bevor dieser Text endet, ganz herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie sich dafür interessierten und bis hier gelesen haben. Und sag leise:

Servus!