WAS MACHT BIO BESSER?

Letztlich sind wir doch alle aus Bodenhaltung.

Zu der Zeit, als mich meine Mutter zum Einkaufen schickte, gab es noch Rabattmarken. »Payback«, nur ohne elektronische Karte. Ein analoges Heftchen, für das man, sobald es mit den kleinen gummierten Marken gefüllt war, etwas Geld gutgeschrieben bekam. Innerlich klebe ich immer noch Rabattmarken, wenn ich »Bio« kaufe. Ich habe das Gefühl, dafür werden kleine Fleißsternchen auf meinem Karma-Konto gutgeschrieben, und wenn ich davon genügend gesammelt habe, gewinne ich einen Freiflug in ein Urlaubsland meiner Wahl ohne schlechtes Gewissen.

Sind Bioläden eine moderne Art des Ablasshandels für Besserverdiener? Oder ein wirksamer Baustein für eine bessere Welt? »Bio« ist auf alle Fälle eine Erfolgsgeschichte, es ist in den letzten Jahren aus der Nische der eher spaßbefreiten Reformläden mit Brottrunk, Nussschnitte und Rote-Beete-Fastensaft längst in die allgegenwärtigen Discounter vorgedrungen. »Bio« liegt definitiv voll im Trend. 2020 wurden erstmalig zehn Prozent unserer Agrarflächen ökologisch genutzt, beim Obst sogar zwanzig Prozent. Kunden kauften für fast zwölf Milliarden Euro Biolebensmittel, vor allem Milch, Eier und Gemüse.

Was ist das Gegenteil von einem Landei? Ein Stadtei? Dann bin ich eins. Als Berliner habe ich keine Ahnung von Landwirtschaft. Wenn ich wandern gehe, kann ich nicht wirklich unterscheiden, was am Wegesrand gedeiht. Was ich besser kann: Studien beurteilen. Und die haben nicht nur meinen lange gehegten Dinkel-Dünkel etwas in Frage gestellt. Lange glaubte ich auch, Gemüse, Getreide und Obst mit »Bio« drauf müssten doch viel gesünder sein als ihre Verwandten aus der Massen-Mais-Haltung. Bis heute fällt es mir schwer, den Unterschied dingfest zu machen, aber vielleicht ist ja gar nicht das Produkt das Entscheidende, sondern der Prozess der Herstellung. Denn selbst wenn die Biokartoffel nicht per se gesünder ist: Der Boden, aus dem sie stammt, ist und bleibt es.

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Felix zu Löwenstein ist ein echter Prinz mit Bodenhaftung. Als guter Biobauer achtet er nicht nur auf den Acker, sondern auch auf das, was drumherum blüht.

Warum sollte uns das interessieren? Weil wir viel Boden wiedergutmachen müssen, im wahrsten Sinne! Nach Meinung vieler Experten steuern wir auf einen echten Mangel an fruchtbarem Boden und damit an Nahrung zu, weltweit, aber auch in Europa. Was läuft auf dem Acker schief? Ich frage den Landwirt Felix Löwenstein. Eigentlich heißt er Felix Prinz zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg. Nachdem er im Rahmen eines Entwicklungsprojekts auf Haiti mitangesehen hatte, wie der einzigartige Boden aufgrund schwerwiegender Fehler bei der Bewirtschaftung tonnenweise vom Regen ins Meer geschwemmt wurde und so für immer verloren war, stellte er nach seiner Rückkehr vor dreißig Jahren den Familienbetrieb auf Bio um. Als Vorsitzender des Bundes ökologischer Lebensmittelwirtschaft sitzt er in der vom Bundeskanzleramt einberufenen Runde zur Zukunft der Landwirtschaft. Von Löwensteins Rede bei der Eröffnung der Biofachmesse blieb mir ein Bild eindrücklich in Erinnerung. Er nahm aus einem Eimer Erde, hielt sie hoch und sagte: »Der Unterschied zwischen einem lebenden Boden und einem toten Haufen Dreck ist Glyphosat.«

Eine Handvoll Ackerboden enthält mehr Organismen, als Menschen auf dem Planeten leben. Die dünne Krume, die unsere gesamten Nahrungsketten am Laufen hält, hat sich in jahrhundertelangen permanenten Zersetzungs-, Umwandlungs- und Aufbauprozessen in Kombination mit Mikroben und Kleinstlebewesen gebildet, und die halten zusammen. »Dieses Pestizid«, erklärte mir Felix Löwenstein, »stellt eine direkte Gefahr für die menschliche Gesundheit dar. Es ist ein Antibiotikum – was die allermeisten Menschen nicht wissen. Wenn man ein Antibiotikum einnimmt, geraten die Bakterienkulturen im Darm durcheinander und man bekommt Dünnpfiff. Denn auch die guten, für uns wichtigen Bakterien werden umgebracht. Vergleichbares passiert ebenfalls in der Natur – vor allem im Boden!«

