Kapitel 16

Das Timmendorfer Strohdachhaus sei unschwer an seinem Strohdach zu erkennen, hatte Thea am Telefon charmant mitgeteilt. Lianne war die wenigen Hundert Meter von ihrer Wohnung bis zu dem hübschen, reetgedeckten Gebäude nahe des Timmendorfer Platzes zu Fuß gegangen und stieg die Stufen der breiten, links und rechts mit zwei dicken Kugeln eingefassten Granittreppe hinauf, die zum Eingang führte. Ein Haus aus rotem Backstein, weiße Sprossenfenster, selbst in der halbkreisförmigen Gaube, die oben aus dem dunklen Reet ragte, alles wirkte frisch saniert.

Lianne stieß die Tür auf und betrat den zweckmäßig eingerichteten Versammlungsraum, rechts ab vom kleinen Flur. Stimmengewirr, an einem langen Tisch saßen bereits sechs Personen: Philipp, Britt und Meeno, dazu ein kräftiger Mann mit Halbglatze, in dem Lianne den stellvertretenden Wehrführer Hanno Stöhlmaker wiedererkannte. Sowie eine korpulente Frau, etwa Mitte 70, mit gewaltigem Busen, rötlichem Pagenkopf und durchdringendem Blick. Am Kopfende thronte Thea, einen Notizblock in den Händen haltend.

„Lianne, wie schön“, sagte Thea knapp. „Dann sind wir ja vollzählig und können anfangen. Das ist übrigens meine gute Freundin Margot Dietz.“ Sie zeigte auf die Rothaarige, deren Glitzerpulli funkelte. Die soeben Vorgestellte nickte gnädig.

Lianne ließ sich auf einen der Stühle fallen, deren Polster ein irritierendes, lila-roséfarbenes Dreiecksmuster aufwiesen. Die Wände in hellem Bordeaux gestrichen und mit Plakaten versehen, die auf Veranstaltungen in Timmendorf hinwiesen. Auf den Fensterbänken vereinzelt Grünpflanzen. Besonders heimelig war der Raum nicht, aber praktisch, eine Mischung zwischen Gruppentherapie-Zimmer einer Reha-Klinik und Gemeindesaal aus den 1980er-Jahren.

Das Strohdachhaus sei das älteste Gebäude Timmendorfs, hatte Thea erklärt, erbaut 1924 und einst Sitz von Bäder- sowie später Kurverwaltung. Zeitweise habe es auch eine Arztpraxis beherbergt, bis es Anfang der 1990er-Jahre zum Treffpunkt für Senioren, Schachspieler, den Kulturkreis und andere Vereinigungen umgewandelt worden sei. Sie, Thea Harms, könne die Räume jedenfalls jederzeit nutzen, wenn sie nicht anderweitig benötigt wurden: „Ich bin schließlich auch eine Timmendorfer Seniorin und treffe dort jemanden, also ist das dann ein Seniorentreff.“

Lianne hatte nicht weiter nachgefragt – schon allein, weil die Raumfrage sie weit weniger interessierte als der Zweck dieser Versammlung. Sie hatte Theas Ankündigung, eine „Soko Strandkorb“ zu gründen, nicht vergessen. Sollte sie womöglich von ihrer Chefin als eine Art Hobby-Ermittlerin rekrutiert werden? Ein lächerliches Unterfangen. Aber wie könnte Lianne diese „Bitte“ (wobei Thea kaum im Sinne des Wortes „bitten“ würde) ablehnen, ohne ihre Chefin empfindlich zu kränken? Vorbereitet hatte sich Lianne auf dieses Treffen nicht – nur im Internet rasch zur Formulierung „Die fetten Jahre/Tage sind vorbei“ recherchiert.

„Ihr wisst alle, warum ich euch eingeladen habe“, begann Thea. Alle Gesichter wandten sich ihr zu. „Die Lage ist ernst, und deshalb müssen wir jetzt handeln.“

„Sehr richtig!“, rief Margot Dietz und klopfte auf den Tisch. „Aber ich verstehe nicht, warum wir nicht bis morgen warten. Bei der Einwohnerversammlung in der Trinkkurhalle können wir …“

„Ruhe, Margot“, unterbrach sie Thea streng. „Dazu kommen wir später.“

Margot Dietz verstummte kurz. „Ich meine es nicht böse, Thea“, sagte sie dann. „Ich bin nur etwas ungeduldig und möchte so schnell wie möglich aktiv werden.“

„Das wollen wir alle, liebe Margot, aber überstürztes Handeln bringt gar nichts. Wir müssen ruhig bleiben und unseren Grips einsetzen.“

Warum hat sie diese Margot dann eingeladen?, fragte sich Lianne im Stillen. Besonnenheit schien nicht deren Stärke zu sein.

