Kapitel 11
Hässlich, aber eine Goldgrube: Stecos Bude war eine Besonderheit, das musste Britt anerkennen. Neidlos anerkennen, übrigens – denn wenngleich bei der Saisoneröffnung des Strand-Treffs ungefähr dreimal so viel los war wie an einem guten Tag an Britts Kiosk, hätte sie dennoch nicht tauschen mögen. Es war zu viel – die wogende Menschenmenge, der Lärm, das Chaos hinter dem Tresen und die verzweifelte Hast des Servicepersonals. So arbeitete Britt nicht gern.
Musste sie auch nicht, weshalb sie diesen Abend umso mehr genoss. Zusammen mit Meeno hatte sie sich früh auf den Weg gemacht, trotzdem hatten sie nicht zu den ersten Gästen gezählt. Etwa 50 Menschen standen bereits rund um den sechseckigen, weißen Pavillon an der Promenade, unweit des Hotels am Meer. Der Strand-Treff: ein in die Jahre gekommenes, schmuckloses Gebäude, abblätternde Farbe, nach drei Seiten offen, und aus diesen Öffnungen heraus wurden fleißig Getränke gereicht.
Der kleine Platz davor hatte sich rasch weiter gefüllt, Gäste dicht an dicht, als um 19 Uhr die Jagdhörner erklangen. Steco ließ als traditionellen Scherz zum offiziellen Saisonstart stets das Signal „Aufbruch zur Jagd“ vom Band laufen, zur Freude der Feiernden, die diesen Auftakt mit Jubel und Applaus begrüßten.
Er weiß schon, wie er aus der Masse heraussticht, dachte Britt, ein Tablett durch die Menge balancierend, entschlossen, die hart erkämpften Getränke darauf zur Not mit rücksichtslosem Ellenbogeneinsatz zu schützen. Unmittelbar auf die Jagdhörner folgten heitere Schlagermelodien, ebenfalls eine Spezialität des Strand-Treffs als Gegengewicht zu den schicken Bars und Klubs mit elektronischer Chillout-Musik. Jahrzehntealte Dauerbrenner von Roberto Blanco bis Roland Kaiser brachten die Meute in Wallung.
„Hier sind wir!“ Meeno winkte ihr hektisch von einem Stehtisch aus zu an dem er mit Thea, Sigrid Steenkamp und Gustav Kiekbusch stand.
Britt wühlte sich durch, stellte erleichtert das Tablett ab.
„Britt, grüß dich.“ Kiekbusch, wie immer im Anzug, hob sein Bierglas und prostete ihr zu. Sigrid tat das Gleiche mit ihrem Sektkelch.
„Gruß zurück.“ Britt reichte Meeno und Thea je ein Glas. Ein weiteres blieb übrig. Britt hatte es vorsorglich für Lianne mitgebracht.
„Ist es das, was ich denke?“, fragte Thea mit Blick auf die dunkle Flüssigkeit, auf der zwei grüne Blätter schwammen wie Entengrütze auf der Oberfläche eines Grabens voller Klärschlamm.
„Ja, ist es“, erklärte Britt fröhlich. „Mir war heute so nostalgisch zumute.“
„Na dann, auf einen bunten Abend“, bemerkte Meeno trocken, während Thea die Augenbrauen hochzog. Sie stießen mit Britt an und nahmen einen tiefen Schluck.
„Wo ist denn Lianne?“, fragte Britt. „Sie sollte längst hier sein.“
In diesem Moment entdeckte sie die Freundin, die sich suchend durch die Leute drängelte. Sie sieht mittlerweile ganz anders aus, ging es Britt durch den Kopf. Eine neue Frisur, die Haut nicht mehr fahl und grau, sondern frisch und klar, dazu die bemerkenswerten veilchenblauen Augen. Noch nicht gertenschlank, aber durchaus schmaler und proportionierter als bei ihrer Ankunft. Heute sahen einige Männer Lianne interessiert oder wenigstens nachdenklich hinterher.
„Hab ich euch endlich gefunden“, seufzte Lianne, als sie den Stehtisch erreichte. „Dass hier so viel los ist, hätte ich nicht gedacht.“
„Dann kennen Sie Timmendorf wohl noch nicht so gut.“ Gustav Kiekbusch reichte ihr die Hand.
