Kapitel 5
Das Schwimmen an sich war nicht das Schlimmste. Gut, es war schlimm, keine Frage. Mindestens zehn Jahre lang hatte Lianne kein Hallenbad mehr von innen gesehen, dafür gab es Gründe. Der wichtigste: Sie schwamm nicht gern.
Daran erinnerte sie sich jetzt mit schmerzlicher Deutlichkeit: nie einen lässigen, eleganten Kraulstil gelernt, stattdessen als verkrampfte Brustschwimmerin mit hoch erhobenem Kopf durchs Wasser kämpfen wie Oma Tuck. Heute erst seit fünf Minuten, was gereicht hatte, sie zum Schnaufen zu bringen. Schneller schlagendes Herz, gepaart mit dem Wunsch, augenblicklich aus dem Becken zu klettern, rein ins Café, ein bis zwei Stücke Torte und die Aussicht genießen.
Dennoch war das Schwimmen nicht das Schlimmste. Sondern der Umstand, dass die Niendorfer Schwimmhalle ein Meerwasser-Hallenbad war. Lianne hatte anfangs einen winzigen Tauchversuch gestartet, mit unter Wasser geöffneten Augen, und bereute dieses seither bitterlich. Ihre Netzhäute brannten, Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln, was zum Glück niemand bemerken konnte, da ihr Gesicht ohnehin nass war.
Atemnot, halb verätzte Augen, Schmerzen im Nacken und in den Armen. Genug Argumente, dieses lächerliche Sportexperiment abzubrechen. Aber Lianne wollte es nicht abbrechen. Sie hatte sich geschworen, 500 Meter zu schwimmen, und sie würde 500 Meter schwimmen.
Davon abgesehen würde sie im aktuellen psychischen Zustand – schwerer, innerer Aufruhr – noch ganz andere Dinge tun, wenn es sein musste. Im Schneetreiben bis nach Lübeck wandern zum Beispiel. Blumenkohl essen. Sich nackt in Plastikfolie einwickeln. Fett absaugen lassen. Sogar joggen. Hauptsache, nie wieder diese Zahl auf der Waage sehen müssen, die sie gesehen hatte.
Die noch schrecklicher war als erwartet. Beziehungsweise schrecklich hoch. Lianne hatte eine Zeit lang wie gelähmt darauf gestarrt und sich danach eine Stunde hingelegt, um den Schock zu verarbeiten.
Aber gut. So war es. Und nun war sie hier. Besser Selbstmitleid wegen brennender Augen als Selbstmitleid wegen der Zugehörigkeit zur Elefantenklasse.
Bahn Nummer sieben. Immerhin schon 175 Meter, rechnete man pro Bahn 25 Meter. Wenngleich im Niendorfer Schwimmbad vor dem flacheren Nichtschwimmerbereich eine Absperrung gespannt war. Eine rote Leine mit gelben Plastikkugeln daran verhinderte ein störungsfreies Durchschwimmen der Gesamtlänge. Lianne planschte einfach darüber hinweg, weiterhin mit brennenden Augen und Schmerzen im Nacken und in den Armen und jetzt auch noch in den Schultern.
Außer ihr waren nur wenige Leute im Wasser: vier ältere Damen, ein älterer Herr und zwei junge Mütter – eine mit einem Baby, eine mit einem Kleinkind, das kreischend die kleine Rutsche in Form eines blau-gelben Igels hinunterrutschte. Ein weiterer betagter Besucher mit riesigem, behaartem Bauch saß in einem der grau lackierten Strandkörbe in einer Ecke der Halle. Der Blick durch die gewaltige Fensterfront des Schwimmbads fiel direkt auf die Ostsee, heute unter mildem Himmel samtblau, auf den Wellen glitzerte Sonnenlicht. Etwas weiter entfernt eine Seebrücke, die weit aufs Meer hinauslief, mit einer bunten Konstruktion darauf, ebenfalls eine Rutsche oder ein Spielgerät.
Ein grober Rempler gegen ihre Schulter riss Lianne aus ihren Betrachtungen. Überrascht drehte sie den Kopf zur Seite.
„Entschuldigung.“ Prustend drehte sich eine der älteren Damen im Wasser wieder nach vorn.