Öko-Landwirt:innen lassen sich weniger von chemischen Keulen, sondern lieber von Nützlingen helfen. So unscheinbar eine Florfliege auch daherkommt, sie ist ein echter Blattläuse-Killer! Der Nachwuchs eines einzigen Florfliegenweibchens vertilgt rund 500.000 Blattläuse pro Jahr! Pestizide dagegen sind wirklich die Pest, weil sie nicht vor Ort bleiben, sondern sich durch die Luft und mit dem Grundwasser munter auf die Nachbaräcker überall in der Umgebung verteilen. Bereits 2015 wurde bei 99,6 Prozent von mehr als zweitausend Proband:innen aus Stadt und Land Glyphosat nachgewiesen, egal ob diese »Bio« gegessen hatten oder nicht. Bis heute spielt aber der Ferntransport des Pestizids bei der Bewertung für die Zulassung keine Rolle.

Bioäcker beherbergen im Schnitt über neunzig Prozent mehr Wildkrautarten und Regenwürmer als konventionell bewirtschaftete. Wofür sind Regenwürmer wichtig, wenn man kein Vogel ist? Oder Kandidat im Dschungelcamp? Würmer sind die Animateure der Erdkrume. Sie sorgen für die nötige Lockerheit! Und das spürt man, wenn es regnet. Gibt es ausreichend lockeren und löchrigen Untergrund, können sich sowohl Wasser als auch Würmer im Boden verkriechen und lange dort halten. Ein lebendiger Boden speichert aber nicht nur mehr Feuchtigkeit, sondern auch mehr Kohlenstoff. Das macht den gesunden Boden zu einem oft unterschätzten Verbündeten im Kampf gegen die Treibhausgase.

Wenn den Ackerboden nichts mehr hält, kann er einfach von einem heftigen Regen weggespült werden. Futsch. Für immer. Diese Erosion, die Zerstörung von fruchtbaren Landflächen, passiert heutzutage ständig und überall. Auch in Deutschland. Durch zunehmend auftretenden Stark- und Dauerregen ist gerade in Hanglagen das Risiko hoch, dass die Oberflächen »verschlämmen«. Die Folge können wir in den Alpen beobachten, wenn sich Schlammlawinen durch die Dörfer wälzen. Das war mal Ackerboden. Auch wenn die Erosion des Bodens hierzulande nicht immer schlagartig passiert, summieren sich Millimeter-Abträge im Laufe eines Menschenlebens zu einem Verlust von einem Drittel der fruchtbaren Schicht. Und die kann man in den Mengen nicht einfach so im Gartencenter nachkaufen, sie bildet sich nur äußerst langsam wieder nach.

Insgesamt ist die Landwirtschaft ein echter Klimatreiber. Sie erzeugt rund ein Viertel der gesamten CO2-Emissionen. Und leidet gleichzeitig heftig unter den Extremwettern: Hitze, Dürre und sintflutartige Regenfälle. Der große CO2-Abdruck resultiert aus dem enormen Energieaufwand. Er steckt in der Herstellung von Düngemitteln, im Diesel für die Traktoren, in den Heizungen der Ställe oder Gewächshäuser.

Eine weitere klimaschädliche Dimension der Landwirtschaft kannte ich vorher auch noch nicht. Laut Umweltbundesamt stammten 2018 über sechzig Prozent der gesamten Methan- und fast achtzig Prozent der Lachgas-Emissionen in Deutschland aus der Landwirtschaft. Lachgas (N2O) ist ein Treibhausgas, das rund 300-mal so klimaschädlich ist wie Kohlendioxid (CO2). Die Hauptquellen für beide Gase sind stickstoffhaltige Düngemittel und die Tierhaltung. Weil im Biolandbau überhaupt kein künstlicher Mineraldünger eingesetzt wird, liegt er auch hier in seiner Bilanz gegenüber der konventionellen Landwirtschaft weit vorne. Der Haken: Für den gleichen Ertrag brauchen Biolandwirte mehr Hektar Land und eine höhere Anzahl von Tieren.