„Gustav Kiekbusch mein Name. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Paulsen, Lianne Paulsen.“ Sie schüttelte zunächst Kiekbusch und dann der ihr schon vom Sehen bekannten, verhärmten Frau neben ihm – „Sigrid Steenkamp, Küsten-Appartements“ – die Hand.
„Was machen Sie hier?“, fragte Kiekbusch neugierig. „Ich meine, ich habe Sie schon öfter gesehen.“
„Lianne ist eine Mitarbeiterin von mir“, schaltete Thea sich unwirsch ein. „Und sie wird nicht so gerne ausgefragt.“
„Schon gut, Thea.“ Gustav Kiekbusch hob beschwichtigend die Hände. „Das war nur ein Versuch, Small Talk zu machen.“
„Trink erst einmal etwas.“ Britt gab Lianne das letzte Glas vom Tablett.
Lianne schnupperte vorsichtig an der dunklen Flüssigkeit.
„Was ist das?“, fragte sie misstrauisch. „Da ist doch Alkohol drin, oder nicht?“
Die Umstehenden lachten.
„Das war ja jetzt süß“, merkte Thea an.
„Natürlich ist das Alkohol“, klärte Britt auf. „Das ist die berühmte Timmendorfer Pfütze. Die muss jeder einmal trinken, der nach Timmendorf zieht.“
„Nein danke.“ Lianne stellte das Glas ab. „Keinen Alkohol für mich, das weißt du doch.“
„Ach komm, du bist schon so lange standhaft.“ Britt lächelte verschmitzt. „Einen kleinen Cocktail darfst du dir gönnen.“
Lianne zögerte. Es stimmte, sie war lange Zeit abstinent geblieben. Und das hier war augenscheinlich ein Traditionsgetränk, das sie besser nicht ablehnte, oder? Wenngleich diese Timmendorfer Pfütze nicht verlockend wirkte.
„Also gut.“ Sie hob das Glas. „Wenn ich auf diese Weise irgendwann eine echte Timmendorferin werde …“
„Gute Entscheidung!“, rief Meeno. „Dann Prost!“
Lianne stieß mit allen an und trank.
„Puh.“ Sie verzog das Gesicht. Der Cocktail schmeckte seltsam – bitter, prickelnd, mit einem leichten Hauch Pesto. Und er war nicht ohne, das merkte Lianne allein an der Art, wie er ihre Kehle hinunterbrannte und im Magen weiterloderte.
„Was ist das?“
„Champagner und italienischer Kräuterlikör, dazu ein wenig Basilikum“, erläuterte Britt gut gelaunt. „Nicht schlecht, was?“
„Geht so“, gab Lianne vorsichtig zurück. „Wer denkt sich denn so etwas aus?“
„Die Entstehungsgeschichte dieser regionalen Spezialität liegt im Dunkeln“, deklamierte Meeno feierlich. „Man sagt, dass einige weise Druiden diesen Trank in grauer Vorzeit um Mitternacht in ihrem Kessel zusammengebraut haben. Seither ist er aus unserem schönen Ort nicht wegzudenken und wird sogar in den heiligen Hallen unserer geliebten Golfer dort droben hinter den grünen Hügeln ausgeschenkt …“
Alle lachten. Lianne nahm noch einen Schluck. So übel war die Timmendorfer Pfütze gar nicht, wenn man den ersten Schreck überwunden hatte. Ihre Augen wanderten umher: eine große Litfaßsäule, dahinter hölzerne Lamellenzaun-Elemente als Sichtschutz vor dem Hotelparkplatz. Dunkelgrüne Kiefern rundherum, ein Stichweg, der zum Strand führte.
„Apropos Golf“, sagte Sigrid Steenkamp. „Gibt es schon etwas Neues zum Anschlag auf das Frühlingsgolfen?“
„Anschlag! Du liebe Güte“, knurrte Thea. „Eine Nummer kleiner geht es wohl nicht?“
„Du weißt, was ich meine“, erwiderte Sigrid ungeduldig. „Ich finde es ja auch übertrieben, aber da sieht man es mal wieder. Wenn es um die oberen Zehntausend geht, ist kein Aufwand zu groß.“
Thea starrte sie kampflustig an – wie immer kräftig geschminkt, heute in einen antik wirkenden Mantel aus Schlangenlederimitat gehüllt. Zumindest hoffte Lianne, dass es sich nur um Imitat handelte.