„Rückenkraul“, informierte sie knapp und mit tiefer, rauchiger Stimme. „Hab Sie nicht gesehen.“
„Kein Problem.“ Lianne wendete und nahm Bahn Nummer elf in Angriff. Schon 250 Meter. Bergfest. Nicht schlecht. Und nicht schlecht war auch die Badehaube der Rückenschwimmerin: leuchtendes Lila mit aufgesetzten, knallrosafarbenen Plastikblüten. Respekt, dachte Lianne, das muss man sich erst einmal trauen.
„Sie sollten sich das von vorhin an der Kasse übrigens nicht zu Herzen nehmen, Schätzchen“, erklang die Reibeisenstimme neben ihr. Die bunte Badekappe mit ihrer nicht mehr taufrischen Trägerin hatte mühelos zu Lianne aufgeschlossen und glitt nun mit jenem eleganten Kraulstil neben ihr her, den Lianne auch so gern beherrscht hätte – wie ein munterer Senior-Pinguin neben einem vorzeitig gealterten Nilpferd.
„Das vorhin an der Kasse … ach so“, keuchte Lianne. Bitte keine Unterhaltung während ihrer ersten Extremsportübung, dazu fehlte ihr die Puste. Außerdem wollte sie die Szene von vorhin vergessen.
„Ich kenne die Frau an der Kasse“, erklärte die Königin der 70er-Jahre-Badehaube ungefragt. „Grit Nissen. Sitzt da seit dem Krieg. Die Gute ist halb blind.“ Krächzendes Lachen.
„Wie beruhigend“, stieß Lianne hervor. Sie wendete erneut. Bahn Nummer 13 oder 14? Verdammt, sie konnte sich hier nicht unterhalten, wie sollte sie dabei ihre 20 Bahnen korrekt herunterzählen? Abgesehen davon: Die ungebetene Erläuterung beruhigte sie in Wahrheit überhaupt nicht, weil sie vermutlich nicht stimmte.
Die Frau an der Kasse hatte keineswegs halb blind gewirkt. Sie hatte Lianne vielmehr freundlich und aufmerksam gemustert und darauf hingewiesen, dass sie nicht vergessen möge, ab ihrem 60. Geburtstag den Seniorenrabatt einzufordern, der ihr zustehe. Seniorenrabatt! Lianne hatte einige Sekunden lang das Verlangen verspürt, die Frau mit einem kräftigen Schwinger ihrer Sporttasche niederzuschlagen.
„Das hat ja wohl noch ein bisschen Zeit“, hatte eine Dame hinter ihr in der Schlange gebrummt – mit jener Reibeisenstimme, die Lianne gerade über die angebliche Sehschwäche jener Grit informiert hatte.
Lianne hatte dann an der Kasse doch niemanden niedergeschlagen, sondern sich schweigend ihre Tasche geschnappt und war in eine Umkleidekabine geeilt. Geradezu schockiert hatte sie sich in den neuen Badeanzug gezwängt, gekauft in einer der teuren Boutiquen an der Timmendorfer Kurpromenade. Eine demütigende Unternehmung, die Erinnerung an traumatische Momente vor den Spiegeln in den Umkleidekabinen von Sportgeschäften war noch präsent, und damals war Lianne deutlich schlanker gewesen als heute.
Deswegen hatte sie sich gestern in jener Boutique hastig ein riesiges, dunkelblaues Modell geschnappt und sich in Windeseile hineingewunden. Et voilà, hier war sie, im Niendorfer Meerwasser-Hallenbad, in einem engen Badeanzug, neben einer Frau, die mindestens 30 Jahre älter war als Lianne und 30-mal besser schwimmen konnte als sie.
Die rosafarbenen Plastikblüten (Warum trug eine so sportliche Schwimmerin keine dieser glatten Silikon-Press-Badekappen?) hatten Lianne längst überholt und zogen erneut an ihr vorbei.
„Machen Sie hier Urlaub?“, rief die Frau Lianne zu.
„Nein. Ich meine … ich weiß nicht“, gab Lianne atemlos zurück. Bahn Nr. 17, sie war sich relativ sicher.
„Sie wissen es nicht?“ Erneut dieses krächzende Lachen, bevor die Frau zehn Meter vor Lianne wendete.
