VOLLES POSTFACH – VOLLES LEBEN?

Nichtstun macht nur Spaß,
wenn man was zu tun hätte.

Können Sie gut Nein sagen? Nein? Dann haben wir etwas gemeinsam. Ich habe immer mehr Neugier als Zeit, mehr Termine, Kontakte und Projekte, als in einen Tag passen. Mich interessieren andere Menschen, andere Ideen, ich bekomme gerne viel mit. Und es ist ja in den digitalisierten Zeiten nicht etwa einfacher oder besser geworden, den Überblick zu behalten, weil ständig neue Kanäle entstehen, die um Aufmerksamkeit batteln. Oder betteln, wie wir früher gesagt hätten. Vielleicht bin ich auch zu doof dazu. Belanglose E-Mails beantworte ich sofort, aber ausgerechnet die wichtigen hebe ich mir auf, um sie mal in Ruhe zu beantworten, wozu es dann nie kommt, weil sie in einer Flut neuer belangloser E-Mails begraben werden, obwohl sie doch ihr rotes Fähnchen der »Wichtig-Markierung« in den Wind halten. Ich hisse innerlich oft nur noch die weiße Fahne. Wie machen das andere?

Die beste automatisierte E-Mail bekam ich von Dan Ariely, einem amerikanischen Sozialpsychologen und Bestsellerautor. Ihn beschäftigt die Frage, warum vernunftbegabte Menschen so häufig unvernünftige Entscheidungen fällen – warum etwa gewinnen wir durch den Einsatz von Computern scheinbar immer mehr Zeit, leiden jedoch unter extremem Zeitmangel? Dan ist einer der besten Kenner der Irrationalität menschlichen Verhaltens, von Selbstbetrug über die absurden Wege, mit Geld umzugehen, bis hin zur Wahrheit über das Lügen. Er wuchs in Israel auf, lehrt und forscht seit 2008 als Professor für Psychologie und Verhaltensökonomik an der Duke University, hält witzige Vorträge, kurzum: Ich wollte ihn unbedingt einmal kennenlernen und interviewen. Also schrieb ich eine wortreiche Erklärung und bekam prompt eine Antwort – eine automatisch generierte:

[Dies ist eine automatische Antwort.]

Lieber Freund,

danke, dass Sie mir geschrieben haben.

Aufgrund meiner Arbeitsüberlastung, meines Interesses an zu vielen Dingen, meiner Unfähigkeit, die Opportunitätskosten meiner Zeit zu berücksichtigen, und meiner generellen Unfähigkeit, Nein zu sagen – in Verbindung mit meinen besonderen körperlichen Einschränkungen –, bin ich einfach nicht in der Lage, allen Bitten gerecht zu werden.

Meiner Gesundheit und meinem Verstand zuliebe muss ich mich auf die Projekte konzentrieren, für die ich mich bereits verpflichtet habe, und die Zeit, die ich mit der Beantwortung von E-Mails verbringe, auf etwa eine Stunde pro Tag verkürzen.

In diesem Sinne bitte ich Sie, Folgendes zu bedenken:

Dann folgte eine lange Liste von Dingen, zu denen er schon etwas gesagt hatte, mit Links zu Filmen, Interviews und Fachartikeln, und als Letztes gab es ein kleines Eingabefeld. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass man am Ende der Mail immer noch das Gefühl haben sollte, ihn kontaktieren zu müssen, standen maximal fünfhundert Zeichen zur Verfügung, verbunden mit der Aufforderung, das bitte als Multiple-Choice-Frage zu formulieren, damit er die Antwort mit einem Klick erledigen könne.

Meine erste Reaktion: was für ein arroganter Sack. Gleichzeitig war ich auch ein bisschen neidisch darauf, wie er sich Zeitdiebe vom Leib hält, online und offline. Ich erschrecke regelmäßig, wenn ich abends auf meinem Handy sehe, wie viel Zeit am Tag ich wieder »smart« verbracht habe. Im Schnitt sind das viele Stunden Lebenszeit, in Schnipseln über den Tag verteilt. Immerhin habe ich mir angewöhnt, längere Telefonate im Gehen zu führen, damit ich auch auf ein paar Tausend Schritte komme. Ausgerechnet in Zeiten des Lockdowns haben die Menschen das Gehen auf zwei Beinen wiederentdeckt. Rhythmisches Gehen macht es uns offenbar leichter, zwischen zwei geistigen Zuständen zu wechseln: dem Fokussieren aufs Detail und dem Weiten des Blickwinkels, dem Betrachten des Gesamtproblems. Der Wechsel in der Betrachtung von Blatt, Baum und Brett vor dem Kopf führt zum kreativen Problemlösen.

