Kapitel 19

Lianne hatte Britt bereits zweimal zu Hause besucht, also keine Mühe, sich an den Weg zu erinnern. Sie rannte zum Timmendorfer Platz, dann die lange Bergstraße entlang, rechts lag der Alte Kurpark (wo sie Bosse erwischt hatten), über die B 76, die Hauptstraße hinunter, bis sie rechts in die Klodtstraße abbiegen konnte. Lianne verfluchte sich selbst für ihre Nachlässigkeit. Warum hatte sie sich nicht längst um ein neues Fahrrad gekümmert, nachdem sie aus der Ferienwohnung ausgezogen war? Oder ihr eigenes Auto, das seit Monaten auf einem Parkplatz in einem gutbürgerlichen Bremer Wohngebiet vor sich hin staubte, nach Timmendorf geholt?

Sie brauchte 20 Minuten. Noch bevor Lianne an dem weißen Einfamilienhaus mit dem kleinen Vorgarten klingeln konnte, riss Britt die Tür auf.

„Gott sei Dank, da bist du ja.“ Die Freundin wirkte noch schmaler als sonst. Ihr herzförmiges Gesicht war blass, ihre blonden Haare standen unordentlich vom Kopf. Lianne nahm Britt wortlos in den Arm.

„Komm rein, bevor die Nachbarn gucken. Die dort drüben sind wahnsinnig neugierig.“ Britt zog Lianne in die bunte, geräumige Küche mit dem runden, zerkratzten Holztisch in der Mitte. Rasmus, der jüngere Sohn von Britt und Meeno, saß vor einem dampfenden Becher, blickte Lianne mit großen Augen an. Anders als sein Bruder Bosse, der abgesehen von seiner Körpergröße seiner Mutter ähnelte, kam der 13-Jährige nach seinem Vater. Rasmus hatte Meenos stämmige Figur und ebenfalls dichte, rotbraune Locken.

„Guten Morgen“, sagte Lianne.

„Moin“, kam die einsilbige Antwort.

„Also, was ist los?“ Lianne setzte sich auf einen Holzstuhl.

„Bosse ist festgenommen worden, gestern Nacht, im Alten Kurpark. Ich kann es nicht glauben.“ Britt fuhr sich durch die Haare. „Meeno ist zur Polizeistation gefahren, sie halten Bosse hier in Timmendorf fest. Wir wissen noch nicht, ob wir einen Anwalt brauchen – den können wir uns ja eigentlich gar nicht leisten.“ Sie schluckte.

„Das wäre das geringste Problem“, beruhigte sie Lianne. „Da würde ich euch aushelfen, wenn es sein muss.“ Indem ich Matthias anpumpe oder wirklich sein Angebot annehme, den Verkaufserlös der Wohnung zu teilen, dachte Lianne. Würde sie das für den Sohn der Freundin tun? Ja.

„Aber wie kommen sie darauf, dass Bosse irgendetwas mit diesen … na, sagen wir ruhig, Anschlägen zu tun hat?“

„Ich kann es dir nicht erklären!“ Britt holte tief Luft. „Bislang wissen wir nur, dass ihn zwei Sicherheitsleute im Kurpark gestoppt haben, ganz hinten, beim ETC.“

Lianne nickte. Diese Abkürzung für das Eissport- und Tenniscentrum kannte sie mittlerweile.

„Er ist gerannt, heißt es, war ganz in Schwarz gekleidet und hatte angeblich einen Benzinkanister in der Hand.“ Britt schüttelte ungläubig den Kopf. „Keine Ahnung, was das mit dem Kanister sollte – wenn es stimmt. Die schwarzen Klamotten – die hat er ja immer an. Warum er um diese Uhrzeit allerdings dort draußen herumgelaufen ist, kann ich dir nicht erklären. Aber eines weiß ich: Bosse würde niemals diese bescheuerten Anschläge auf die Veranstaltungen verüben! Niemals! Und nie, nie, nie würde er einen Menschen niederschlagen! Das kann nicht sein!“