„Wenn Sie Zeit haben: Ich trinke nach dem Schwimmen immer im Himmel’s Haus einen Kaffee“, rief sie. „Würde mich freuen, wenn Sie sich dazusetzen.“
„Mal sehen“, erwiderte Lianne entkräftet. Noch drei Bahnen. Sie musste sich ihre letzten Reserven wirklich einteilen, konnte nicht überlegen, ob sie Lust hatte, mit einer Rentnerin, die anscheinend einst Mitglied im Olympiakader der deutschen Schwimmelite gewesen war, einen lauen Cappuccino zu schlürfen.
Die letzte Bahn nur noch in Trance. Mit zitternden Beinen erklomm Lianne schließlich die Leiter am Beckenrand, schleppte sich in die Dusche. Warmes Wasser, das zumindest einen Teil ihrer Verspannungen löste. Abtrocknen mit dem flauschigen, blaugrün gemusterten Badetuch, ebenfalls aus jener Boutique.
Knurrender Magen, nach dem Schwimmen kam der große Hunger, erinnerte sich Lianne. „Ein halbes Schwein auf Toast“, hieß ihr früherer Schlachtruf, dann hatte sie sich meist eine mächtige Portion Nudeln reingefegt.
Die würde es heute nicht geben, sondern Salat. Salat. Satt machte der nicht, aber Lianne würde standhaft bleiben und …
Jemand bollerte an die Tür ihrer Umkleidekabine. Lianne zuckte zusammen wie eine gesuchte Straftäterin, wenn das SEK überraschend vorbeischaut.
„Schätzchen?“, hörte sie die mittlerweile vertraute tiefe Stimme. „Sind Sie da drin?“
Lianne grinste. Hartnäckig war die kernige Schwimmerin ja.
„Kommt drauf an, wen Sie suchen.“
„Die Frau, die nicht weiß, ob sie hier Urlaub macht“, kam prompt die Antwort. Lianne grinste noch breiter.
„Das bin ich!“
„Ich geh jetzt ins Café und warte auf Sie“, ertönte es im Befehlston hinter der Tür.
„Wo ist dieses Café denn?“, fragte Lianne rasch.
„Du liebe Zeit“, hörte sie Madame „Goldmedaille im Rückenkraul 1955“ murmeln. „Am Timmendorfer Platz. Wenn Sie’s nicht finden – fragen Sie nach dem Café Möchtegern. Das kennt dort jeder. Ich hoffe, Sie trödeln nicht allzu sehr herum.“
„Okay! Ich trödel nicht.“
Wie könnte ich das auch wagen, fügte Lianne in Gedanken hinzu. Die Ansage war ja deutlich.
Es war nicht einfach, mit der Sporttasche (ebenfalls neu, an der Kurpromenade hatten sie wegen Liannes ehrgeiziger Vorsätze bereits gute Geschäfte gemacht) auf dem Gepäckträger und der Handy-Navigation in der Hand Fahrrad zu fahren. Ein klappriges, rostrotes Fahrrad etwa aus jener Zeit, in der Liannes neue Bekanntschaft ihre Medaillen im Rückenkraul gewonnen haben musste. In puncto Ausstattung ließ die Ferienwohnung einige Wünsche offen.
Vorsichtig radelte Lianne über den großen Platz vor der Niendorfer Seebrücke, dann die Promenade entlang. Links Appartementhäuser, ein paar 70er-Jahre-Bausünden und einige hübsche Einfamilienheime, rechts der Strand. Lianne erhaschte über die Dünen hinweg immer wieder einen Blick darauf, wenn sie nicht gerade auf ihr Handy oder nach vorn sah, von wo ihr vereinzelte Spaziergänger entgegenkamen.
Ein Spielplatz, dann eine Linkskurve, und Lianne fand sich am Niendorfer Hafen wieder. Dort lagen nur wenige Schiffe im Wasser, Ausflugsschiffe, vermutete Lianne, vielleicht wurden sie auch für Seebestattungen genutzt. Die schönen Segelyachten und teuren Motorboote waren gewiss im Winterlager.
Am Kai einheitlich gestaltete Fischbuden, eine hatte sogar geöffnet, ein Mann mit einer weißen Plastikschürze säbelte einem großen Fisch den Kopf ab, einem Dorsch vielleicht. Lianne hätte gern angehalten und Fisch gekauft, aber sie hatte keine Zeit, sie war verabredet, mit einer strengen Dame, und sie sollte ja nicht „allzu sehr herumtrödeln“.
