Kapitel 22

Sie erkannte sie nicht sofort. Ein einziges Mal hatte sich Lianne das Foto von Mareile angesehen, auf der Internetseite des „Café Danzer“, die neben sämtlichen jemals erfundenen Kaffee-Zubereitungen auch die „Spezialitäten aus unserer Pralinen- und Schokoladen-Manufaktur“ pries.

„Unsere Chefin Mareile Danzer“ stand unter dem Bild. Jung, blond, zart, strahlendes Lächeln, mehr hatte sich Lianne nicht gemerkt an jenem Tag nach Matthias’ „Geständnis“, da hatte sie genug zu tun mit Selbstmitleid und Fluchtvorbereitungen.

Später wollte sie nicht mehr oder traute sich nicht oder beides. Lianne war nicht der Typ für Selbstkasteiung, die keine Belohnung versprach, warum also ewig auf dieses Foto starren, sie hätte sich nur minderwertig gefühlt, und außerdem: Wie konnte eine Frau, die den ganzen Tag in einer Pralinen- und Schokoladenmanufaktur arbeitete, so schlank sein?!

Aber so schlank war Mareile gar nicht mehr, wie sich herausstellte. 29 Grad schon den zweiten Tag in Folge, keine Wolke am Himmel, kein Lüftchen, spiegelglatte See und heißer Sand, das ging an der Ostseeküste locker als Hitzewelle durch. Alle Strandkörbe besetzt, nahende Mittagsstunde, aber niemand hatte die Kraft, sich zu erheben, um eine – womöglich auch noch warme – Mahlzeit zu ergattern, lieber liegen und dösen und die Zeit dahintröpfeln lassen. Die Szenerie erstarrt wie auf einer überkolorierten Postkarte aus den 1970er-Jahren, Lianne im Schatten des gelben Sonnenschirms eines bekannten Sonnencreme-Herstellers, auf dem Plastikstuhl, dessen Beine immer einige Zentimeter im Sand versanken, den reißerischen Schweden-Krimi in der Hand, dieses Kapitel würde sie heute noch zu Ende lesen.

„Lianne? Lianne Paulsen?“ Eine leise, aber feste Stimme. Lianne hob den Kopf. Vor dem Vermieterhäuschen eine zierliche Frau mit weichen, blonden Haaren und großen, blauen Augen, in einem leichten, blaugrünen Sommerkleid, die Sandalen an den Füßen in der gleichen Farbe.

„Ja?“ Lianne stand auf. „Es tut mir leid, aber heute sind alle Körbe bereits …“ Abbruch. Rauschen in den Ohren, leichtes Schwanken, und wie aus dem Nichts der drängende Wunsch nach einer Zigarette. Verwechselte sie die Frau eventuell? Nein. Das war Mareile. Matthias’ Mareile, Mutter seines ungeborenen Kindes, jetzt sah Lianne auch, dass sich unter dem blaugrünen Sommerkleid das berüchtigte „Bäuchlein“ abzeichnete.

„Wir kennen uns ja noch gar nicht persönlich.“ Mareile machte einige Schritte nach vorne, streckte entschlossen die Hand vor, und Lianne ergriff sie, reflexartig, als würde sie auf einem x-beliebigen Empfang ihrer Tischnachbarin vorgestellt werden und nicht die neue Frau ihres künftigen Ex-Mannes am Timmendorfer Strand begrüßen.

„Hallo“, rang Lianne sich ab. „Ich … das trifft mich jetzt doch sehr unvorbereitet.“

„Entschuldigung.“ Mareile wirkte unsicher. „Ich habe extra vorher nicht angerufen. Ich dachte, dass du – ich darf doch Du sagen? Also, ich dachte, dass du es dann vielleicht ablehnen würdest, mich zu treffen.“

„Ja, das …“, … ist absolut richtig, wollte Lianne entgegnen, verkniff es sich aber, sah Mareile stattdessen ratlos an. Grundgütiger, die Frau war mindestens einen Kopf kleiner als Lianne, sie konnte Matthias allerhöchstens bis zur Achselhöhle reichen.