„Das glaube ich auch nicht“, bekräftigte Lianne. Obwohl, Bosse und seine Clique sahen nicht eben wie strebsame Bankazubis mit dem Junge-Union-Mitgliedsausweis in der Sakkotasche aus. Nicht, dass derlei Äußerlichkeiten etwas bewiesen. Doch Lianne konnte sich gut vorstellen, dass den „jungen Wilden“ von Timmendorf der Film „Die fetten Jahre sind vorbei“ gefallen würde – falls ein mehr als 15 Jahre altes Drama sie überhaupt vor den Bildschirm locken konnte. War es denkbar, dass die Jugendlichen sich zu ähnlichen Guerilla-Aktionen hatten verleiten lassen? Klug wäre es nicht, aber wer war mit 16, 17 oder 18 schon klug? Andererseits: Auch Lianne erschien es undenkbar, dass Bosse Philipp – einen Mann, den er schon ewig kennen musste – brutal zu Boden schlug.

„Bosse war’s nicht, Mama, bestimmt nicht.“ Rasmus blickte unglücklich in seinen Becher. Britt legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter.

„Lange festhalten können sie ihn jedenfalls nicht“, kam Lianne auf die praktischen Aspekte zu sprechen. „Er ist ja erst 17. Also egal, ob sie Beweise haben oder nicht – ich schätze, dass Meeno ihn bald mit nach Hause nehmen kann.“

„Hoffen wir es.“ Britt seufzte. „Aber der Verdacht steht jetzt auf jeden Fall im Raum. Wie soll das denn werden – Bosse muss doch zur Schule gehen, er macht in einem Jahr Abitur!“

„Warum sollte er nicht zur Schule gehen?“ Lianne versuchte, der Freundin Mut zuzusprechen. „Er ist schließlich nicht der Täter, darin sind wir uns doch einig. Es gibt sicher eine Erklärung für das alles.“ Vor allem für den Benzinkanister, hoffe ich, fügte sie im Geiste hinzu.

In diesem Augenblick läutete es an der Tür. Britt sprang auf und lief hinaus. Lianne folgte ihr. Draußen standen vier junge Leute, zwei Mädchen und zwei Jungen. Lianne meinte, sie mit Bosse bei der Versammlung in der Trinkkurhalle gesehen zu haben.

„Moin, Frau Peters.“ Eines der Mädchen – klein, dünn, rothaarig – trat vor.

„Mia, guten Morgen. Bosse ist noch nicht wieder zurück.“

„Das dachten wir uns“, sagte das Mädchen bestimmt. Sie machte einen ähnlich energischen Eindruck wie die Polizeisprecherin, wenngleich diese Mia optisch das exakte Gegenteil darstellte mit ihrer schmuddligschwarzen Lederjacke, der Jeans mit den obligatorischen Löchern darin und den nicht minder obligatorischen, klobigen schwarzen Stiefeln an den Füßen.

„Wir haben gehört, was passiert ist“, fuhr Mia fort. „Wir wollten Ihnen nur sagen, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen. Bosse war es nicht, hundertprozentig, egal, was die Bullen behaupten. Wir werden auf jeden Fall für ihn aussagen. Die dürfen ihn gar nicht lange festhalten.“

„Danke, das ist nett von euch.“ Britt überlegte. „Aber eine Frage habe ich. Könnt ihr euch vorstellen, was er dort im Kurpark zu suchen hatte? Mitten in der Nacht? Und was ist mit diesem Benzinkanister?“

Die Jugendlichen schwiegen betreten. Mias Wangen färbten sich zartrot.

„Naja …“, begann sie zögerlich. „Also wir haben dort in der Nähe … na, wir treffen uns dort manchmal. Nachts.“

„Wo?“ Britt sah alarmiert aus.

„Im Kurpark. Im Kurmittelhaus“, präzisierte das andere Mädchen. Sie war groß und stämmig und schien sich erst vor kurzem den Schädel rasiert zu haben.