Und warum ist bio eigentlich so teuer? Weil es viel mühseliger ist, es zu erzeugen! In bio steckt mehr Handarbeit. Aber dafür gibt der Acker auch in weiter Zukunft noch etwas her. Deshalb lässt Felix Löwenstein in der Debatte »bio gegen konventionell« auch die Behauptung nicht gelten, dass nur mit Dünger und Pestiziden alle satt werden können: »Es ist gerade andersherum. Wenn wir weiter diese intensivierte Landwirtschaft betreiben, werden wir genau dadurch Hunger erzeugen. In einem gesunden Ökosystem hat jeder seinen Platz, es ist ein Zusammenwirken aller Organismen von den Bakterien bis hinauf zu den Wirbeltieren. Jeder verdaut jemand anders, jemand ernährt sich von jemand anderem. Alles hängt mit allem zusammen. Heute ist dieser Faden zum Land abgerissen – und damit das Wissen, dass ein fruchtbarer Boden die Grundlage dafür ist, dass wir als Menschen auf der Erde existieren können.«

Wenn wir bald zehn Milliarden Menschen auf diesem Planeten ernähren wollen, ohne dass wir uns alle im Kampf um Wasser, Ackerfläche und Regionen mit erträglicher Außentemperatur die Köpfe einschlagen, braucht es ein radikales Umdenken in der Landwirtschaft. Warum geht es politisch so unglaublich langsam voran?

»Da sind enorm mächtige wirtschaftliche Interessen im Spiel, nur ein Beispiel: Die konventionellen Betriebe in Deutschland geben laut Agrarbericht 2019 für Düngemittel und Pflanzenschutz 227 Euro pro Hektar aus, ein Ökobetrieb nur 21 Euro, also ein Zehntel. Und so werden Milliarden an Steuergeldern zugunsten von gut organisierten Gruppen wie dem Bauernverband verteilt, obwohl diese Bauern gerade einmal zwei Prozent der Erwerbstätigen stellen. Trotzdem bleiben Massenproteste gegen die Massentierhaltung aus, und die Schäden für kaputte Böden und Dünger- und Güllereste im Trinkwasser werden hingenommen.«

Beim Wald wird inzwischen sehr offen diskutiert, dass ein Forst, der auf maximalen Ertrag durch Monokulturen aus Fichten und Kiefern optimiert wurde, den Veränderungen des Klimawandels nicht standhält und stirbt. Wie ist das mit dem Boden?

»Über Jahrhunderte bestand unsere Kulturleistung in der Landwirtschaft darin, Böden zu entwässern, Moore stillzulegen, Flüsse zu begradigen – also dem natürlichen Wasserkreislauf den Kampf anzusagen. Seit die globale Temperatur immer weiter ansteigt, fehlt uns massiv Wasser in Trockenzeiten, auch zur Kühlung. Wir haben einmal die Bodentemperatur an einem Tag mit circa 37 Grad gemessen. Die Krume, auf der gerade nichts wuchs, erreichte in den oberen Zentimetern Temperaturen von 60 Grad.« Wäsche wird bei 60 Grad gewaschen, damit möglichst viele der Keime danach tot sind. Bei diesen Graden machen sich die besten Bakterien im Boden ebenfalls für immer vom Acker. Was also helfen kann: den Boden möglichst durchgehend bewachsen zu halten, damit die Krume beschattet und gekühlt wird.

Durch Felix Löwenstein lerne ich auch den stillen Skandal um die Biokraftstoffe neu zu sehen, denn die verlockende Idee, Energie vom Acker zu beziehen, war und ist ein teurer Irrtum: »Du kannst für dieselbe Menge Strom entweder 1200 Hektar Raps anbauen. Oder 360 Hektar Silomais für eine Biogasanlage. Oder auf 16 Hektar eine Solaranlage errichten. Oder noch viel besser: Du stellst ein Windrad auf und brauchst dafür nur ein Viertel Hektar.«

Wie könnte die Nachfrage nach bio »normaler« werden? Was zu Hause gekocht wird, ist natürlich jedem überlassen, aber unglaubliche einhundertachtzehn Milliarden Mahlzeiten haben die Deutschen 2018 außer Haus gegessen, und der Trend ist weiter steigend. Betriebskantinen, Bildungs- und Pflegeeinrichtungen verköstigen täglich 16,5 Millionen Menschen in Deutschland. Eine Stadt wie Kopenhagen macht uns vor, was wir tun könnten. Dort haben bereits neunzig Prozent der öffentlichen Kantinen auf bio umgestellt. Auch Berlin schreibt ab 2021 wenigstens fünfzig Prozent Bioanteil im Mittagessen der Grundschulen vor. Können wir uns das leisten? Anders gefragt: Können wir uns leisten, weiter ungestraft billiges Essen anzubieten? Ernährungsbedingte Krankheiten schlagen in Deutschland jährlich mit durchschnittlich 853,65 Euro pro Bürger:in zu Buche, nur leider auf einer anderen Kostenstelle. Aber dafür bekommt man eine Menge Gemüse!