„Ich würde mich gern mit dir unterhalten“, fuhr Mareile fort. „Aber ich weiß nicht, ob es jetzt passt, bei der Arbeit, ich kann sonst auch warten …“

„Nein! Ich meine, das geht schon, in der Mittagszeit ist es meistens ruhig, jedenfalls bei der Hitze, kann aber sein, dass ich mich zwischendurch mal kümmern muss.“ Lianne immer noch im Schatten des Sonnenschirms, dennoch machten sich von ihrem Nacken aus feine Schweißrinnsale auf den Weg über ihren Rücken, als sei sie die Teilnehmerin an einer TV-Show im grellen Licht der Studio-Scheinwerfer.

Sie musterte ihre Nachfolgerin. Geriet Mareile nicht ins Schwitzen? Du liebe Zeit, sie war ja schwanger, durften Schwangere überhaupt so lange in der Sonne herumstehen?

„Hier, nimm den Stuhl.“ Lianne wies mit dem Kopf auf ihren Plastiksitz. „Ich hole mir einen anderen. Möchtest du etwas trinken?“

„Mineralwasser, gerne.“ Mareile ließ sich vorsichtig in dem halb versunkenen Stuhl nieder.

Im Vermieterhäuschen lehnte sich Lianne an die Wand. Durchatmen. Mareile war hier. Warum? Sie war tatsächlich hübsch und liebreizend und hatte etwas an sich, etwas Besonderes. Wäre Lianne ein Mann, könnte sie Matthias vermutlich verstehen, aber sie war kein Mann und ihre Fähigkeit zum Verständnis hatte Grenzen. Was nun?

Andererseits: Mareile war bei Lianne aufgekreuzt, nicht umgekehrt. „Den Gegner erst einmal kommen lassen“ – sagten sie das nicht beim Fußball? Lianne schüttelte den Kopf, alberne Gedanken, wollte sie als Nächstes einen Ball aus der Spieletruhe holen? Dann lieber Mineralwasser aus dem Kühlschrank und einen weiteren Plastikstuhl.

„Hier, bitte sehr.“ Lianne reichte Mareile eine kleine Flasche Wasser, stellte den Stuhl mit einem Sicherheitsabstand von eineinhalb Metern in den Sand und setzte sich. Schade, dass sie aufgehört hatte zu rauchen, im Moment war das wirklich schade.

Über den Körben der Strandkorbvermietung Harms, Abschnitt Seeschlösschen-Brücke lag tiefer Mittagsfrieden. Die Temperatur noch ein wenig höher als am Vormittag, schlummernde Gäste, träge Möwen, nicht einmal Kindergeschrei. Keine Chance auf Unterbrechung der Situation am Vermieterhäuschen in Sicht.

„Du fragst dich sicher, warum ich hier bin“, begann Mareile. Lianne nickte.

„Ganz genau kann ich es dir auch nicht sagen. Es ist … ich dachte, wir sollten uns kennenlernen und nicht nur … ein bestimmtes Bild voneinander haben. Wir sind ja nun doch auf gewisse Weise miteinander verbunden.“

„Findest du?!“ Lianne starrte Mareile entgeistert an. Miteinander verbunden? Schöne Formulierung, aber echt.

„Ja. Ich meine, Matthias und du …“ Mareile zupfte an ihrem Kleid herum.

„Ihr wart so lange zusammen, und ich – ich wollte wissen, wer du bist. Ich habe natürlich auch ein schlechtes Gewissen, weil ich mit daran schuld bin, dass du dein Leben in Bremen hingeworfen hast, und … ach, vielleicht wüsste ich einfach gern, wie wir miteinander umgehen sollen.“

Schon wieder ein „Miteinander“. Ich werde doch wohl keine neue Freundin gefunden haben?, dachte Lianne spöttisch. Dann horchte sie überrascht in sich hinein. Sollte sie diese Begegnung nicht als dramatisch empfinden? Erschütternd? Schockierend?

Tat sie aber nicht. Das Ganze war vielmehr absurd, relativ interessant und konnte womöglich noch lustig werden. Lianne musste grinsen. Jetzt war es an Mareile, entgeistert zu starren.

„Entschuldigung.“ Lianne räusperte sich. Nur nicht daran denken, wie sie diese Begebenheit später Britt erzählen würde, dann bekäme sie auf der Stelle einen Lachanfall.