Die rot asphaltierte Strandstraße entlang strampelte sie Timmendorf entgegen. Ein Wäldchen in einer Kurve, das Ortsschild „Timmendorfer Strand“, wieder Häuser, jetzt links und rechts, eine bunte Mischung: große, neu und steril wirkende Appartementhäuser, daneben wieder 70er-Jahre-Sünden, hier allerdings meist in Form von Hotels, dazwischen hübsche Villen, Jahrhundertwende, schätzte Lianne, einige offenbar noch als Pensionen betrieben, dazu ein schneeweißer Komplex aus drei nebeneinanderliegenden Villen hinter einer Front aus Garagen, die mit weißen Rolltoren verschlossen waren. Waren das diese asiatischen Bauten, von denen die nette Britt aus dem Kiosk erzählt hatte?
Nun begann die Strandallee mit ihren Boutiquen und Galerien, vorne ragte der wasserlose Brunnen des Timmendorfer Platzes empor.
Lianne fuhr über die ockerfarben gepflasterte Fläche, hielt nach dem Café Himmel’s Haus Ausschau, wahlweise Café Möchtegern, egal, Hauptsache, sie entdeckte ihre Schwimmbad-Bekanntschaft mit der Vorliebe für bizarre Badehauben.
Was dann nicht besonders schwer war. Unübersehbar prangten die Schriftzüge Café Himmel’s Haus und Café Möchtegern an einer beigefarbenen Markise, die von einem Vordach herabhing, unter dem sie allen Ernstes Tische und Stühle aufgebaut hatten, und Heizpilze. Hier oben sitzen sie offenbar bei jeder Jahreszeit draußen, dachte Lianne.
Tatsächlich hockten zwei Raucherinnen an einem Tisch, rote Decken über die Knie gebreitet, und Lianne spürte zum ersten Mal keinen Frust, sondern große Dankbarkeit dafür, dass sie seit ihrem grässlichen Absturz mit Rotwein und Kräuterlikör keine Zigarette mehr angefasst hatte. Die ersten Tage schienen nicht auszuhalten, Lianne hatte sogar vor Verzweiflung geweint und sich zweimal auf den Weg zum Tabakladen gemacht, war dann aber auf halber Strecke wieder umgekehrt. Heute jedoch fühlte es sich richtig gut an, nicht zu rauchen.
Ihre Schwimmkameradin schien keine Raucherin zu sein, jedenfalls saß sie nicht draußen, wie Lianne erleichtert registrierte, denn ihre nassen Haare steckten unter einer viel zu dünnen Mütze, einer Stadtmütze, zu schwach und verzagt für den Winter an der Ostsee.
Warmes Licht hinter den weißen Sprossenfenstern des Cafés. Entschlossen trat Lianne ein und sah sich um. Große, braune Steinfliesen, dunkles Holz, zahlreiche Tische, Ledersessel und Lederbänke, schön gerahmte Fotos aus vergangenen Zeiten an den cremefarbenen Wänden.
„Hier bin ich!“ Eine ältere Dame winkte von einem der Fenstertische an der Seite. Lianne trat auf sie zu, reichte ihre Hand über den Tisch.
„Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt“, sagte sie. „Ich bin Lianne Paulsen.“
„Angenehm.“ Lianne meinte, einen ironischen Unterton aus der rauchigen Stimme herauszuhören. „Ich bin Thea Harms, aber sag einfach Thea, das macht hier jeder.“
Thea steckte in einem plüschigen, hellblauen Mohairpullover mit tiefem Ausschnitt, in dem eine schwere und sehr wertvoll aussehende Goldkette baumelte. Sie hatte lange, mit offenbar echten Steinen besetzte Ohrringe angelegt und trug eine überdimensionale, an den Rändern ebenfalls mit glitzernden Steinen besetzte Brille. Die Lippen für ihr Alter ungewöhnlich voll (aufgespritzt, hundertprozentig, dachte Lianne) und leuchtend rosa geschminkt, die Augen dunkelgrau umrandet, dazu großzügige Streifen Rouge auf den Wangen. Theas weißes, in Wellen um den Kopf gelegtes und schon etwas ausgedünntes Haar wies einen leichten Stich Lila auf. Ihre Gesamterscheinung weckte Gedanken an die späte Hildegard Knef, fehlte nur noch, dass sie „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ anstimmte.