Aber grundsätzlich bedeutet mehr Digitalisierung, dass sich die Daten mehr bewegen als der User. Das Gefühl von Geschwindigkeit entsteht im Sitzen, indem wir wie selbstverständlich ein Leben mit second screen führen, einem zweiten parallelen Bildschirm als ständigem Begleiter. Kein Wunder, wenn man nichts mehr aktiv selber »auf dem Schirm« hat, weil man ja die Aufmerksamkeit ständig teilt, halbiert, viertelt und zersplittert. Dabei sagt die Hirnforschung eindeutig: Multitasking ist eine Illusion. Je mehr Fenster wir in Programmen gleichzeitig offen haben, desto mehr schaltet unser Gehirn auf Durchzug.

Bin ich damit alleine? Ich gestehe, dass ich inzwischen auch im Badezimmer häufiger auf einen Bildschirm starre. Ja, schlimmer noch: Wenn ich mich auf dem Weg ins Bad befinde und merke, dass ich mein Handy nicht dabeihabe, drehe ich um, weil mir ein Gang ohne fast sinnlos erscheint, wie vertane Zeit. Selbst auf dem ehemals »stillen Örtchen« toben heute die breaking news des Weltgeschehens. Der Lokus ist global geworden. Mit dem Hintern auf der Schüssel, aber mit dem Kopf immer weiter auf Empfang.

Zurück zu Dan Ariely. Nach sechs Runden E-Mails hatten wir es tatsächlich geschafft, zeitgleich am selben Ort zu sein, am Rande einer TED-Konferenz in Kanada. Ich hatte mit dem Versprechen, ihm die beste Schweizer Schokolade mitzubringen und jederzeit von einer auf die andere Sekunde unser Gespräch abzubrechen, wenn es langweilig würde, tatsächlich seine digitale Schallmauer durchbrochen. Als ich ihn traf, wirkte er wie ein netter Kerl, mehr Student als Professor und keineswegs so abweisend, wie seine E-Mail auf den ersten Blick erschienen war. Ich fragte ihn, wie er entscheide, wem er etwas von seiner Zeit schenken möchte, und warum es uns so schwerfalle, Nein zu sagen.

»Ich bin ein Spieler. Mein Wetteinsatz ist meine Zeit. Wenn alles zu viel wird, wenn die Dinge unübersichtlich werden, triff einfach eine Entscheidung, wette auf eine der vielen Möglichkeiten und schau, was geschieht.« Damit hatte er mich bei einer meiner Urängste getroffen, bei FOMO – the Fear Of Missing Out, der Angst, etwas zu verpassen. Sein Tipp ist radikal: »Sorg dafür, dass dich an einem Abend, den du zu Hause verbringen willst, garantiert keine Nachrichten erreichen können. Wenn du am nächsten Morgen dein Handy wieder anmachst, kannst du dich kurz ärgern, dass es eine Einladung, eine Party, irgendwas Spannendes gegeben hätte. Aber das ist ja schon vorbei. Du musst dich dann nicht mehr grämen, weil du es eh nicht mehr ändern kannst.«

Auf meine Frage, ob er sich auf diese Art Freunde mache, erklärte er mir, dass wir in Wahrheit ja immer irgendwen vor den Kopf stoßen. Jedes Mal, wenn wir Ja zu etwas sagen, haben wir auch Nein zu den Alternativen gesagt. Nein dazu, morgen früh auszuschlafen, Nein zu Zeit mit dem Partner oder den Kindern. Dabei hilft es enorm, den anderen eine klare Struktur mitzukommunizieren, sodass die gleich wissen: Diese Absage wendet sich nicht gegen mich. Sie ist nicht persönlich gemeint.