„Du redest bestimmt von dem Mist, der in dieser Facebook-Gruppe abgesondert wurde, nicht wahr?“, nahm Thea die überrumpelt wirkende Sigrid in die Mangel.
„Na ja, einige gute Hinweise sind doch durchaus dabei“, wehrte sich die Appartement-Verwalterin.
Dem konnte Lianne nicht zustimmen. Unter dem Titel „Wir schützen Timmendorf“ warfen die angeblichen Beschützer des Ortes mit haltlosen Verdächtigungen nur so um sich. Immerhin nannten sie keine vollständigen Namen. Doch auch so konnte man sich zusammenreimen, wer gemeint war, vermutete Lianne, wenn man sich in Timmendorf auskannte. Selbst sie hatte eine Ahnung, wer der „Schweinezüchter“ und die „autonomen Jugendlichen“ sein sollten. Einige User spekulierten: Wer stand gerade vor der Pleite? Wer war ein heimlicher Anhänger einer linksextremistischen Partei? Fast alle forderten „Recht und Ordnung“, mehr Polizei (am besten eine Sonderkommission und ein SEK, hatte Lianne spöttisch gedacht), mehr Security oder eine Bürgerwehr.
„Gute Hinweise, pah.“ Thea leerte den – beachtlichen – Rest ihrer Timmendorfer Pfütze mit einem Zug und warf Meeno einen auffordernden Seitenblick zu. Dieser eilte in Richtung Tresen.
„Lächerliches Zeug steht dort“, fuhr Thea fort. „Denunziantentum im Internet, wie ich es gesagt habe. Und es wird überhaupt nichts nützen.“
„Du bist also in dieser Gruppe?“, hakte Gustav Kiekbusch freundlich nach.
„Ja, wieso? Ich will doch auf dem Laufenden bleiben“, gab Thea schnippisch zurück.
„Alle Achtung, Thea“, sagte Kiekbusch mit der gönnerhaften Miene eines jungdynamischen Aufsteigers, der ausnahmsweise seine greise Oma im Pflegeheim besucht und sich ihre Geschichten anhört. „Ich meine, eine Frau in deinem Alter, und dann noch bei Facebook …“
Lianne spitzte die Ohren. Ungemach drohte dem – auch nicht mehr taufrischen – Anzugträger: Thea war ohnehin schon auf Krawall gebürstet. Lianne wartete gespannt auf die unmittelbar bevorstehende Tirade.
Doch diese blieb aus. Weil drei Meter weiter ein Stehtisch zu Boden krachte, Leute schrien, Gläser zerbrachen. Zwei Männer wälzten sich, ineinander verkeilt, auf der Erde, während die Menge zurückwich. Dann quietschten Bremsen. Eine große, dunkle Gestalt sprang von einem Fahrrad und mit wenigen Schritten zu den Kämpfenden, packte einen von ihnen, warf ihn herum, drehte ihm den Arm auf den Rücken und drückte ihn auf den Schotter des Promenadenweges. Eine Frau kreischte, dann ging die Musik aus.
Noch nie hatte sich Lianne gewünscht, ein Mann zu sein, und in Situationen wie der gerade erlebten verspürte sie erneut tiefe Dankbarkeit dafür, dass ihr dieses Schicksal erspart geblieben war. Grundgütiger, was waren Männer peinlich! Jedenfalls einige von ihnen. Zum Beispiel Ole Martens und Jupp Schmitz.
Es hatte gedauert, die Lage zu klären. Zunächst sah es so aus, als würden sich weitere Kampfhähne in die Auseinandersetzung einmischen. „Massenschlägerei an der Promenade“ – Lianne sah die Schlagzeile vor sich. Das aber hatte Steco abwenden können.
Nachdem der Chef des Strand-Treffs geistesgegenwärtig die Musik aus- und mehrere große Scheinwerfer angestellt hatte, eilte er blitzschnell zum Zentrum des Geschehens, das nun taghell beleuchtet war.