„Im Kurmittelhaus?!“

„Ja, da ist ja keiner, außer am Donnerstagvormittag, wenn die Leute von der Tafel kommen“, erklärte das große Mädchen. Jetzt begriff Lianne, wovon die Rede war. Das Kurmittelhaus im Alten Kurpark stand seit weit über zehn Jahren leer und war ein regelmäßiger Zankapfel in der Gemeindevertretung, hatte Thea ihr erklärt. Der rot geklinkerte, achteckige Flachbau mit den langgestreckten, türkisfarben eingefassten Glasfronten kostete die Gemeinde mehrere Zehntausend Euro Unterhalt im Jahr. Ideen für eine weitere Nutzung hatte es reichlich gegeben – das KMH sollte wechselweise ein Planetarium, eine Kunsthalle oder ein Theater beherbergen. Derzeit diente es allerdings nur einmal wöchentlich den Mitarbeitern der „Tafel“ zur Lebensmittelausgabe an Bedürftige.

„Was macht ihr nachts im Kurmittelhaus?“ Britt wirkte plötzlich sehr streng.

„Nichts Besonderes.“ Einer der Jungen – klein, korpu­lent, südländischer Typ – zuckte mit den Schultern. „Abhängen, reden, Musik hören. Ist eine gute Akustik im alten Schwimmbecken, echt.“

„Wie kommt ihr da rein?“ Britt stemmte die Hände in die Seiten wie ein sehr kleiner, sehr böser Verhörleiter.

„Wir … äh.“ Mia räusperte sich. „Wir haben einen Schlüssel. Aber wir verraten nicht, woher! Und wir geben ihn auch nicht ab!“

Lianne musste sich abwenden, damit die Jugendlichen und vor allem Britt ihr Grinsen nicht sahen. Was sie gerade hörte, versetzte sie augenblicklich um etwa 30 Jahre zurück.

„Das werden wir noch sehen. Unglaublich! Und dort wart ihr letzte Nacht auch?“

„Ja.“ Mia nickte. „Wir sind auch alle gleichzeitig wieder raus. Bosse wollte noch zum Strand, weil es so warm war. Wir anderen sind schon nach Hause.“

„,Schon ist gut.“ Britt schüttelte den Kopf. „Darüber werden wir noch reden. Aber was ist mit diesem Kanister?“

„Das wissen wir nicht.“ Mia wirkte ratlos. „Wirklich nicht. Bosse hatte gestern Nacht keinen dabei, als wir zusammen waren. Er hat nie einen Benzinkanister dabei! Warum sollte er auch? Vielleicht hat der Täter ihn verloren oder weggeworfen, und Bosse hat ihn gefunden und wollte ihn abgeben?“

„Das könnte sein.“ Britt sah die Jugendlichen der Reihe nach an. „Hoffen wir es. Ich danke euch jedenfalls, dass ihr so ehrlich wart. Und ich freue mich natürlich sehr, dass ihr Bosse helfen wollt.“

„Ist doch selbstverständlich“, erklärte der andere Junge, ein schmächtiger, unauffälliger Typ. „Wegen der Schule machen Sie sich keine Sorgen, wir lassen Bosse nicht allein, und wenn ihm einer blöd kommt, dann …“

„Dann klären wir das“, fiel ihm das große Mädchen ins Wort.

Im Flur tauchte Rasmus auf: Anorak angezogen, Rucksack geschultert, verängstigter Eindruck. Britt schaltete schnell.

„Das mit dem Nicht-allein-Lassen in der Schule gilt doch sicher auch für Rasmus, oder?“, fragte sie mit unüberhörbarem Nachdruck in der Stimme. Die vier Jugendlichen lächelten freundlich.

„Na komm, Kleiner, wir nehmen dich mit“, sagte Mia zu dem 13-Jährigen, der sie um eineinhalb Köpfe überragte. „Niemand wird sich trauen, etwas Schlechtes über Bosse oder Rasmus zu sagen, wenn ich dabei bin. Tschüs, Frau Peters.“

Rasmus folgte den Jugendlichen zu ihren am Zaun angelehnten Fahrrädern. Lianne sah, dass er seinen Helm aufsetzte. Braver Junge.

Britt schloss die Tür.