„Setz dich, Schätzchen, ich meine Lianne, ich sage einfach Du, das ist dir sicher auch lieber.“
Thea wies auf den Stuhl gegenüber, Lianne folgte ihren Anweisungen.
„Lianne. Das ist ein ungewöhnlicher Name“, stellte Thea fest und rührte in ihrem Tee.
„Ja. Es ist eine Abkürzung. So werde ich schon ewig genannt, seit meiner Kindheit.“
„Und wofür ist es eine Abkürzung?“ Thea starrte sie unerbittlich an. Lianne seufzte innerlich. Eine hartnäckige Dame, diese Thea.
„Eigentlich heißte ich Elisabeth Annegret“, räumte sie widerstrebend ein. „Aber diese Namen mochte ich nie, niemand aus meiner Generation heißt so, das klingt …“
„Alt“, unterbrach sie Thea. „So wie ich. In meiner Generation gibt es eine Menge Elisabeths und Annegrets.“
„Entschuldigung“, erwiderte Lianne verlegen. „Ich wollte nicht unhöflich sein. Es ist nur so, dass mir Lianne besser gefällt.“
„Schon gut.“ Thea winkte mit einer herrischen Geste eine Kellnerin herbei.
„Was möchtest du?“, fragte sie.
Liannes Magen verlangte nach einem riesigen Schnitzel mit einem Berg Pommes. Aber dem durfte sie nicht nachgeben. Sie beschwor die Zahl auf der Waage vor ihrem geistigen Auge herauf und ließ eine Vision von Knäckebrot, Magermilchjoghurt und hauchdünnen Hähnchenbrust-Streifen sowie gefühlten Tonnen von Äpfeln und Orangen, Tomaten und Gurken folgen.
„Ich hätte gern einen Milchkaffee und einen kleinen Salat“, hörte sie sich sagen und kam sich standfest und tugendhaft vor.
Ein lautes Krachen ertönte, Thea und Lianne fuhren herum. Eine schmale, verhärmte Blondine jenseits der 50 war am Tresen samt Barhocker zu Boden gegangen. Mühsam rappelte sie sich auf, starrte aggressiv in die Runde.
„Was glotzt ihr denn so?“, gab sie undeutlich von sich.
„Schon gut, Sigrid.“ Ein kräftiger Kellner legte ihr eine Hand in den Rücken, schob sie sanft, aber unnachgiebig hinaus.
„Sigrid Steenkamp“, berichtete Thea emotionslos. „Von ihrem reichen Mann sitzen gelassen, seither gibt’s den Prosecco schon am Vormittag.“
Bevor Lianne etwas dazu äußern konnte, fuhr die ältere Dame schon fort: „Du bist auf Diät.“
„Ja, ähm, ein bisschen … nur weil ich einen Salat bestellt habe?“ Das nenne ich einen rasanten Themenwechsel, dachte Lianne.
„Auch. Du siehst nämlich, mit Verlaub, nicht so aus, als hättest du in den vergangenen Jahren überwiegend Salat gegessen. Dass du es jetzt tust, deutet auf eine kürzlich begonnene Diät. Dazu noch dein Einsatz im Schwimmbad …“
„Was ist mit meinem Einsatz im Schwimmbad?“ Diese Thea war direkter, als Lianne es sich gewünscht hätte.
„Schlechter Schwimmstil.“ Thea nahm einen Schluck Tee aus ihrem Glas, an dem bereits ein beträchtlicher Teil ihres rosafarbenen Lippenstifts klebte.
„Du hast eine schlechte Haltung, wie eine Ente“, referierte sie. „Wahrscheinlich tut dein Nacken ziemlich weh. Trotzdem hast du tapfer deine Bahnen heruntergekämpft. Ich nehme deshalb an, dass du mit Sport deine Abnahme beschleunigen willst.“
Lianne verschlug es die Sprache.
Zum Glück brachte in diesem Moment die Kellnerin Liannes Milchkaffee. Lianne rührte darin herum. Genau genommen entsprach das, was Thea gesagt hatte, ja der Wahrheit. Lianne ärgerte sich nur deshalb, weil sie sich durchschaut fühlte. Aber war das wirklich so schlimm?