„Ruhe!“, hatte Steco gerufen. „Ruhe! Jeder bleibt an seinem Platz!“ Er hatte wie die Pausenaufsicht auf dem Schulhof geklungen. Die Menge schien in der Bewegung zu verharren. Lianne hörte Britt neben sich kichern und musste trotz des Schrecks grinsen.
„Was ist hier los?“ Steco blickte auf einen der beiden herab, die den Tisch umgerissen hatten. „Ole, ich glaub es ja nicht!“
Verlegen rappelte sich Ole Martens auf. Die türkisfarbene Jacke voller Flecken, die dünnen Haare wirr im Gesicht.
„Er hat angefangen!“ Anklagend zeigte er auf seinen Kontrahenten. Dieser war gerade aus dem unbarmherzigen Griff des Fahrradfahrers entlassen worden. Der Radler half ihm sogar auf, klopfte die Kleidung des verhinderten Ringers ab.
„Jupp! Na, das hätte ich mir denken können.“ Steco stemmte die Fäuste in die Hüften wie eine erboste Kindergartenleiterin, die zwei Lümmeln eine Standpauke hält.
Das gibt es nur in Timmendorf, dachte Lianne.
„Was soll der Scheiß?“, wetterte Steco. „Prügelt euch bei meiner Eröffnung! Wir wollen hier alle Spaß haben – und dann so etwas!“
„Ist nicht meine Schuld!“, konterte Jupp empört. Lianne erkannte den Fahrradfahrer, der Ole und Jupp so effektiv getrennt hatte: Kristof Lorenzen, mit unbewegter Miene die Debatte verfolgend.
„Ich sag euch was zum Thema Schuld!“ Steco atmete tief ein. Trotz seiner Empörung wirkte der schmale, unauffällige Mann ruhig und beherrscht.
„Schuld interessiert mich grundsätzlich nicht“, erklärte er bestimmt. „Und in diesem Fall sowieso nicht, weil ihr garantiert den gleichen Anteil daran tragt! Immer geratet ihr aneinander! Damit muss Schluss sein.“
„Er hat behauptet, dass ich den Schweinemist auf diesem Golf-Dings verteilt habe!“, rief Ole zornig.
„Er hat gesagt, dass es den Ärger nur gibt, weil ich in Timmendorf wohne. ,Bonzen-Invasion‘ hat er das genannt!“, schimpfte Jupp.
Steco verdrehte die Augen. Einige Umstehende lachten.
„Kindergarten“, befand der Chef des Strand-Treffs. „Aber das hier ist eine Erwachsenenparty. Deshalb verschwindet ihr jetzt. Ich erteile euch Hausverbot, sozusagen – und es ist mir egal, ob ich das hier draußen überhaupt darf oder nicht. Und wegen des Sachschadens melde ich mich die Tage. Tschüs!“
Von Steco ging trotz seiner geringen Körpergröße eine beachtliche Autorität aus. Ole und Jupp trollten sich, wenn auch murrend – in verschiedene Richtungen.
Lianne beobachtete, wie Steco zu Kristof Lorenzen ging, einige Worte mit ihm wechselte und ihm anerkennend auf die Schulter schlug. Danach schwang sich der hagere Mann wieder auf sein Fahrrad und verschwand in der Dunkelheit, während Steco seinen Pavillon betrat. Kurz darauf gingen die Scheinwerfer aus und die Musik wieder an. Sofort setzten Diskussionen über das Geschehen ein.
„Heute wird uns ja richtig was geboten“, kommentierte Meeno die Ereignisse, als er vom Ausschank zurückkehrte – mit vier neuen Timmendorfer Pfützen, wie Lianne besorgt feststellte. „Öfter mal was Neues.“
„Na, so neu nun auch wieder nicht“, meinte Thea. „Ole und Jupp kriegen sich regelmäßig in die Wolle“, informierte sie Lianne. „Auch eine Art Tradition.“
„Sie prügeln sich aber selten“, gab Britt zu bedenken.
„Eine Prügelei? Was könnt ihr mir dazu sagen?“ Wie an den Tisch gebeamt, stand Sophie Augsbach vor ihnen: Notizblock und Kugelschreiber gezückt, sensationslüsternes Flackern in den Augen.