„Nächtliche Sessions im Kurmittelhaus. Also wirklich.“ Sie blickte Lianne irritiert an. „Das gibt nachher erst einmal ein Gespräch mit Bosse, darauf kann er sich verlassen. Stell dir vor, die wären erwischt worden!“

„So schlimm ist das auch wieder nicht“, meinte Lianne. „Sie sind nicht im klassischen Sinne eingebrochen, so wie ich das verstanden habe. Und sie haben ja nicht herumrandaliert oder so. Weder in der ollen Hütte noch bei den Veranstaltungen – hast du doch selbst gehört.“

„Ja. Ich glaube ihnen. Es ist toll, dass sie zusammenhalten. Schön, dass Bosse solche Freunde hat.“

„Das finde ich auch.“ Lianne ging hinter Britt in die Küche. Fragt sich bloß, ob das etwas nützt, dachte sie. Denn entlastet war Bosse durch die Aussage seiner Clique keineswegs.

Liannes Handy piepte. Die Nachricht:

„Guten Morgen, schöne Frau Ich hoffe, du hast dich vom Schrecken der vergangenen Nacht erholt. Soll ich dich heute abholen oder treffen wir uns um 19.30 Uhr vor Ort?“

„Ach du Schande, das hatte ich völlig vergessen.“ Lianne schüttelte den Kopf.

„Was denn?“, fragte Britt.

„Ich habe mich für heute Abend verabredet“, räumte Lianne ein. „Beziehungsweise ich bin eingeladen worden. Von Martin Schmitz, zu einer Art VIP-Event in den Ozeanwelten.“

„Martin Schmitz?“ Britt starrte ihre Freundin verblüfft an. „Na, das hätte ich jetzt aber nicht gedacht.“

„Es ist nicht so, wie du denkst.“ Was für ein klassischer Satz! „Ich meine, ich interessiere mich nicht für ihn. Aber er ist vorgestern am Strand aufgetaucht und hat sich nicht abwimmeln lassen – er hat so eine überzeugende Art …“

„So überzeugend, dass du dich in seinem Ferrari in Lebensgefahr begibst“, stellte Britt trocken fest. „Und jetzt mauschelst du in dunklen Gängen zwischen romantisch beleuchteten Aquarien mit ihm herum, und nur die Fische werden wissen, was tatsächlich geschah …“

„Du bist wirklich sehr, sehr witzig. Es ist nur eine Verabredung. Ich muss ja irgendwie wieder lernen, wie das geht. Außerdem wollte ich die ganze Zeit schon in die Ozeanwelten, aber ich komme einfach nicht dazu.“

„Verstehe. Da ist eine Einladung von Martin Schmitz natürlich die perfekte Gelegenheit.“ Britt grinste.

„Wenigstens habe ich dich kurz abgelenkt“, hielt Lianne ihr vor. „Entschuldige, das war blöd gesagt. Fändest du es schlimm, wenn ich heute Abend ausgehe, obwohl ihr so viel Ärger habt?“

„Quatsch!“ Britt zeigte ihr einen Vogel. „Was sollte es uns nützen, wenn du allein zu Hause sitzt? Wie du schon sagtest: Bosse wird vermutlich bald hier sein – vielleicht schafft er es sogar noch in die Schule. Danach müssen wir einiges klären und sehen, wie es weitergeht. Wenn ich deine Hilfe brauche, werde ich mich melden – aber das wird wohl kaum heute Abend sein.“

„Wenn doch, schick eine Nachricht.“

„Mach ich. Und das gilt umgekehrt auch für dich“, erklärte Britt. „Pass gut auf dich auf.“

„Warum?“

„Nach allem, was man hört, soll Martin Schmitz mitunter wirklich sehr überzeugend sein. Heißt: Er hat angeblich schon einige Frauen von Dingen überzeugt, von denen sie hinterher überhaupt nicht mehr überzeugt waren.“

Auch Britt Peters kann sich irren, dachte Lianne Stunden später, als sie durch den geheimnisvoll illuminierten Ozeantunnel in den Ozeanwelten schlenderte. Sanfte Chillout-Musik, die durch die Gänge der gewaltigen Aquarien­landschaft perlte, über Liannes Kopf unzählige bunte, tropische Fische, beeindruckende Riffhaie sowie „Speedy“, die mächtige Meeresschildkröte. Lianne hielt ein Glas Orangensaft in der Hand, während Martin Schmitz sich für Champagner entschieden hatte. Er wich nicht von Liannes Seite, machte aber keine weiteren Anstalten, sich ihr zu nähern.