„Wie hast du mich gefunden?“ Sachfragen konnten vielleicht zum Ernst der Lage zurückführen.

„Deine Adresse lag auf Matthias’ Schreibtisch. Er hat dir doch so viele Unterlagen geschickt. Ich habe hin und her überlegt – und bin dann einfach losgefahren.“

„Mit dem Auto?“ Die Frau war immerhin schwanger. Nicht, dass sie, Lianne, verantwortlich war, wenn Mat­thias’ künftige Kleinfamilie auf der Autobahn einem Hitzekollaps erlag.

„Nein. Ich habe den Zug genommen, das war entspannter. Schwanger sein ist anstrengend.“

Augen auf bei der Befruchtung, hätte Lianne gern gesagt, wäre sie nicht eine Meisterin der Selbstbeherrschung.

„Wann ist es denn so weit?“, fragte sie stattdessen.

„Ende September. Ich … wir freuen uns schon sehr.“

„Herzlichen Glückwunsch.“ So viel Sarkasmus musste nun doch sein. Aber Mareile ging nicht darauf ein.

„Ich wollte dir sagen, dass es mir leid tut, dass du einen so großen Verlust erlitten hast, damit ich so glücklich sein kann.“ Mareile suchte nach Worten. „Ich habe das nicht leichtfertig getan. Matthias ist meine große Liebe.“

Jetzt sind wir endgültig im Groschenroman-Jargon angekommen, dachte Lianne. Britt würde das gefallen. Und Lianne? Noch vor wenigen Monaten hätte sie sich eine üble Auseinandersetzung mit Mareile geliefert, Geschrei und Vorwürfe und Bitterkeit, Lianne wäre als moralische Siegerin aus allem hervorgegangen – und nun bedeutete es ihr gar nichts mehr.

Gewiss, in der Gesamtschau wäre es jetzt schöner, wäre Mareile eine grauenhaft hässliche Schwangere, unförmig dick und picklig und fetthaarig, nicht so zauberhaft und beschützenswert. Nur so am Rande. Aber letztendlich war es egal. Mareile und Matthias würden ihr Kind bekommen und eventuell glücklich sein bis ans Ende aller Tage – und Lianne war es egal.

„Was kann ich denn konkret für dich tun?“, erkundigte sie sich. Mittagszeit hin oder her, allmählich sollte Mareile zum Punkt kommen.

„Ich weiß nicht. Ich war unsicher.“ Mareile sah auf ihre Füße im Sand. „Auch, weil Matthias demnächst dieses Projekt in Timmendorf hat, das hat mir zu denken gegeben, dass er dann wohl doch öfter hier ist, und ich habe Sorge …“

„Matthias hat ein Projekt in Timmendorf?“ Davon hörte Lianne zum ersten Mal.

„Das wusstest du nicht? Oh. Ja. Paulsen-Projekte plant hier so etwas wie eine Strandbar, eine edle Lounge oder so, die Details kenne ich nicht. Aber ich dachte …“

Jetzt verstand Lianne.

„Du dachtest, dass er meinetwegen in Timmendorf arbeiten will? Um … was? In meiner Nähe zu sein?“

Sie hatte augenscheinlich ins Schwarze getroffen. Mareile nickte unglücklich.

„Also ich glaube, ich kann dich beruhigen.“ Lianne fühlte sich plötzlich seltsam mütterlich, oder zumindest wie eine ältere Tante, die ein aufgeregtes Kind besänftigen muss.

„Ich weiß nichts von einem Projekt, mir hat er nichts erzählt. Paulsen-Projekte plant immer alles Mögliche – das heißt noch lange nicht, dass auch alles tatsächlich umgesetzt wird. Und ganz sicher, hundertprozentig, will Matthias nicht zurück zu mir. Ich kenne ihn. Wenn er sich einmal entschieden hat, rückt er davon nicht wieder ab. Deine Sorge ist vollkommen unbegründet. Er liebt dich, er will das Kind, und wir lassen uns scheiden, fertig.“

Mareile schwieg so lange, dass Lianne irgendwann unauffällig einen Blick auf ihre Uhr warf.