„Du hast recht“, seufzte Lianne. „Mein Schwimmstil ist erbärmlich. Und früher war ich schlanker, und jetzt bin ich es nicht mehr, möchte es aber gern wieder sein.“
„Dachte ich mir.“ Thea schmunzelte. „Aber das sind lösbare Probleme, Schätzchen. Ich meine, wenn du willst, kann ich dir helfen, deinen Schwimmstil zu verbessern. Ich war früher Landesmeisterin, musst du wissen.“
„Dachte ich mir“, gab Lianne zurück. Thea stutzte, dann lachte sie.
„Gemütlich ist es hier.“ Lianne blickte sich um. „Nur den Namen finde ich irritierend.“
„Möchtegern?“ Thea zuckte die Schultern. „Ach, das hat sich so ergeben. Früher hieß das Café nur Himmel’s Haus, weil es Anfang der 1950er-Jahre von einem Kapellmeister namens Hermann Himmel eröffnet wurde. In den 70ern avancierte es dann zum Promi-Treff, deshalb entstand der Spitzname Café Möchtegern. Und den haben sie irgendwann offiziell an die Tür und auf die Speisekarten geschrieben.“
„Gute Idee.“ Lianne nickte. „Sehr einprägsam.“
„Tja. Das gibt es nur in Timmendorf.“ Thea lachte wieder. „Obwohl – das stimmt gar nicht mehr. Seit ein paar Jahren gibt es ein zweites Café Möchtegern in Scharbeutz. Das hat den Timmendorfern überhaupt nicht gefallen.“
Wieder trank sie Tee.
„Jetzt mutmaße ich weiter“, fuhr Thea fort. „Du bist hier in Timmendorf, im Februar. Urlaub ist es nicht, sagst du, aber einer Arbeit gehst du offenbar auch nicht nach. Du bist weggelaufen, würde ich sagen.“
Zufrieden lehnte sie sich zurück, wartete Liannes Reaktion ab.
Lianne starrte ihre neue Bekannte verblüfft an.
„Warst du mal bei der Polizei?“, fragte sie.
Thea lächelte fein.
„Ach was. Gute Menschenkenntnis, mehr nicht. Also: Was treibt dich hierher?“
Lianne schluckte. Einerseits fühlte sie sich bloßgestellt. Andererseits wollte sie sich gern jemandem anvertrauen – schon wieder, schließlich hatte sie Britt Peters gleich beim ersten Treffen am Kiosk von ihrem verkorksten Leben erzählt.
Die Kellnerin brachte den Salat für Lianne sowie eine mächtige, gebratene Scholle für Thea.
„Also gut“, sagte Lianne, während sich Thea über ihren Teller hermachte. „Ich bin tatsächlich weggelaufen. Sozusagen.“
Thea winkte mit ihrer Gabel, anscheinend ein Zeichen dafür, dass Lianne weitererzählen sollte.
„Es war alles so verfahren. Meine Situation. Ich habe nur noch gearbeitet, mein Mann auch.“ Lianne spießte eine Tomate auf. „Viel Stress eben. Jedenfalls hat mir mein Mann gesagt, dass er eine andere hat. Der Klassiker eben.“
Es war unangenehm, es auszusprechen, doch interessanterweise tat der Gedanke an Matthias und Mareile weniger weh als noch bei Liannes Ankunft in Timmendorf. Vielleicht nahm der Schmerz ab, je öfter sie davon erzählte? Dann sollte sie sich in der Fußgängerzone auf eine Kiste stellen und ihr Unglück jedem entgegenschreien, der die Kurpromenade entlang flanierte. „Speaker’s Corner“ für verlassene Ehefrauen. Eine innovative Form der Gesprächstherapie. Lianne musste grinsen.
„Was ist so lustig daran, dass dein Mann eine andere hat?“, hakte Thea nach.
„Das ist natürlich nicht lustig.“ Lianne räusperte sich. „Ich bin nur gedanklich etwas abgeschweift.“
„Ist sie jünger, diese andere?“
Lianne nickte.