Seltsam, dachte Lianne. Einerseits war sie erleichtert, andererseits auf eine – natürlich höchst alberne – Weise in ihrer Eitelkeit gekränkt. War sie nicht attraktiv genug? Ihre Abnahmebemühungen zeigten mittlerweile deutliche Erfolge. Die neue, schwarze Stoffhose im Bootcut-Schnitt kaschierte zudem gnädig die noch vorhandenen Fettpolster. Vorhin in ihrer Wohnung war Lianne mit ihrem Spiegelbild so zufrieden gewesen wie seit Langem nicht. Das schien allerdings eine Einzelmeinung zu sein.

„Und, was hältst du von unseren Ozeanwelten?“, fragte Martin, während sie einen langen Gang hinunterschritten. Links und rechts prächtige Barsche, zarte Seepferdchen, bizarre Feuerfische, unheimliche Muränen, niedliche Clownfische und zahllose weitere Meeresbewohner, alle vollkommen desinteressiert an dem, was jenseits der Glasscheiben vor sich ging.

„Wirklich schön.“ Lianne nickte. „Man taucht in eine andere Welt ab, die mit unserer nichts zu tun hat. Man vergisst, glaube ich, oft, wie vielfältig das Leben jenseits unserer menschlichen Existenz ist.“

„Du bist ja eine richtige Philosophin.“ Martin lächelte wie eine zufriedene Katze beim Anblick einer Maus in der Falle. „Ich mag intelligente Frauen.“

Sie betraten einen hellen Raum mit einem langgestreckten, ovalen Becken, das zur Hälfte in den Boden eingelassen war. Daneben reihten sich Stehtische mit weiteren gefüllten Gläsern darauf aneinander – selbstverständlich ein Extra-Service an diesem Abend, hatte Martin erklärt, für ein Publikum, das bereit war, einen entsprechend höheren Eintrittspreis zu zahlen.

„Das ist mein Lieblingsbecken hier“, meinte Martin. Gemeinsam traten sie an die Glaswand und blickten ins Wasser.

„Oh!“ Lianne war verblüfft. Nur wenige Zentimeter von ihrer Nasenspitze entfernt erhob sich ein wunderschöner Rochen ein Stück weit aus dem Wasser. Einige Sekunden lang glaubte sie, er sähe ihr direkt in die Augen.

„Rochen und Katzenhaie“, erklärte Martin vergnügt. „Sind sie nicht traumhaft? Das gibt es nur in Timmendorf.“

Lianne verkniff sich die Anmerkung, dass es Rochen sowohl in unzähligen Aquarien als auch in allen Weltmeeren gab. Die Nähe zu diesen eleganten und zugleich fremdartigen Lebewesen übte jedenfalls einen besonderen Zauber aus, da musste sie Martin recht geben.

Der Rochen erhob sich erneut, als wollte er ihr etwas sagen. Was natürlich nicht sein konnte.

Oder doch? War der Rochen vielleicht überaus klug und vorausschauend? Hatte er Lianne davor warnen wollen, nach dem Besuch der Ozeanwelten noch mit zum Parkplatz der Tourismus GmbH zu kommen? Tiere spürten ja die Gefahr, dachte Lianne, während Martin Schmitz an ihrem linken Arm zerrte und sie überlegte, ob sie ihm mit der rechten Faust einen Schlag auf die Nase verpassen sollte – und ob sie das überhaupt konnte.

Ein unangenehmes Ende dieses Abends hatte sich angedeutet, aber Lianne hatte die Zeichen verdrängt. Dabei war Martin Schmitz nach dem vierten Glas Champagner spürbar näher gerückt, woraufhin sie jede Gedankenspielerei über ihre möglicherweise mangelnde Attraktivität verfluchte. Lieber gekränkte Eitelkeit als die Abwehr eines lästigen und vor allem angetrunkenen Begleiters.

Abgesehen davon, dass Martin Schmitz immer wieder versucht hatte, seinen Arm um Liannes Schultern zu legen, hatte er sich fortwährend bemüht, ihr ebenfalls Champagner aufzudrängen. Als sich Lianne standhaft weigerte, Alkohol zu trinken, hatte er das Wort „Spießerin“ fallen lassen.