„Danke“, meinte Mareile endlich. „Das hilft mir sehr.“

Sie kletterte unbeholfen aus ihrem Stuhl. Lianne erhob sich ebenfalls.

„Ich hoffe, die lange Fahrt hat sich gelohnt“, sagte sie.

„Auf jeden Fall“, bekräftigte Mareile, die deutlich gelöster wirkte als bei ihrer Ankunft. „Noch einmal danke für deine Worte. Das ist … du hast menschliche Größe, echt. Matthias hat immer gesagt, dass du eine sehr starke Frau bist. Und du bist auch so schön. Wirklich.“

Lianne stand der Mund offen. Mareile reichte ihr die Hand.

„Vielleicht sehen wir uns ja wieder. Ich nehme mir jetzt ein Taxi zum Bahnhof. Mach’s gut.“

Mareile drehte sich um, ging den Holzplankenweg zur Promenade hinauf, war wenige Sekunden später verschwunden. Lianne sank wieder auf ihren Stuhl.

Was für eine Begegnung! Die bezaubernde, junge Mareile fürchtete die Konkurrenz durch die deutlich ältere, abgerockte Ex-Frau. Wobei, so abgerockt war Lianne anscheinend gar nicht mehr. Nicht zu fassen.

Fünf Minuten später stemmte sich Lianne hoch. Höchste Zeit, die Reihen ihrer ruhenden Gäste abzuschreiten. Sie war eine pflichtbewusste Strandkorbvermieterin, und die war sie sehr gerne. Und, fiel ihr ein, sie wäre es vielleicht gar nicht, wäre Mareile nicht in Matthias’ Leben getreten. Schade, dass sie der jüngeren Frau das nicht gesagt hatte.

Alkohol wirkte bei Hitze schneller und intensiver, hatte Lianne erst vor Kurzem wieder in einem Apothekenblättchen gelesen – dessen Informationen aber nicht allen Timmendorfern eine Warnung waren, wie die Lage an Stecos Strand-Treff vermuten ließ.

Lianne war nach Feierabend ein Stück an der Wasserkante entlang in Richtung Scharbeutz spaziert, um das Treffen mit Mareile im Geiste Revue passieren zu lassen. Nach dem Hotel am Meer über den Strand zur Promenade, dort erblickte sie ein munteres Grüppchen an einem Stehtisch an der berüchtigten Bude. Es ging hoch her, mehrere bereits geleerte Flaschen Prosecco deuteten an, dass der noch frühe Abend einen fatalen Verlauf nehmen konnte.

Das allein hätte Liannes Aufmerksamkeit nicht erregt – die Zusammensetzung des Grüppchens aber war interessant. Thea wäre jetzt glücklich, dachte Lianne, waren doch sämtliche von ihrer Chefin ins Visier genommenen „Verdächtigen“ versammelt: Sigrid Steenkamp und Martin Schmitz, mit geröteten Gesichtern ihre Gläser schwenkend. Ole Martens, missmutig in sein Bier blickend. Und soeben trat auch Sophie Augsbach hinzu, stellte eine schwere Kameratasche auf den Boden. Jupp Schmitz lehnte am Tresen der Bude, ließ sich von Steco gerade eine weitere Flasche Prosecco reichen.

„Die Frau Reporterin! Guten Abend!“ Martin Schmitz hielt Sophie ein Glas hin, das sie huldvoll entgegennahm, und schenkte großzügig ein. „So jung und hübsch und dennoch fleißig bei der Arbeit – das gibt es nur in Timmendorf, haha.“

„Na, auf der Suche nach Geschichten?“ Jupp hatte sich genähert. „Jetzt, wo der Attentäter gefasst ist, sind die Themen nicht mehr so spannend, was?“

Sophie zog pikiert die Augenbrauen hoch. „Mach dir da mal keine Sorgen, Jupp. Es gibt immer etwas, über das es sich zu schreiben lohnt. Und wenn erst einmal der Prozess beginnt, habe ich eh wieder reichlich Stoff.“

Lianne spitzte die Ohren. Redeten sie über Bosse? So unauffällig wie möglich schlenderte sie näher heran.