„Philipp hat die Ereignisse zusammengefasst“, fuhr Thea fort, „und wird diese Zusammenfassung vortragen. Philipp – bitte nicht länger als drei Minuten.“

„Ich versuche es“, erwiderte Philipp und ließ sein hinreißendes Sonnyboy-Grinsen aufblitzen. Liannes Gedanken schweiften ab. Würde es bei allem Liebeskummer einer kürzlich verlassenen Mittvierzigerin nicht doch guttun, eine unverbindliche Affäre mit einem bestimmten, attraktiven Strandkorbvermieter einzugehen? Und warum war es so schwierig, diesen bestimmten, attraktiven Strandkorbvermieter von dieser Idee zu überzeugen?

Britt stieß sie mit dem Ellbogen in die Seite. „Ich hoffe, du hörst aufmerksam zu“, flüsterte sie.

„Na klar.“ Lianne riss sich zusammen.

„Also, wir fangen mit Jupps Mercedes an – obwohl ich meine Zweifel habe, ob da wirklich ein Zusammenhang mit den anderen Taten besteht“, begann Philipp.

„Natürlich besteht da ein Zusammenhang!“, rief Margot. Thea brachte sie mit einer herrischen Geste zum Schweigen. Hanno Stöhlmaker verdrehte die Augen, und Meeno sah aus, als müsste er sich das Lachen verkneifen.

„Jupps Mercedes wurde beschädigt. Jemand hat das Wort ,Arschloch‘ in die Motorhaube geritzt, und es ist nie herausgekommen, wer das getan hat, richtig?“, vergewisserte sich Philipp.

„Als Nächstes kam die Geschichte mit den gepanschten Getränken bei der Winter-Lounge. Dort ist auch zum ersten Mal dieser Spruch ,Die fetten Tage sind vorbei‘ aufgetaucht. Ich denke, beziehungsweise Thea und ich haben uns überlegt, dass diese Aktion für den oder die Täter noch recht einfach gewesen sein muss. Es war kalt, deshalb hat die Security nur sporadisch beim Zelt vorbeigeschaut, und außerdem hat niemand mit so etwas gerechnet.“

„Also auf mich wirkt das nach wie vor wie ein Dummejungenstreich“, brummte Hanno Stöhlmaker und fing sich dafür von Thea einen strafenden Blick ein.

„Dann das Frühlingsgolfen“, setzte Philipp an. „Das muss schon deutlich schwerer gewesen sein. Es war mehr Security vor Ort, es war aufwendiger, der oder die Täter brauchten Equipment – Benzin für den Kunstrasen, Schweinemist und so weiter. Ich weiß nicht, ob das einer allein schaffen würde.“

„Also so schwer stelle ich mir das nicht vor“, mischte sich Meeno ein. „Behälter herunterreißen, Fahnen zertrampeln – das dauert nicht ewig. Dann noch schnell den Schweinemist auf dem Podest verteilt und den Rasen angezündet … 20 Minuten dürften locker reichen, schätze ich.“

„Meeno, Meeno.“ Thea drohte ihm scherzhaft mit dem Finger, als habe sie ein ungezogenes Kind beim Naschen in der Speisekammer ertappt. „So würdest du es also machen, ja? Aber Spaß beiseite.“

„Du vergisst außerdem, dass wieder dieser Spruch gesprüht wurde, auf die Torwand“, erinnerte Britt ihren Mann.

„Dazu möchte ich etwas sagen.“ Lianne hob die Hand und kam sich gleichzeitig albern vor. Sie war hier doch nicht in der Grundschule.