„Prügelei? Pah.“ Thea schnaubte verächtlich durch die Nase und bedachte die Internet-Reporterin mit einem geringschätzigen Augenbrauen-Hochziehen. „Ein bisschen Geschubse. Es war doch vollkommen klar, dass so etwas passieren musste. Das kommt alles von dieser gegenseitigen Anschwärzerei in dieser Facebook-Gruppe und von diesen reißerischen Artikeln.“ Sie schickte Sophie einen strafenden Blick. „Aber das gefällt dir vermutlich, oder?“
„Also wirklich, das ist doch jetzt nicht …“, setzte Sophie an – aber eine sportliche Gestalt mit dunklen Haaren lenkte Lianne ab. Philipp bahnte sich seinen Weg durch die Menge – nicht allein, sondern mit einem schmalen Wesen an seiner Hand: wehende, hellbraune Mähne, runde, unschuldige Augen, die überrascht nach links und rechts blinkerten, als sei besagtes Wesen soeben aus einem verwunschenen Feenreich in einen bösen Actionfilm entführt worden, dessen Handlung es nicht verstand.
Philipp hatte Lianne entdeckt und nickte ihr freundlich zu, bevor er mit seiner langbeinigen Begleiterin wieder im Getümmel verschwand. Wie alt mochte das Mädchen sein? 20? Lianne schluckte. Und was für eine Kleidergröße trug sie? 34? Oder war ihr das schon zu weit?
Lianne blickte an sich herab. Davon sollte sie sich jetzt nicht runterziehen lassen.
„Hier, nimm noch eine Pfütze.“ Britt drückte ihr ein Glas in die Hand. „Ist was? Du siehst auf einmal so schlecht gelaunt aus.“
„Wie bitte? Nein, alles gut.“ Lianne nahm einen Schluck. An das Zeug konnte man sich gewöhnen.
„Ich habe nur nachgedacht“, brachte sie ein neues Thema in die Runde. „Ist dein Mantel eigentlich aus Kunstleder, Thea?“
„Willst du mich beleidigen?“ Thea fuhr auf. „Du glaubst, ich würde unechtes Zeug tragen? Also, ich muss schon sagen …“
Eine muntere Debatte brandete auf, über Kunstleder und echtes, über Pelze und weiter über Schmuck und Statussymbole bis hin zur Frage, ob Udo Jürgens überhaupt als Schlagersänger bezeichnet werden konnte. Meeno, Britt und Gustav Kiekbusch versuchten außerdem gleichzeitig und einander übertönend, Lianne die Geschichte des Timmendorfer Eissport- und Tenniscentrums zu erzählen. Sie verstand immerhin, dass es dazu Bürgerentscheide gegeben hatte und dass die Timmendorfer ihr ETC behalten wollten. Dass die Sanierung einen zweistelligen Millionenbetrag kosten würde und dass deshalb einige Timmendorfer fanden, dass besser eine neue Halle gebaut werden sollte.
Irgendwann schaltete Lianne geistig ab. Ausgelassene Stimmung, später gemeinsames Singen, und die Timmendorfer Pfütze schmeckte wirklich ausgezeichnet.
„Dim – dadadimdimdim – dim – dadadimdimdim.“
Ein störendes Geräusch. Überaus störend. Wer auch immer dafür verantwortlich war – er sollte es schleunigst abstellen.
Langsame Drehung von einer Seite auf die andere. Immer noch zu schnell für Liannes Kopf. Ein stechender Schmerz von der rechten Schläfe einmal in der Diagonalen bis hinten in den Nacken, unten links.
Mit geschlossenen Augen tastete sie auf ihrem Nachttisch herum. Wo war die Wasserflasche? Pappiger Geschmack im Mund, allzu vertraut.
„Dim – dadadimdimdim – dim – dadadimdimdim.“
Schon wieder. Schrecklich. War das ihr Wecker? Nein. Der piepte nur. Wie spät?
Vorsichtig öffnete Lianne die Augen. Zu hell, natürlich. Sie lag in ihrem Bett, immerhin. Ohne Schuhe. Ein Pluspunkt.
Da stand tatsächlich eine Flasche Wasser. Lianne richtete sich stöhnend auf, griff danach und schüttete den Inhalt gierig in ihren trockenen Hals. Schwindel, Zurücksinken ins Bett.