„Hoffentlich wird dieser Chaot verknackt“, dröhnte Martin Schmitz. „Bin gespannt, was der Richter sagt. Da muss man doch einen Präze … Präsidenzfall schaffen.“

Präzedenzfall, du Trottel, dachte Lianne. Mal ganz abgesehen davon, dass Bosse es nicht war, dass sie keine Beweise gegen ihn haben und dass es deshalb sowieso keinen Prozess geben wird. Und weiß hier eigentlich keiner, dass Verhandlungen gegen Jugendliche grundsätzlich nicht öffentlich sind?

„Also ich kann die jungen Leute verstehen“, nuschelte Ole Martens. „Im Grunde haben sie doch recht.“

„Ach ja“, giftete Jupp, auf diesen Schlüsselreiz anspringend wie ein gieriger Labrador auf ein Stück Wurst. „Geht das schon wieder los. Ole Martens, der ewige Linksaußen. Aber ich möchte dich mal sehen, wenn die Autonomen dich aufs Korn nehmen.“

„Mich? Wieso ausgerechnet mich?“

„Na, du bist doch Schweinezüchter.“ Jupp füllte sein Glas. Lianne drückte sich hinter die Litfaßsäule, die dankenswerterweise neben dem Strand-Treff stand.

„Da kommen bestimmt auch irgendwann diese radikalen Tierschützer bei dir vorbei“, fuhr Jupp fort. „Das sind alles Autonome, und dann filmen und fotografieren sie alles in deinem Stall und stellen das ins Internet, natürlich zusammen mit deiner Adresse!“

„Blödsinn.“ Ole schüttelte den Kopf. „Außerdem geht es meinen Tieren gut, ich bin Biobauer!“

„Aber nicht zertifiziert“, bemerkte Martin Schmitz.

„Ole versucht wenigstens, wieder auf die Beine zu kommen“, mischte sich Sigrid ein. Sie klang weinerlich. „Ihr wisst ja gar nicht, wie das ist, wenn man alles verliert, aber Ole und ich, wir kennen das, wenn man ganz unten ist, schlimm ist das, wirklich schlimm.“

Interessante Vorstellung von „ganz unten“, überlegte Lianne mit Blick auf die zahlreichen, garantiert nicht billigen Flaschen auf dem Tisch. Ob Martin Schmitz jetzt beichten würde, dass er demnächst auch „ganz unten“ sein würde, ohne teure Sportwagen und womöglich auch ohne Penthouse? Doch der füllige Dortmunder schwieg.

Lianne sah zur Seite. Steco stand in der Durchreiche seiner Bude, musterte sie mit seltsamem, schwer zu deutendem Gesichtsausdruck. Lianne fühlte sich ertappt, nickte ihm verlegen zu. Der seltsame Gesichtsausdruck verschwand. Steco wies mit einer Hand auf das trinkende Grüppchen, verdrehte die Augen.

Lianne grinste und winkte. Dann schlug sie den Weg zur Strandallee ein. Es brachte gar nichts, diese Menschen zu belauschen. Sie waren betrunken, gaben nur dummes Zeug von sich. So dumm, dass es Lianne höchst zweifelhaft erschien, dass eine oder einer von ihnen schlau genug sein sollte, die Anschläge verübt zu haben.

Die Begegnung mit Mareile ließ Lianne nicht los, beinahe hätte sie bei Matthias angerufen, und wäre es nur, um zu fragen, ob die werdende Mutter wieder unversehrt in Bremen gelandet war. Das hätte einen bizarren Gesprächsverlauf ergeben, womöglich wusste Matthias gar nichts von diesem kurzen Trip seiner Liebsten an die Ostsee, und nachher stand Lianne noch als Petze da.

Lieber laufen, trotz der Temperaturen, die jetzt am späten Abend aber sanken, hell genug war es immer noch. Rasch in die Sportklamotten geworfen, dann los, die Promenade entlang. An den prächtigen Villen waren fast alle Jalousien und Rollos hochgezogen, die großen Häuser waren jetzt voller Leben. Zahlreiche Menschen am Strand, die nach dem Sonnenuntergang die sanfte, friedliche Atmosphäre und das milde Licht genossen.