„Ich habe das nachgesehen“, fing sie an. „Dieser Slogan lehnt sich ja offenbar an den Film ,Die fetten Jahre sind vorbei‘ an. In dem geht es um junge Leute, die in Luxusvillen einbrechen und Botschaften hinterlassen. Eben Sprüche wie ,Die fetten Jahre sind vorbei‘ oder ,Sie haben zu viel Geld‘.“

„Das passt doch“, befand Margot Dietz. „Also, ich meine, gehen diese Anschläge nicht in die gleiche Richtung?“

„Zu Anfang schon.“ Lianne nickte. „Aber im Film kippt das Ganze dann. Die Protagonisten entführen mehr oder weniger aus Versehen einen reichen Mann, der gar nicht so unsympathisch ist, und geraten noch dazu aus Eifersucht aneinander.“

„Wie endet der Film denn?“, erkundigte sich Britt.

„Die jungen Leute bleiben letztlich bei ihrer Überzeugung und setzen sich ins Ausland ab. So richtig passt die Handlung also nicht zu dem, was in Timmendorf geschehen ist.“

„Für uns vielleicht nicht. Für die Täter aber vielleicht schon“, gab Meeno zu bedenken. „Und womöglich ist ihnen einfach nichts Besseres eingefallen.“

„Was nicht passt, ist diese Auslandsgeschichte“, bemerkte Margot Dietz wütend. Die Dame hat Haare auf den Zähnen, fiel Lianne eine Redewendung ihrer Oma ein. „Unsere Attentäter haben sich jedenfalls nicht abgesetzt, sondern sind noch hier, soweit ich das beurteilen kann.“

„Attentäter“, schnaubte Hanno Stöhlmaker. „Eine Nummer kleiner geht es wohl nicht, was?“

„Ruhe“, befahl Thea. „Philipp, weiter im Text.“

„Gut“, meinte ihr Neffe. „Also wenn ich Meenos Argumente berücksichtige, könnte der Vandalismus beim Frühlingsgolfen auch auf das Konto eines Einzeltäters gehen. Bleibt die bislang schlimmste Sache, das Feuer beim Ostsee-Polo, das uns allen ja noch im Gedächtnis sein dürfte.“

Die Versammelten schwiegen einige Sekunden lang. Dieser Brand hatte den Ort schwer getroffen. Zwar hatten die Freiwilligen Feuerwehren die Lage professionell in den Griff bekommen, es gab keine Verletzten. Aber der Schaden am Zuschauerzelt war erheblich, ebenso der an der Zuschauerterrasse. Die gesamte Szenerie, einhergehend mit einem verheerenden Medienecho, hatte so sehr auf die Stimmung geschlagen, dass das Polo-Turnier kurzfristig verlegt worden war. Zwar hatten die Teams auf einem nahe gelegenen Gut gegeneinander antreten können, allerdings eben nicht vor der Kulisse aus Strand und Meer.

Mittlerweile ermittelte die auch für Timmendorf zuständige Kriminalpolizeistelle Bad Schwartau. Flankiert von Spekulationen in den lokalen Medien – egal ob Tageszeitung, Wochenblatt, Radiosender, Regionalfernsehen oder das Internetportal „Update 23669“.

Auf Letzterem hatte Sophie Augsbach den Anstoß für die übrigen Berichterstatter gegeben, über die angebliche Serie in Timmendorf zu mutmaßen. Die negative Werbung hatte Tourismusverantwortliche und Kommunalpolitiker derart beunruhigt, dass sie eine Einwohnerversammlung zum Thema organisiert hatten, für morgen Abend in der Trinkkurhalle. Insgeheim stellte sich Lianne dazu die gleiche Frage wie Margot Dietz: Warum rief Thea nicht dort zur Gründung ihrer „Soko“ auf?

„Versteht mich nicht falsch“, meldete sich Margot zu Wort, „das soll keine Kritik an wem auch immer sein. Aber ich verstehe nicht, wie der oder die Täter es schaffen konnten, das Zelt in Brand zu setzen. Nach allem, was zuvor passiert war, gab es doch verschärfte Sicherheitsvorkehrungen, oder nicht?“

„Richtig.“ Thea nickte. „Deshalb ich mich umgehört. Bei … bei Bekannten von mir, die sich offiziell aber nicht äußern dürfen.“ Sie vermied es, zu Hanno Stöhlmaker hinüberzusehen. Sehr unauffällig, wirklich, dachte Lianne.

