Kapitel 21
Nachtragend war Thea Harms nicht. Lianne hatte befürchtet, ihre Chefin würde ihr den Ausstieg aus der „Soko“ verübeln, doch Thea hatte kein Wort mehr darüber verloren und Lianne für heute sogar einen freien Tag genehmigt. Thea selbst wollte einspringen, „und Margot hilft mir“, und Lianne hätte am liebsten kontrolliert, wie die beiden Damen diesen Tag über die Runden brachten, aber das tat sie natürlich nicht.
Lianne hängte Handtuch und Badeanzug auf den Wäscheständer auf ihrer Terrasse. Dann der Blick über den Rasen und die niedrige Hecke auf die Ostsee. Ein milder Frühsommertag, aber windig, Schaumkronen auf dem Wasser.
Lianne fühlte sich so viel fitter als vor Monaten – unendlich weit entfernt von der Lianne, die damals mit dem hastig befüllten Transporter nach Timmendorf floh. Mittlerweile freute sie sich auf ihre Laufrunden, ihr Schwimmstil hatte sich durch die Übungseinheiten mit Thea klar verbessert. Heute Morgen hatte Lianne ohne betagte Trainerin einige Extrabahnen eingelegt. Wie machte sich denn ihre Kraultechnik ohne Theas strenge Anweisungen („Gestreckte Haltung! Armzug mit S-Kurve! Beinschlag! Zweieratmung!“)? Sie machte sich gut.
Im Wohnzimmer auf dem Couchtisch der große, braune Umschlag, Papier gewordene Aufforderung. Lianne seufzte. Keine Chance, sich noch länger vor den Unterlagen zu drücken, die Matthias nach Timmendorf geschickt hatte. Zum einen Angebote von potenziellen Wohnungskäufern – vermutlich die leichtere Aufgabe. Matthias hatte die Preisvorstellungen der Interessenten angedeutet, hohe Summen, weit höher als gedacht, und wenn Matthias dieses Geld tatsächlich mit ihr teilte, dürfte sie nie wieder ein einziges schlechtes Wort über ihn verlieren.
Zum anderen die Scheidungsvereinbarungen, ebenfalls im braunen Umschlag, weshalb Lianne ihn bislang auch nicht geöffnet hatte, sondern um ihn herumschlich wie eine zögernde Katze, die keine Lust hatte, eine fette, selbstbewusst feixende Ratte anzugreifen. Vereinbarungen, die Endgültigkeit bedeuteten, einen dicken roten Schlussstrich, den Lianne nie gewollt hatte.
Doch sie hatte versprochen, die Dokumente durchzuarbeiten, ein Versprechen, das sie halten würde. Heute.
„Aber jetzt noch nicht“, sprach Lianne laut in die leere Wohnung. Ein Griff nach der Einkaufstasche – das schöne Wetter schrie nach einem längeren Spaziergang, danach eine Einkehr beim Discounter und im Supermarkt am Höppnerweg, und dann war sie vielleicht bereit für die bürokratischen Schritte hin zum Ende ihrer Ehe.
Richtung Timmendorfer Platz: Eintauchen in die typische Timmendorf-Atmosphäre, schwer in präzise Worte zu kleiden, aber dennoch unverwechselbar. Ockerfarbenes Pflaster mit einem Stich ins Rötliche, Kleiderständer auf den Gehwegen, weiße Strandkörbe an der Kurpromenade, geschäftige Ruhe in den Boutiquen am Vormittag, Menschen in den Straßencafés. Das Grün der Eichen und Kiefern, in denen der Wind rauschte, milchigblauer Himmel, Geschrei von Möwen und Krähen, Dünen, endlose Sandflächen und dahinter die See. Wollte Lianne in ihre alte Heimat zurück? Nein. „Das gibt es nur in Timmendorf“ – hier passte die Floskel, im positiven Sinne.
Auf der Kurpromenade vorbei am Seepferdchen-Brunnen, rechts der Strandpark mit der Trinkkurhalle. Anfangs hatte Lianne die beiden Kurparks verwechselt, bis Britt sie als Liannes persönliche Fremdenführerin aufgeklärt hatte.