„Ja. Deutlich jünger. 29, um genau zu sein. Ich sage ja: ein Klassiker.“
„Hübsch? Schlank?“
„Logisch.“ Lianne atmete tief ein. Würde sie es jetzt aussprechen können?
„Sie heißt Mareile. Die Freundin von meinem Mann“, setzte Lianne an. „Und sie ist schwanger.“
„Oh.“ Thea zog die Augenbrauen hoch, legte Gabel und Messer korrekt nebeneinander auf den leer gegessenen Teller. „Dann ist es wohl etwas Ernstes.“
„Ja. Ja, das kann man so sagen.“ Lianne starrte die ältere Dame an. Etwas Ernstes. Schön auf den Punkt gebracht. Und plötzlich, vollkommen überraschend und nicht aufzuhalten, stieg ein großes, unbezwingbares Lachen in ihr auf, kletterte mühelos über den schweren, schwarzen Klumpen hinweg, der seit jenem grässlichen Tag tonnenschwer in Liannes Magen lag und schoss nach draußen.
Lianne warf den Kopf in den Nacken und lachte los, laut und ungebremst, ohne einen Gedanken an umsitzende Gäste zu verlieren.
Sie lachte und lachte, Tränen liefen ihr das Gesicht hinunter, aber sie hatte keine Kraft, sie wegzuwischen. Etwas Ernstes. Wunderbar. Ja, in der Tat, Lianne Paulsen war etwas Ernstes widerfahren oder vielmehr ihrem Mann, ihrem vermutlich künftigen Ex-Mann, etwas Ernstes, Junges, Hübsches, Schwangeres, dessen aussortierte Vorgängerin sich gerade albinokaninchen-
rote Augen im Meerwasser-Hallenbad geholt hatte und jetzt im Café Möchtegern Salat aß, mit einer grell geschminkten Oma, und sich kaputtlachte.
Lianne beruhigte sich nur langsam, schnappte nach Luft. Thea reichte ihr eine Serviette.
„Geht’s wieder?“
„Ja. Danke, es geht.“ Lianne wischte sich mit der Serviette übers Gesicht. „Das hat gut getan. Danke. Und entschuldige das Aufsehen.“
„Interessiert hier keinen.“ Thea machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das Café Möchtegern hat schon ganz andere Auftritte gesehen.“
Die beiden Frauen sahen aus dem Fenster. Draußen herrschte immer noch das sanfte, diffuse Licht der von dünnen Wolken verdeckten, schwachen Wintersonne.
„Hast du denn inzwischen mal mit deinem Mann gesprochen?“, durchbrach Thea die Stille. „Weiß er überhaupt, wo du bist?“
„Gesprochen habe ich nicht mit ihm.“ Lianne schüttelte den Kopf. „Ich habe seine Nummer blockiert, gleich am ersten Tag, als ich hier angekommen bin.“
„Vielleicht denkt er, dass dir etwas passiert ist.“
„Glaube ich nicht“, erklärte Lianne. „Ich habe einer Freundin Bescheid gesagt. Damit sie sich keine Sorgen macht. Bei der könnte Matthias nachgefragt haben. Hat er höchstwahrscheinlich auch, so, wie ich ihn kenne.“
„Und jetzt? Was willst du jetzt machen?“
„Mit Matthias?“ Lianne runzelte die Stirn. „Keine Ahnung. Nichts. Scheiden lassen? Ich weiß nicht.“
„Das meine ich nicht. Was willst du generell machen – zum Beispiel hier, in Timmendorf?“, fragte Thea.
„Ebenfalls keine Ahnung.“ Lianne kratzte mit ihrem Löffel in der leeren Kaffeetasse herum. „Wenn ich länger bleiben will, muss ich mir einen Job suchen. Ich habe etwas Geld von unserem Konto abgeräumt, aber das wird nicht ewig reichen.“
„Als was hast du gearbeitet? Und wo kommst du überhaupt her?“ Thea schien alles wissen zu wollen.
„Aus Bremen“, erwiderte Lianne. „Ich habe dort die Marketingabteilung einer großen Messegesellschaft geleitet. Viel Arbeit, viel Geld.“
„Und dann gekündigt?“
„Nein.“ Lianne wurde rot. Wie peinlich. Was sollte Thea nun von ihr denken?