„Demnach gab es nur eine Möglichkeit, das Feuer zu legen“, erklärte Thea. „Jemand hat sich während des Aufbaus im Zelt versteckt und bis vier Uhr morgens gewartet. Dann hat er gezündelt – und sich in der allgemeinen Aufregung unter die Leute gemischt.“

„Kann man sich denn in dem Zelt verstecken?“, fragte Britt.

„Ja“, sagte Thea, während Hanno Stöhlmaker unwillkürlich nickte. „Es gibt zwei Abseiten für Getränke, Geschirr und allerlei Zeugs. Dort hat am Abend niemand mehr nachgesehen – es hat wohl keiner daran gedacht, dass sich dort jemand sozusagen auf die Lauer legen könnte.“

„Das spricht dann aber eher für einen Einzeltäter“, meinte Meeno nachdenklich.

„Wieso?“, warf Margot ein. „Es kann ja auch nur einer aus einer ganzen Bande gewesen sein. Die anderen haben währenddessen … was weiß ich. Gewartet und sich dann gefreut.“

„Das stimmt“, schlug sich Philipp auf ihre Seite. „Über die Zahl derjenigen, die Timmendorf offenbar ins Visier genommen haben, sagt das erst einmal gar nichts.“

„Wir wissen es eben nicht“, seufzte Britt.

„Was wissen wir überhaupt?“ Fragend sah Margot in die Runde.

„Oh, so einiges.“ Triumphierend klappte Thea ihr Notizbuch auf. Sie kann schlecht verhehlen, dass ihr die ganze Sache Spaß macht, ging es Lianne durch den Kopf.

„Ich habe hier alles zusammengestellt, was meiner Meinung nach in ein Täterprofil gehört“, referierte Thea. „Wobei die Polizei bisher leider keinen Experten mit der Erstellung eines solchen Profils beauftragt hat, was ich sehr bedaure.“

Britt, Meeno und Hanno Stöhlmaker machten skeptische Gesichter. Margot beugte sich gespannt nach vorn, Philipp bewahrte eine unergründliche Miene.

„Also, um es kurz zu machen“, begann Thea, „die Täter haben es auf Veranstaltungen in Timmendorf abgesehen – bis auf die Sache mit Jupps Auto, ich weiß. Die Veranstaltungen sind eher etwas schicker, wobei wiederum nicht alle betroffen sind: Beim Oster-Spaß, bei der Fackel-Party und beim Strandpark-Konzert beispielsweise ist nichts passiert. Die Täter treffen also eine Auswahl.“

„Oder es geht um die Gelegenheit“, warf Meeno ein. „Vielleicht gibt es ja auch ganz praktische Gründe.“

„Vielleicht.“ Thea nickte. „Weiter: Die eingesetzten Mittel sind schlicht. Um Schweinemist zu verstreuen oder ein Feuer zu legen, muss man nicht Raketenwissenschaften studiert haben. Aber: Die Täter kennen sich gut in Timmendorf aus. Ich glaube nicht, dass Fremde so leicht im Vorfeld ausspionieren könnten, wo während der Winter-Lounge die Spirituosen stehen oder wo man sich beim Polo im Zuschauerzelt verstecken kann.“

„Hm. Also so schwer wäre das auch nicht“, überlegte Hanno Stöhlmaker.

„Außerdem“, machte Thea unbeirrt weiter, „ist es jemand, der eine Wut auf viele Leute im Ort hat. Darauf deutet dieser Slogan hin. Also muss es jemand von hier sein – oder jemand, der eine Zeit hier verbracht hat.“

„Lehnst du dich damit nicht ein bisschen zu weit aus dem Fenster?“, wagte Britt einen Vorstoß.

„Ich finde nicht. Meine Überlegungen haben Hand und Fuß.“

„Und warum trägst du das alles nicht morgen in der Trinkkurhalle vor?“, fragte Margot.

„Ach, es steht ohnehin schon viel zu viel Mist im Internet“, gab Thea zurück. „Deswegen habe ich diesen kleinen Kreis organisiert. Jeder hier genießt aus unterschiedlichen Gründen mein volles Vertrauen.“

Ups, dachte Lianne. Welche Ehre.