„Da ist zum einen der Alte Kurpark“, hatte Britt berichtet, „zwischen Strandallee, Bergstraße und Wohldstraße. Diesen Park hat der Lübecker Garteninspektor Harry Maasz Anfang der 1930er-Jahre geplant. Mit einem tollen Baumbestand – Trauerweiden, Birkengruppen, Rotbuchen und Ahorne zum Beispiel.“
„Bist du auch Pflanzenkundlerin?“
„Nein, meine Liebe“, hatte Britt würdevoll entgegnet. „Ich interessiere mich nur für meinen Geburtsort. Weiter im Text: Die Teiche im Alten Kurpark haben außerdem die Funktion von Regenrückhaltebecken, wenn zu viel Wasser herunterkommt.“
„Und warum gibt es keinen Neuen Kurpark, wenn es doch einen Alten gibt?“
„Den gab es ja, nur Geduld. Das Areal zwischen Kurpromenade und Strand, in dem auch die Trinkkurhalle steht, hieß früher Neuer Kurpark. Es war einst ein Rosengarten, jetzt aber stehen dort vor allem, wie du weißt, große Kiefern. Na, und dieser Park ist vor einigen Jahren in ,Strandpark‘ umbenannt worden. Ich weiß allerdings nicht warum.“
„Du weißt etwas nicht?!“ Lianne gab sich entrüstet. „Da werde ich mir wohl ein neues, sprechendes Timmendorf-Lexikon suchen müssen …“
Lianne grinste, als sie vor dem Hotel am Meer den Weg nach rechts hoch zum Seebrückenvorplatz einschlug. Natürlich würde sie sich niemals einer anderen Informationsquelle zur Historie Timmendorfs zuwenden, Britt war unschlagbar. Sie begab sich sogar regelmäßig zu „Lesestunden“ ins Timmendorfer Gemeindearchiv, untergebracht im Dachgeschoss des Strohdachhauses.
„Vielleicht hättest du Geschichte studieren sollen“, hatte Lianne angeregt.
„Tja. Vielleicht.“ Britt hatte mit den Schultern gezuckt. „Aber so macht es auch Spaß.“
Lianne ging an der Udo Lindenberg-Skulptur vorbei, weiter die Promenade entlang. Stecos Strand-Treff war noch geschlossen, er öffnete erst am späten Nachmittag. Hundert Meter danach, auf einer Bank vorm Strandzugang eine schmale, in sich zusammengesunkene Gestalt. Als Lianne sich näherte, hob die Gestalt den Kopf, verbarg hastig eine dunkelgrüne Flasche unter ihrer blauen Sommerjacke.
„Moin!“ Lianne nickte Sigrid Steenkamp knapp zu. Die blasse Appartement-Vermieterin wirkte noch verhärmter als sonst und gab nur ein schwaches „Moin“ zurück.
Lianne setzte ihren Weg fort. War das eine Weinflasche, die Sigrid so schnell hatte verschwinden lassen? Um diese Zeit?
„Na dann prost“, murmelte Lianne. Du bist schrecklich, Lianne Paulsen, ermahnte sie sich gleich darauf. Wer um diese Zeit trinkt, hat höchstwahrscheinlich ein Problem, über das du dich nicht lustig machen solltest.
Ein Gedanke, der sie zu Kristof Lorenzen führte, zu der Stunde, die sie mit ihm auf der Terrasse verbracht hatte, nachdem Kristof sie aus den schmierigen Fängen von Martin Schmitz befreit hatte.
Lianne hatte Kristofs Wunsch nach einem alkoholfreien Getränk mit Traubensaft-Schorle nachkommen können. Gemeinsam hatten sie einen Moment schweigend auf den Gartenstühlen auf Liannes Teil der Terrasse gesessen. Blicke in den Abendhimmel, dann erklärte Kristof unvermittelt: „Ich bin Alkoholiker. Seit neuneinhalb Jahren trocken.“
Überflüssiges Geschwätz konnte man Liannes Nachbarn nicht vorwerfen. Seine direkten Worte überrumpelten sie.
„Oh … ich … das ist gut. Ich meine, das ist eine gute, lange Zeit“, erwiderte Lianne schließlich. Erzählte von ihrer eigenen Trinkerei, von den größer werdenden Weinmengen am Abend, den Cocktails und den Kräuterlikören, den ständigen Kopfschmerzen am Morgen, dem Sodbrennen und den Magenkrämpfen und dem allmählichen körperlichen Verfall.
„Seit Februar habe ich nichts mehr getrunken“, schloss sie. „Na ja, fast. Einmal eine halbe Flasche Wein, mit Britt, im Schlafstrandkorb – und einmal bin ich mit dieser grässlichen Timmendorfer Pfütze abgestürzt, bei Stecos Eröffnung, als sich Jupp und Ole fast geprügelt hätten und du dazwischengegangen bist.“
„Ach, das.“ Kristof machte ein unbeteiligtes Gesicht, als hätte Lianne lediglich erwähnt, dass er einer älteren Dame die Tür aufgehalten hatte. „Die waren beide angetrunken, hatten sich nicht mehr im Griff. Ein Grund von vielen, mit der Sauferei aufzuhören.“
„Aber nicht jeder schafft es so wie du.“
„Sport hilft.“
„Bist du deshalb Triathlet geworden?“ Ihr Nachbar warf mit Informationen nicht um sich, aber Lianne war entschlossen, ihm das zu entlocken, was sie wissen wollte.