Lianne hatte genug. Sie würde sich nie wieder mit Martin Schmitz treffen, beschloss sie, während sie am Gehege der Fischotter deren scharfen Geruch einatmeten, den sich Lianne auch für sich selbst wünschte, als wirksames Abwehrmittel gegen aufdringliche Männer.

Vor dem Nie-Wieder-Treffen wollte Lianne allerdings das fliederfarbene Seidentuch zurückholen, das sie nach der Höllenfahrt in Martins Auto vergessen hatte, ein Geschenk von Svenja, Lianne hing sehr daran. Also war sie trotz Martins enervierenden Verhaltens mit ihm zu dem Parkplatz gegangen – und musste sich jetzt für oder gegen eine tätliche Auseinandersetzung entscheiden.

„Komm doch, wir fahren nach Lübeck!“ Martin zog erneut an Liannes Arm. Sie konnte nicht fassen, wie er sich benahm.

„Hör auf!“, rief sie. „Du machst dich lächerlich!“

Der Parkplatz lag hinter dem Alten Rathaus, dessen vanillefarbene Fassade sanft beleuchtet wurde. Das kreisförmige Areal war bis auf den letzten Platz gefüllt, gut 20 Autos – darunter unübersehbar Martins gelber Ferrari – standen an der Buchenhecke, die das Rondell umsäumte. Mehrere Schilder wiesen darauf hin, dass der Parkplatz um 22 Uhr geschlossen wurde, also in etwa einer Dreiviertelstunde. Aber noch war kein Mensch zu sehen, der in seinen Wagen steigen und wegfahren wollte.

„Lächerlich? Das werden wir ja sehen!“ Martin presste Lianne an seinen Sportwagen. Sein Atem roch nach zu viel Schampus.

Verdammt. Jetzt durfte sie nicht länger zögern. Aber was, wenn sie nicht traf? Was, wenn er zurückschlug? Wäre der berühmte Tritt in die Weichteile die bessere Alternative?

Gerade hob Lianne leicht das Knie, als sie das Bellen eines Hundes hörte. Gott sei Dank!

„Hilfe!“, rief sie laut. „Hier bin ich! Hilfe!“

Eine hochgewachsene, hagere Gestalt erschien an der Parkplatzzufahrt zur Poststraße. Ein kniehoher, struppiger Hund schoss auf Lianne und Martin zu und begann, ausdauernd zu kläffen. Dann durfte Martin Schmitz die gleiche Erfahrung mit Kristof Lorenzens Schnelligkeit machen wie sein Bruder Jupp bei der Saisoneröffnung des Strand-Treffs. Lorenzen war mit wenigen Schritten beim Auto, drehte Martin den rechten Arm auf den Rücken und drückte ihn zu Boden.

Eddie bellte weiter, während Lianne einige Schritte zurückwich.

„Eddie, aus!“, befahl Lorenzen knapp. Der Hund verstummte.

„Lass mich los!“, ächzte Martin Schmitz. „Das ist Körperverletzung!“

„Nothilfe, würde ich sagen“, gab Lorenzen kühl zurück. „Ich lasse los, wenn du dich beruhigt hast.“

„Ich bin ruhig!“, behauptete Martin jammernd. Lianne war davon keineswegs überzeugt, doch Lorenzen lockerte seinen Griff um den Arm des anderen Mannes und ließ Martin dann aufstehen.

„Kristof!“, stieß Martin erbost hervor, während er seine Jacke abklopfte. „Was mischst du dich hier ein?!“

„Hallo, geht’s noch?“, stieß Lianne empört hervor. Was glaubte Martin – dass es seine Privatangelegenheit war, wenn er versuchte, eine Frau in sein Auto zu zwingen?!

„Das war wohl kaum deine Privatangelegenheit“, bemerkte Lorenzen trocken, als hätte er Liannes Gedanken gelesen. „Du hast diese Frau belästigt, und sie hat um Hilfe gerufen.“

„Belästigt, pah!“ Martin Schmitz schnaubte. Lianne stellte entgeistert fest, dass ihm die Szene gar nicht peinlich zu sein schien.