„Unter uns können wir offen reden“, erklärte Thea. „Auch über Verdächtige – ja, Hanno, guck nicht so, wir müssen die Dinge direkt ansprechen, wenn wir vorankommen wollen. Aber, und das ist wichtig: Alles, was wir untereinander bereden, bleibt unter uns, verstanden? Nichts wird weitergetratscht oder womöglich ins Internet geschrieben. Ist das klar?“

Lianne nickte automatisch, die anderen taten es ihr gleich, wie gehorsame Gefreite nach einer rustikalen Ansage ihres Unteroffiziers. Was für ein Unsinn, überlegte Lianne Sekunden später. Wir wissen doch gar nicht, wobei wir überhaupt mitmachen sollen.

„Also wenn ich dich richtig verstehe“, meinte Margot Dietz, „willst du mit uns so eine Art Detektivgruppe gründen, um herauszufinden, wer für den Vandalismus und das Feuer zuständig ist?“

„Detektivgruppe, Margot, ich bitte dich.“ Thea sah entrüstet aus. „Das klingt wie ein Spiel von Grundschülern.“

„Hast du nicht etwas von der ,Soko Strandkorb‘ gesagt?“, entfuhr es Lianne.

„Das war deine Formulierung“, gab Thea trocken zurück. „Nein, was ich will, ist Folgendes: Wir stellen unter uns Überlegungen an, wer hinter all dem stecken könnte. Dann halten wir Augen und Ohren offen.“

„Also willst du Leute aus dem Ort verdächtigen?“ Hanno Stöhlmaker runzelte die Stirn. „Und was ist mit diesem Spruch von diesem Hoffmann von Dingenskirchen über Denunzianten und so weiter, den du im Waldemars von dir gegeben hast?“

„Na ja, aber wir müssen doch jetzt handeln. Oder wollt ihr die Hände in den Schoß legen?“ Thea schob das Kinn vor.

Am liebsten ja, hätte Lianne gern geantwortet. Was konnten sie schon erreichen, wenn selbst die Polizei offenbar nicht vorankam? Doch sie hielt sich zurück.

„Ole Martens, wenn ihr mich fragt, ganz klar“, platzte Margot heraus. „Was denn? Wir sollen doch offen aussprechen, was wir denken, und das ist eben das, was ich denke.“

„Nur, weil sich dein Freund Jupp ständig mit ihm anlegt“, hielt Meeno dagegen. „Ole … nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Irgendwie ist er doch einer von uns.“

„Einer, der viel hatte und es verloren hat“, meinte Philipp. „Überlegt mal, wie Ole früher gelebt hat – großes Haus, großes Auto, ein Boot, schöne Frau. Er war im Vorstand einer Bank, irgendwo in Niedersachsen, soweit ich weiß.“

„Und dann?“ Lianne war wider Willen neugierig geworden.

„Er hat sich übernommen – finanziell und bei der Arbeit“, berichtete Philipp. „Burnout, Arbeitsunfähigkeit. Seine Frau ist durchgebrannt, er musste alles verkaufen. Er ist dann in seine Zweitwohnung nach Timmendorf gezogen – bis er die auch verkaufen musste. Dann hat er von seinem letzten Geld diesen Resthof in Groß Timmendorf gekauft. Eine ziemliche Bruchbude, anders kann man das nicht sagen.“

„Und deshalb fängt er auf einmal an, Veranstaltungen in Timmendorf zu sabotieren?“, zweifelte Britt. „Das ist an den Haaren herbeigezogen. Ich glaube nicht, dass er der Täter ist.“

„Warum eigentlich der Täter?“ Thea sah in die Runde. „Habt ihr schon mal daran gedacht, dass es auch eine Frau sein könnte?“

„Eine Frau?“ Margot Dietz schüttelte den Kopf. „Schwer vorstellbar. Welche Frau könnte das tun?“

„Nun, Sigrid Steenkamp hat auch eine Menge verloren“, argumentierte Thea. „Sie hat auch auf großem Fuß gelebt – bis ihr Mann sie verlassen hat. Seither schlägt sie sich mit dieser Appartement-Vermietung durch.“

„Aber so schlecht verdient sie dort vermutlich gar nicht“, sagte Britt. „Ich denke, sie ist wieder einigermaßen auf die Beine gekommen. Genau wie Steco.“

„Steco?“ Allmählich kam Lianne nicht mehr mit. Im Gegensatz zu den anderen hatte sie vom Timmendorfer Klatsch und Tratsch keine Ahnung.