Verdammter Alkohol. Verdammte Timmendorfer Pfützen. Wie konnte sie nur? So lange brav – und dann das! Es geschah ihr recht, dass sie jetzt einen hohen Preis bezahlen musste. Geraucht hatte sie auch, fiel Lianne ein. Wie idiotisch. Ein paar Stunden Spaß – und dann zwei, drei Tage Leiden. Denn darauf lief ihr Zustand hinaus, die Zeichen waren eindeutig.
„Selbst schuld, blöde Kuh“, murmelte Lianne.
„Dim – dadadimdimdim – dim – dadadimdimdim.“
Ihr Handy! Ach du Schande. Musste sie etwa schon bei der Arbeit sein? Ein Blick auf den Wecker. Nein, ein Glück. Heute ging es erst gegen Mittag los, Philipp hatte allen Mitarbeitern einen halben freien Tag spendiert. Wahrscheinlich, damit er selbst mit seiner dürren Gespielin möglichst lange im Bett bleiben konnte. Egal, Lianne kam diese Regelung nur entgegen.
Wer also rief da andauernd an? Mühsames Aufrichten, sie schleppte sich in die Küche. Dort, auf dem Tisch, lag ihr Smartphone und begann schon wieder zu klingeln. Im Display „Hajo“.
„Verflucht!“ Lianne schlug sich eine Hand vor den Kopf und bereute das augenblicklich. Sie war für heute Vormittag für ein Telefonat mit ihrem – ehemaligen? – Chef verabredet! Und jetzt taumelte sie mit einem 1-A-Kater durch ihre Wohnung!
„Okay, okay. Ruhig bleiben. Lage checken. Plan machen.“ Sie überlegte. Dann eine rasch getippte Nachricht: „Melde mich sofort! Sorry! Lianne.“
Unterdrücken der aufkeimenden Übelkeit. Espresso aufsetzen. Während das Wasser in der Kanne zu sprudeln anfing schnell unter die eiskalte Dusche. Einige Sekunden lang fürchtete Lianne, der Temperaturschock könnte ihre Schädeldecke sprengen. Aber das tat er nicht, und sie fühlte sich – nun, nicht besser, aber wacher.
Sie wickelte sich in ein Handtuch, schenkte sich kochend heißen, tiefschwarzen Espresso ein. Anschließend griff sie erneut zum Handy und tippte entschlossen auf Rückruf.
„Lianne, endlich! Ich versuche seit einer halben Stunde, dich zu erreichen.“ Die sonore Stimme des Seniorchefs der Hanseatischen Messegesellschaft.
„Tut mir leid, Hajo. Ich war eben noch joggen und habe wohl die Zeit vergessen.“
„Du joggst?“ Sie hörte Hajo lachen und sah ihn vor sich: Bestimmt trug er einen schwarzen oder anthrazitfarbenen Kaschmirpullover und eine teure, dunkle Jeans. Seine silbergrauen Haare lagen garantiert wie immer perfekt und leicht gewellt am Kopf. Vermutlich strich er sich während des Gesprächs über seinen silbergrauen Schnauzbart und lächelte dieses Richard Gere-Lächeln.
„Ja, habe damit angefangen“, erwiderte Lianne. „Und wie geht es dir?“
„Wie immer, Lianne. Aber ich denke, wir sollten darüber reden, wie es dir geht. Denn das ist ja derzeit das Thema, das uns beschäftigt, nicht wahr?“
„Stimmt.“
„Wirst du in absehbarer Zeit in die Firma zurückkehren?“, kam Hajo direkt auf den Punkt.
Lianne schämte sich. Sie hatte einfach alles hingeschmissen, von einem Tag auf den anderen – und Hajo fragte, ob sie zurückkehren wollte! Und sie konnte ihm keine dankbare Antwort geben.
„Nein“, sagte sie leise. „Nein, ich glaube nicht.“
„Dachte ich mir.“ Klang Hajo eher gleichmütig als verärgert?
„Deshalb habe ich eine Entscheidung getroffen, Lianne“, fuhr ihr Chef fort. „Ohne dich, denn du warst ja leider nicht greifbar, okay?“
„Okay.“ Lianne schluckte. „Was für eine Entscheidung?“
„Das will ich dir sagen.“ Und Hajo sagte es ihr.