„Ja. Unter anderem. Aber mittlerweile … hat der Sport einen Selbstzweck. Sozusagen.“ Kristof nahm den Tennisball auf, den Eddie angeschleppt hatte, warf ihn in den dunklen Garten. Der Hund rannte hinterher.
„Und woher kommt es, dass du nervige Männer so professionell zu Boden bringen kannst?“, bohrte Lianne. „Hast du das bei der Polizei gelernt.“
Kristof nickte.
„Wo genau bei der Polizei warst du denn?“
„Ach, egal.“ Wieder Schweigen. „Bei einer Spezialeinheit“, rückte Kristof widerwillig heraus.
„Echt? Bei welcher?“ Dass sie diesem Mann aber auch jedes Wort abringen musste!
„Egal. Letztlich war es keine gute Zeit.“
„Hast du deshalb getrunken?“ Lianne hielt kurz den Atem an. War sie zu weit gegangen? Aber Kristof blieb sitzen.
„Ja. Vor allem deshalb. Ich bin … ich konnte einige Erlebnisse nicht verarbeiten.“
Lianne fragte nicht, welche Erlebnisse das gewesen waren. Damit würde sie wohl eine Grenze überschreiten.
„Warst du verheiratet?“, erkundigte sie sich stattdessen.
„Weißt du, was eine hochnotpeinliche Befragung ist?“ Kristof grinste überraschenderweise.
„Entschuldige.“ Lianne wurde rot. „Ich bin zu neugierig. Es ist nur … du erzählst so wenig von dir, das ist ungewöhnlich.“
„So spannend bin ich nicht.“ Kristof sah sie mit einem unergründlichen Ausdruck an. „Also gut: Ja, ich war verheiratet. Meine Frau hat mich vor ziemlich genau zehn Jahren verlassen, seit mehr als acht Jahren sind wir geschieden. Keine Kinder. Jetzt bin ich selbstständiger Handwerker, und das ist Eddie, mein Hund. Zufrieden?“
Lianne lachte. Dann wurde sie wieder ernst.
„Eine Scheidung habe ich auch vor mir.“ Sie berichtete von Matthias und Mareile, von ihrer Flucht und ihrer Ratlosigkeit bei ihrer Ankunft in Timmendorf.
„Und, bist du immer noch ratlos?“
„Nein.“ Lianne schüttelte den Kopf. „Ich weiß zwar nicht, wie es genau weitergehen soll – aber es stört mich nicht. Irgendetwas wird sich schon ergeben.“
„Das stimmt.“ Kristof sah auf seine Uhr. „Zum Beispiel ein neuer Tag, an dem ich früh aufstehen muss. Danke für die Schorle.“
Er erhob sich, rief Eddie und machte über den Rasen einen Bogen um die halbhohe Mauer, die Liannes Terrasse von seiner trennte.
„Gute Nacht.“
„Eine Frage noch“, reagierte Lianne schnell. „Was meintest du mit dieser hochnotpeinlichen Befragung?“
Kristof grinste erneut. „Die gehörte zur Inquisition im Mittelalter“, informierte er Lianne. „Die Angeklagten wurden meist gefoltert, um Geständnisse zu erzwingen. Der Begriff ,peinlich‘ kommt in diesem Fall von ,Pein‘ – es geht also um Schmerzen.“
Oh.“ Lianne wurde wieder rot. „Tut mir leid.“
„Keine Ursache. Weißt du, was man beim Triathlon sagt?“
„Nein?“
„Schmerz ist Schwäche, die den Körper verlässt. Tschüs, Frau Nachbarin.“
Lianne lächelte breit – und hielt überrascht inne. In Gedanken versunken, war sie fast bis Scharbeutz gelaufen. Links tauchte bereits der Parkplatz des Baltic-Spaßbades auf. Das hieß Rückmarsch bis zum Supermarkt im Höppnerweg – bestimmt zwei Kilometer!
Kopfschüttelnd machte Lianne kehrt. Wie lange wollte sie sich etwas vormachen? Sie hatte seit dem Gespräch auf der Terrasse sehr oft an Kristof gedacht, öfter, als eine Frau normalerweise an ihre Nachbarn dachte. Informationen über sein Leben, die ihr immer wieder im Kopf herumgingen, nach ihm Ausschau halten (bislang ohne Erfolg). Hatte sie sich in den wortkargen, hageren Mann mit den millimeterkurzen Haaren und dem netten Hund verguckt? Würde das ihrem kleinen, verwundbaren Herzen gut tun? Oder war sie in Bezug auf Männer einfach nur ausgehungert und richtete ihre romantischen Gefühle auf jede Zielperson, die sich nicht bei Drei in der Toilette eingeschlossen hatte?