Ruhe muss man sich leisten können. Dan sieht das auch so: »Zeit verrinnt auf eine andere Weise, als Geld es tut. Trotz aller Mühen, die sein Erwerb mit sich bringen mag, bleibt Geld doch etwas, was sich erneuern kann. Zeit nicht.«

Und wann wird ein Dan Ariely großzügig mit seiner Zeit? »Auf meiner großen Israel-Wanderung im vergangenen Monat ist mir das sehr bewusst geworden: Jeden Tag wanderte ich zusammen mit einem alten Schulfreund von sieben Uhr früh bis sieben Uhr abends. Wir verzichteten auf alles Unnötige, auf die tägliche Rasur etwa, und alle leidigen E-Mails blieben unbeantwortet. Jeden Tag luden wir unterschiedliche Menschen ein, uns zu begleiten. Bekannte aus der Kindheit waren dabei, aber auch Leute, die wir nie zuvor gesehen hatten. Sie konnten sich online bewerben. Die ›Eintrittskarte‹ für jeden, der für eine Etappe neu dazustieß, war klar definiert: eine Peinlichkeit aus dem eigenen Leben mitzuteilen.«

Dan ist eben auch privat Sozialpsychologe: »Normalerweise erzählt jeder erst mal die Dinge von sich, auf die er stolz ist, Erfolge, Titel, Errungenschaften. Das ist doch total langweilig. In dem Moment, wo jemand etwas erzählt, was ihm selber mal schwergefallen ist, was danebenging, entsteht sofort eine völlig andere Atmosphäre. Es entwickeln sich ehrliche, authentische und besonders intensive Gespräche. Das Gefühl echter Freundschaft. Man blickt sich ja nicht ständig an, man geht nebeneinander und es entstehen keine unangenehmen Gesprächspausen, die man zwanghaft füllen muss. Dazu gab es die Las-Vegas-Regel: ›Was auf dem Wanderweg gesprochen wird, bleibt auf dem Wanderweg.‹ So etwas kann man nur durch Zeit erreichen, dafür hätte eine Woche auf keinen Fall genügt. Aber dieser Monat fühlte sich an wie zehn Tage.«

In Coronazeiten gab es plötzlich viele Absagen von Terminen. Nicht alle erlebten das als Belastung, viele sagten sogar, es sei das erste Mal seit Jahren gewesen, dass sie aus ihrem selbst gebauten Hamsterrad herausgekommen seien. Viele soziale Verpflichtungen galten plötzlich nicht mehr. Und jeder hatte die perfekte Entschuldigung: »Würde ja gerne, aber Corona …«

Das passt zu dem letzten Geheimnis, das ich Dan entlocken konnte: die Terminvergabe. Tatsächlich sitzen wir einem Irrtum auf, wenn wir im Kalender einen gemeinsamen Termin suchen, in den kommenden Wochen keinen finden und dann einen für in drei Monaten vereinbaren, weil es da noch so schön »leer« im Kalender ist. Wir ignorieren, dass es bis zu dem Termin in drei Monaten noch viele andere Anfragen für Zeiten geben wird, die nur im Moment noch nicht im Kalender sichtbar sind. Deshalb lohnt sich ein gedanklicher Zeitsprung, bei dem man auf sein erstes Bauchgefühl horchen soll: Wie würde ich reagieren, wenn der Termin drei Tage vorher abgesagt wird? Erleichtert oder betrübt? Und wenn ich ihn wahrnehme: Wo kommt die Zeit dafür her? Wem oder was nehme ich sie weg?

Dan hatte mir mehr Zeit geschenkt als ursprünglich ausgemacht. Seit dieser Begegnung verteidige ich bewusster die Lücken im Kalender als Chancen auf Zeiten der Spontaneität, der Überraschungen, der Fülle. Ich mache keine neuen Termine mehr mit Leuten, über deren kurzfristige Absage ich mich eigentlich freuen würde. Zeit ist kostbarer als Zeug, echte Gespräche sind spannender als Erfolgsgeschichten. Und ich weiß: wenn nichts mehr geht – einfach gehen.