„Ich wollte sie nur zu einer schönen Fahrt nach Lübeck überreden! Das hat man davon, wenn man sich großzügig zeigt!“

„Du hast ja ein Rad ab!“ Lianne tippte sich an die Stirn. „Ich wollte bloß meinen Schal wiederhaben! Da hat er mich festgehalten!“

„Welchen Schal?“ Lorenzen konnte sich eindeutig auf das Wesentliche konzentrieren.

„Der liegt in seinem Auto.“ Lianne räusperte sich. Martin mochte sich nicht schämen – sie tat das durchaus. Was dachte ihr Nachbar jetzt von ihr?

„Mach mal den Wagen auf.“ Lorenzen wartete, bis Martin widerstrebend die Fernbedienung für den Ferrari aus der Jacke gekramt und auf das entsprechende Knöpfchen gedrückt hatte. Dann öffnete Lorenzen die Beifahrertür des Autos, beugte sich hinein und tauchte mit Liannes Tuch wieder auf.

„Das hier?“

„Ja. Danke.“ Lianne verstaute das Tuch hastig in ihrer Handtasche, während Martin ihr böse zusah.

„Willst du Anzeige erstatten?“, erkundigte sich Lorenzen.

„Anzeige … ähm. Ja. Ich weiß nicht.“ Lianne war unsicher. „Muss ich das sofort entscheiden?“

„Nein.“

„Anzeige? Wieso Anzeige? Was soll das bedeuten?“ Martin riss die Augen auf, ganz in der Rolle des zu Unrecht Beschuldigten gefangen.

„Wie wäre es mit versuchter Nötigung?“ Lorenzens Tonfall blieb sachlich. Er hätte genauso gut „Morgen soll das Wetter eher wechselhaft werden“ sagen können.

„Also das ist doch …“ Martin Schmitz trat einen Schritt vor, hielt dann aber inne. Der kurze Aufenthalt auf dem Pflaster des Parkplatzes schien ihn doch beeindruckt zu haben.

„Ich würde jetzt erst einmal gern nach Hause gehen“, unterbrach Lianne. „Ich muss das zunächst verarbeiten, schätze ich.“

„Wie du willst.“ Lorenzen zuckte mit den Schultern und wandte sich Richtung Altes Rathaus. „Dann können wir los.“

„Ja … okay.“ Lianne sah Martin Schmitz ratlos an. Was sagte man in einer solchen Situation? „Auf Wiedersehen“ wohl kaum. „Danke für den schönen Abend“ kam ebenfalls nicht in Betracht. Dass sie in den Fernsehkrimis derlei wirklich wichtige Aspekte des Lebens aber auch nie berücksichtigten!

Schließlich entschied sie sich für bedeutungsvolles Schweigen, drehte sich ebenfalls um und ging davon, Lorenzen an ihrer Seite. Eddie lief fröhlich wedelnd voraus. Lianne warf keinen Blick zurück. Auf Höhe des Strohdachhauses hörte sie das unverkennbare Dröhnen des Ferrari-Motors, das dieses Mal nach Ärger, Enttäuschung und gekränkter Eitelkeit zugleich klang.

„Fahren sollte er eigentlich nicht mehr“, meinte sie vorsichtig. „Danke, dass du mir geholfen hast. Schon wieder, sozusagen.“

„Keine Ursache. Ich …“ Ihr Nachbar schien noch etwas sagen zu wollen, doch es kam nichts mehr.

Nach wenigen Minuten hatten sie die ehemalige „Pension Agathe“ erreicht, stiegen die Treppe empor. Lorenzen schloss auf und betrat vor Lianne den Flur. Unschlüssig blieb sie vor ihrer Wohnungstür stehen.

„Ja, also … danke noch mal“, sagte sie. Und dann, einem plötzlichen Impuls folgend: „Kann ich dich noch auf ein Getränk auf der Terrasse einladen? Ich habe zwar nicht viel da, aber im Kühlschrank …“

Sie brach ab. Der Gesichtsausdruck ihres Nachbarn war nicht zu deuten.

„Aber ich will mich auch nicht aufdrängen“, fügte sie hastig hinzu. „Wenn du keine Lust hast …“

Dann geschah das Wunder, Lorenzen zeigte so etwas wie ein Lächeln. Na gut, ein halbes.

„Okay“, erwiderte er. „Aber nur, wenn du etwas Alkoholfreies im Haus hast.“