Am Ende der Promenade bog Lianne in die Straße „An der Acht“ ab, an der großen Werfthalle vorbei, dann links auf die Strandstraße in Niendorf. Hier ein kleiner Schlenker auf das Hafengelände: südlich des Hafenbeckens die aufgehäuften Netze und die dicht besetzten Stühle der Hafenräucherei, dahinter die Kutter, wichtige Lieferanten sowohl von frischem Fisch als auch von rustikalem, maritimem Ambiente. Vor dem schiffsartigen Neubau der Hafen-Information eine überdimensionierte Motoryacht, an Bord ließen sich einige junge Leute beim Getränk bewundern. Auf der anderen Seite des Hafens dann die Verkaufsbuden der Fischer und ihre Holzschuppen, letztere modern und einheitlich gestaltet – schick, aber bei Weitem nicht mehr so pittoresk und urig wie ihre Vorgänger, die alten, bunten Wohnwagen, von denen nur einer überlebt hatte als eine Art Gedenkstätte für ein verstorbenes Niendorfer Original.

An der Hafenspitze das hübsche, zum Restaurant umfunktionierte Zollhaus, dort begann der Promenadenweg bis zur Niendorfer Seebrücke, links Dünen und Strand und Ostsee, rechts kleinere Häuser und Villen, nicht so prachtvoll wie die Timmendorfer, aber einladend und gepflegt.

Lianne musste sich konzentrieren, zahlreiche Spaziergänger flanierten umher, dazwischen kämpften Fahrradfahrer um ihr vermeintliches Recht, es war schwer, im kriegerischen Gewimmel Zusammenstöße zu vermeiden.

Auf dem großen Platz vor der Seebrücke, dem weitläufigen Niendorfer Balkon, war jeder Platz auf den Bänken besetzt. Trotz der vielen Menschen lief Lianne auf die erst wenige Jahre alte Brücke, deren Kopf die Form eines Fisches hatte, was nur aus der Vogelperspektive gut zu erkennen war.

Der „Fisch“ markierte ihren Wendepunkt. Lianne nahm den Rückweg in Angriff, mehr als sechs Kilometer sollten es heute nicht werden. Sie freute sich darüber, ihre Muskeln zu spüren, rasche Erschöpfung und Atemnot waren nur ferne, unangenehme Erinnerungen. Entsprechend euphorisiert traf sie vor der „Pension Agathe“ ein, wo Kristof Lorenzen baumlang am Mäuerchen des Vorgartens lehnte und beobachtete, wie sie die letzten Meter zurücklegte.

„Moin“, rief Lianne fröhlich, und es hätte aus ihrer Sicht diverse Möglichkeiten einer passenden Antwort gegeben. „Sportlich, sportlich, du siehst wirklich gut aus“ beispielsweise, oder „Schön, dich zu sehen, willst du mit mir essen gehen?“, oder auch „Ich muss ständig an dich denken und habe von dir geträumt“.

Stattdessen nickte Kristof nur knapp und erklärte im Tonfall eines besorgten Orthopäden: „Mit dem Laufstil machst du dir auf Dauer die Knie kaputt.“

„Oh. Danke schön.“ Lianne verzog das Gesicht. „Da spricht der Fachmann, wie?“

„Geht so.“ Kristof pfiff Eddie heran, der vergnügt aus dem Vorgarten stob und an Liannes Beinen hochsprang.

„Wenn du willst, kann ich dir ein paar Tipps geben. Können ja mal zusammen laufen.“ Er verzog keine Miene.

„Tipps. Ah ja. Tipps sind immer gut. Okay.“ In puncto Charme war bei Kristof noch viel Luft nach oben. Aber was wusste Lianne schon – vielleicht kam die Aufforderung zu einer gemeinsamen Trainingseinheit bei ihm einer Einladung zum Essen so nah wie möglich.

„Ja, dann. Ich muss noch …“

„… mit dem Hund raus. Gutes Gelingen.“ Nicht zum ersten Mal sah Lianne der hageren Gestalt und dem hüpfenden Hund hinterher. Ob ihre Chancen besser stünden, wenn sie ebenfalls Knickohren und struppigbraunes Fell aufweisen könnte? Sollte es überhaupt einen Weg zum Herzen dieses Mannes geben, dann war es ein überaus steiniger, und Lianne fragte sich, ob sie diesen Weg tatsächlich gehen wollte.