„Steco war mal eine richtige Nummer als Bauunternehmer“, erläuterte Margot. „Jede Menge Mitarbeiter. Dann hat er sich an einer Bank beteiligt, dann kam die Finanzkrise, und schwupps, alles weg. Seither hält er sich mit diesem Kiosk über Wasser.“

„Wir haben auch einen Kiosk“, brauste Britt auf. „Und wenn das in deinen Augen auch ärmlich sein mag, liebe Margot – so schlecht lebt man davon gar nicht. Stecos Strand-Treff läuft in der Saison jedenfalls super, soweit ich das beurteilen kann.“

„Schon gut, ich habe es nicht böse gemeint“, beschwichtigte Margot. „Was ist mit Kristof Lorenzen?“, fragte sie dann.

Unverschämtheit, dachte Lianne. Aber Hemmungen, mit Namen um sich zu werfen, hatte die Gute zumindest nicht.

„Na toll“, ärgerte sich Hanno. „Willst du jetzt alle aufzählen, mit denen Jupp sich in der Wolle hatte? Erst Ole, jetzt Lorenzen … Nur, weil er Jupp bei der Rangelei mit Ole neulich so schön gebändigt hat.“

„Leute, beruhigt euch.“ Philipp klopfte auf den Tisch. „Kristof Lorenzen möchte ich ganz klar ausschließen. Er ist nicht gerade ein Gute-Laune-Bär, aber ein korrekter Typ. Er interessiert sich überhaupt nicht für Geld oder Statussymbole. Außerdem war er früher Polizist.“

„Tatsächlich?“ Lianne hätte gern mehr erfahren, aber Thea unterbrach die Debatte.

„Das ist alles nicht mehr zielführend“, erklärte sie rigoros.

Ach was, dachte Lianne. Das hätte ich dir gleich sagen können. Hier wird in kleinem Kreis diskutiert, was andere Denunzianten in großem Stil ins Internet blasen. Das gibt es nur in Timmendorf. Gut, dass Kommissarin Harms Schweigepflicht verordnet hat.

„Ich sehe, wir müssen an unserer Diskussionskultur arbeiten“, erklärte Thea. „Aber was soll’s. Ich schlage vor, dass wir die Sitzung jetzt beenden und sich jeder noch einmal Gedanken macht. Morgen Abend schauen wir uns dann genau an, was bei dieser Einwohnerversammlung passiert. Und kein Wort über das heutige Treffen.“

Sie erhob sich. Damit war anscheinend Feierabend. Stühle scharrten, als die anderen ebenfalls aufstanden. Nacheinander traten sie aus dem Strohdachhaus in den dunklen Abend. Der Timmendorfer Platz war in den warmen Schein zahlreicher Lichter getaucht. Eine besondere Beleuchtung war dem Alten Rathaus vergönnt, das auf diese Weise wie ein kleines Schloss wirkte. Fehlte nur noch eine schmucke Kutsche, die vorfuhr, gezogen von zwei mit Glitzerpuscheln geschmückten Schimmeln.

„Dann bis morgen.“ Philipp verschloss die Tür und hakte seine Tante unter.

„Bis morgen“, rief Thea. „Danke, dass ihr gekommen seid.“

„Keine Ursache. Kommt noch jemand mit in den Kaiser?“, fragte Margot Dietz.

„Nein danke“, erwiderte Britt kühl. Hanno Stöhlmaker schüttelte den Kopf.

„Ich gehe auch lieber nach Hause“, erklärte Lianne.

„Schade.“ Margot sah sie bedauernd an. „Jupp und sein Bruder sind auch da. Martin würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen – so, wie ich ihn neulich verstanden habe.“

„Aha?“, fragte Lianne misstrauisch.

„Ja, er hat regelrecht von dir geschwärmt.“ Margot zwinkerte ihr zu. „Na, vielleicht doch auf ein kleines Bier?“

„Nein, wirklich nicht“, wehrte Lianne ab. Sie hob die Hand und wandte sich zum Gehen.

Auf dem Nachhauseweg ließ sie das seltsame Treffen Revue passieren. Herausgekommen war im Grunde wenig. Aber zumindest kannte sie jetzt eine Gemeinsamkeit vieler Timmendorfer – sie schienen häufig eine bewegte Vergangenheit zu haben.