Ob sie mit Britt darüber reden konnte? Die Freundin hatte zwar mehrmals angeregt, Lianne möge sich wieder auf jemanden einlassen, „und wenn es nur für den Übergang ist“. Dabei aber vermutlich nicht in Britts Sinn: Kristof Lorenzen. Vielleicht würde sie Lianne auslachen? Oder noch schlimmer – würde Kristof Lianne auslachen, wüsste er von den Verwirrungen, die er bei ihr ausgelöst hatte?
„Schluss jetzt.“ Lianne schritt energisch voran, als müsste sie heute noch einen Großteil des Jakobsweges bewältigen. Fruchtlose Überlegungen, sie brauchte andere Gedanken. Was Thea wohl gerade machte? Ob sie zurechtkam? Klar, es war schließlich ihre Strandkorbvermietung, Thea hatte mehr Jahre Gästebetreuung auf dem Buckel, als Lianne in ihrem Restleben noch schaffen würde.
Ob Thea künftig allein weiter „ermittelte“, sich als Timmendorfer Antwort auf Miss Marple auf die Spur des „Attentäters“ begab? Sie hatte das angedeutet. Aber wie wollte sie vorgehen? Vor Ole Martens Hof in Groß Timmendorf wie im Fernsehkrimi in einem unauffälligen Mittelklassewagen Position beziehen und „observieren“? Wie lange würde es dauern, bis er das bemerkte? Oder sich an die Fersen von Sophie Augsbach heften? Dann würde Thea in Wallung kommen, die Reporterin hatte garantiert eine ganze Latte von Terminen, die sie abfahren musste. An eine Verfolgung von Martin Schmitz war gar nicht zu denken, jedenfalls nicht, wenn er in seinem gelben Ferrari saß. Obwohl er den ja vielleicht demnächst verkaufen musste, sollte er wirklich pleite sein.
Einzig Sigrid Steenkamp ließ sich wahrscheinlich gut im Auge behalten. Thea hätte sich vorhin unverbindlich neben sie auf die Bank setzen können. Wo Sigrid jetzt nicht mehr saß, wie Lianne feststellte, als sie am Strandaufgang vorbeilief. Hatte die vom Leben enttäuschte Appartement-Vermieterin inzwischen die ganze Flasche Wein ausgetrunken? Hoffentlich nicht.
Steckte tatsächlich eine dieser vier Personen hinter den Sabotageakten? Die Ermittlungen gegen Bosse Peters zumindest waren eingestellt worden. Der Verdacht gegen den 17-Jährigen stand jedoch bei diversen Timmendorfern weiterhin unausgesprochen im Raum, jede Wette.
Aber er war bei dem Brand nur vor Ort, dachte Lianne. Genau wie ich – und einige andere. Da könnte man die Verdächtigenliste deutlich verlängern: Lianne Paulsen. Kristof Lorenzen. Hanno Stöhlmaker, warum denn nicht, oder vielleicht noch Grit Nissen, die nahezu hundertjährige Kassiererin aus dem Schwimmbad – je mehr, desto lustiger die Gesellschaft für Theas aktuelle Favoriten.
Sinnvoller als diese Spekulationen erschien die Frage, welche Veranstaltung das nächste Ziel darstellen könnte – vorausgesetzt, Mister oder Miss „Die fetten Tage sind vorbei“ setzte sein oder ihr Treiben fort. Ostsee-Hockey oder Ostsee-Volleyball, die beiden bekannten Sport-Turniere? Die „Leuchtende Nacht“ im Alten Kurpark, ein groß angelegtes Lichterfest?
Oder die „Kulinaria“, bei der es darum ging, teure Gerichte mit langen Namen zu verputzen? War eine derartige Schlemmerparty ein interessantes Ziel? Immerhin, es war nicht gelungen, das Strand-Dinner zu stören – von der Attacke auf Philipp abgesehen. Ein Anschlag auf diese „Kulinaria“ wäre doch eine schöne zweite Gelegenheit, den Leuten den Appetit zu verderben, oder?
Lianne überquerte die Kurpromenade, ging dann nach dem Timmendorfer Platz und dem kleinen Stichweg am Rathaus die parallel zur Poststraße verlaufende Erlenbruchstraße entlang, eine Abkürzung zum Höppnerweg.
Das Plakat war gar nicht so groß, Din-A4-Format im Alu-Rahmen, an einem Laternenpfahl. In der Mitte ein klassischer, roter Sportwagen, von einer Art Heiligenschein umkränzt, drumherum Andeutungen von Strand und Meer und Sonne. Darüber die Zeile: „Auto-Show Timmendorf – Hier werden Ihre Träume wahr“.
Lianne blieb so abrupt stehen, als wäre sie gegen eine Betonmauer gelaufen. Sie starrte auf die Ankündigung. Darauf hätte sie eigentlich von selbst kommen können.