Mein Fazit: Bioprodukte sind nicht unverhältnismäßig teuer. Konventionelle Erzeugnisse sind durch riesige Subventionen unverschämt billig. Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz schlägt in seinem jüngsten Gutachten 2020 ein neues Klimalabel, zum Beispiel in Form einer Ampel, für Lebensmittel vor, um dem Verbraucher eine Chance zu geben, bessere Entscheidungen für sich und die Umwelt zu treffen.

Für einen Berliner Discounter haben Wissenschaftler:innen der Uni Augsburg einmal vorgerechnet, was Lebensmittel kosten müssten, wenn die Umweltschäden eingepreist würden, die bei ihrer Erzeugung entstehen. In den Kosten waren aber nicht nur die Herstellung, sondern auch die versteckten Größen wie beispielsweise Treibhausgase, die Folgen der Überdüngung sowie der Energiebedarf enthalten. Konkret: Fünfhundert Gramm gemischtes Hackfleisch aus konventioneller Herstellung würden nicht mehr 2,79 Euro, sondern 7,62 Euro kosten. Milch würde sich um einhundertzweiundzwanzig Prozent verteuern, Gouda-Käse um achtundachtzig Prozent und Mozzarella um zweiundfünfzig Prozent.

Bei Bioprodukten fielen die Preisaufschläge durchweg geringer aus als bei konventionell hergestellter Ware. Doch auch der Preis für Biofleisch würde bei Berücksichtigung der »wahren Kosten« steigen. Denn die eigentliche klimarelevante Umstellung, zu der tatsächlich jeder selber beitragen könnte, sähe so aus: weniger vom Tier, weniger Fleisch und Milchprodukte – dafür mehr von der Pflanze. Das Bittere für mich: Parmesankäse ist leider lecker und ähnlich klimaschädlich wie Fleisch, weil in einem Stück unfassbar viele Liter Milch kondensiert sind. Parmesan bekäme eine hochrote Kennzeichnung in der Klimaampel, Blumenkohl wäre dafür strahlend grün. Aber Blumenkohl lässt sich so schwer über die Pasta hobeln.

Wir neigen vor uns selber ja zur Hafermilchmädchenrechnung. Mal angenommen, ich reduziere meinen Fleischkonsum. Statt meinetwegen drei Mal die Woche Rindfleisch als Steak oder Burger esse ich nur noch am Sonntag den Festtagsbraten – dann würde ich mich doch zu den Guten zählen. Für das, was ich an Fleischbrutzeln spare, müsste ich doch locker auch mal nach Malle fliegen können, um mich da selber am Strand zu brutzeln. Recherche kann auch weh tun. Laut Mike Berners-Lee, dem Autor von ›How bad are bananas?‹, werden pro Kilo rohem Rindfleisch circa 18 Kilo CO2 freigesetzt. Die Krux: Von dem, was ich durch meinen verringerten Fleischkonsum eingespart habe, kann ich zwar nach Malle fliegen, muss aber das letzte Stück schwimmen. Denn über das Wasser zu laufen, wird bei dem niedrigen Karma-Kontostand auch noch nicht klappen. Und weil der Rückflug eh nicht mehr drin ist, bleibe ich am nachhaltigsten einfach dort. Ich habe ja auch lange geglaubt, mir einen Heiligenschein erwerben zu können, wenn ich überall Licht ausschalte. Auch Quatsch: Mit der Energiemenge, die ein Steak pro Woche verbraucht, könnte ich drei Jahre lang eine 8-Watt-Energiesparlampe durchbrennen lassen. Hoffe, diese Beispiele waren irgendwie erhellend.

Ich frage mich, warum das schlechte Gewissen so oft beim Konsumenten geparkt wird, statt dort, wo es hingehört: in die Politik. Warum wird immer so getan, als wären wir Verbraucher:innen an allem schuld, wenn weder die Preise noch die Prozesse ehrlich und für uns transparent sind. Sehr viel einfacher wäre es doch, wenn die »ehrlichen Preise« nicht erst im Supermarktregal gelten würden, sondern bereits zuvor für die Bauern beim Einkauf von Dünger und Diesel. Ich wäre auch für einen massiven Preisaufschlag für Antibiotika und Pestizide, deren enorme Folgekosten durch die multiresistenten Keime für Krankenhäuser und Patient:innen bisher ebenfalls nirgends einkalkuliert werden. Viele Bauern, und gerade auch die jüngere Generation, möchten sich verändern, sind aber vom jetzigen Subventionsdesaster abhängig. Ein Anfang könnte sein, mit den Milliarden nicht weiter das Falsche zu unterstützen. Dann würden sich vielleicht mehr Landwirte überlegen, auf bio und Gemüse umzuschwenken. Dann hätten wir eine größere Chance auf eine gesunde Erde. Und gesunde Menschen. Und sollten die Regenwürmer einen Lobbyverband gründen: der wäre auch dafür!