„Ich habe mich auch nicht bei meinem Chef gemeldet. Nicht so richtig. Nur eine kurze Krankmeldung geschickt. Mein Handy ist voll mit Nachrichten von ihm. Der ist wahrscheinlich stinksauer auf mich, und vermutlich bin ich bereits fristlos gekündigt“, fuhr sie fort. „Das war blöd von mir. Aber ich konnte einfach nicht. Ich kann es nicht erklären.“
„Mir musst du es ja auch nicht erklären“, erwiderte Thea. „Aber deinen Chef solltest du anrufen. Gehört sich so.“
Lianne nickte brav wie eine Grundschülerin, die verspricht, künftig nicht mehr auf dem Flur zu rennen. Hajo anrufen. Na toll. Der würde ausflippen vor Freude, haha.
„Willst du dir wieder einen Job im Marketing suchen?“, setzte Thea ihre Befragung fort.
Lianne horchte in sich hinein. Wollte sie?
„Nein, auf gar keinen Fall. Ich möchte nicht mehr im Marketing arbeiten.“
„Sondern?“ Du liebe Güte, Thea schien früher beim BND oder der Kripo beschäftigt gewesen zu sein, ihrer Verhörtaktik nach zu urteilen.
„Ich weiß es nicht. Irgendein Job würde mir wohl erst einmal reichen. Im Kiosk. Oder meinetwegen auch als Zimmermädchen oder Kellnerin, da müsste sich doch etwas finden lassen, oder nicht?“
„Sicher.“ Thea sah Lianne abwartend an. „Ich hätte etwas für dich.“
„Du? Für mich?“ Lianne war verwirrt. Thea musste längst in Rente sein. Welchen Job könnte sie ihr anbieten?
„Ja. Strandkörbe“, gab Thea zurück.
„Strandkörbe?“
„Du kennst ja wohl Strandkörbe?“, gab Thea zurück. „Ich habe welche. Recht viele, wenn ich das so sagen darf.“
„Du hast eine Strandkorbvermietung?“, dämmerte es Lianne.
„Vier“, antwortete Thea trocken. „1000 Körbe insgesamt. 750 in Timmendorf, 250 in Niendorf. Harms-Strandkörbe. Ist zusammengerechnet die größte Vermietung hier oben. Läuft gut. Ich bin versorgt.“
„Strandkörbe.“ Lianne überlegte. „Aber das ist doch ein Saisongeschäft. Ich meine, da brauchst du doch jetzt niemanden, oder?“
„Hast du eine Ahnung.“ Thea verzog das Gesicht. „Die Körbe sind derzeit alle im Lager. Die müssen fit gemacht werden. Um Ostern herum bringen wir die ersten raus. Jede Menge Plackerei. Dann wird vermietet, da gibt es keine Pause – wenn das Wetter mitspielt. Dann geht es im Herbst zurück ins Lager, und dann geht das ganze Spiel wieder von vorne los.“
„Also ich soll Strandkörbe vermieten?“, fragte Lianne vorsichtig. „Ab Ostern?“
„Ja. Und ab sofort kannst du im Lager helfen.“
„Ich bin aber handwerklich eher ungeschickt“, merkte Lianne an.
„Egal. Putzen kannst du die Körbe ja wohl“, sagte Thea ungerührt. „Reich wirst du nicht, aber ich zahle einen vernünftigen Stundenlohn. Dann bist du beschäftigt und kannst wieder einen klaren Kopf bekommen.“
Lianne schwieg. Wollte sie das wirklich – Strandkörbe putzen? Warum eigentlich nicht? Sie hatte ohnehin nichts zu tun. Außerdem war es überaus freundlich von Thea, ihr einen Job anzubieten, nur, weil sie ein einziges Mal zusammen im Café saßen.
„Gut. Okay“, hörte sie sich sagen. Lianne streckte die Hand aus. „Ich mach’s. Danke.“
Thea lächelte und schlug ein. Dann winkte sie auf ihre herrische Art die Kellnerin herbei.
„Wir hätten gern Sekt! Darauf müssen wir anstoßen.“
Lianne nahm dann aber doch lieber einen O-Saft. Guter Vorsatz war guter Vorsatz. Da konnte ihre neue Chefin die aufgemalten Augenbrauen ihretwegen so hoch ziehen, bis sie ihr am Hinterkopf wieder hinunterrutschten.