Kapitel 23
„Gerade vor und zurück, 90-Grad-Winkel, parallel zum Oberkörper.“ Erstens kommt es anders, zweitens als du denkst, stellte Lianne an diesem Morgen fest. Gemeinsames Lauftraining mit ihrem gestählten Nachbarn! Sie hatte mit einigem gerechnet – aber dass Kristof Lorenzen zunächst an ihrer Armhaltung herumkrittelte, war doch eine Überraschung.
„Wenn die Arme nach innen pendeln, zur Körpermitte, dann pendeln auch deine Knie zu den Seiten, und das sollen sie nicht“, erklärte er, über den noch menschenleeren Timmendorfer Platz trabend. Warme Luft und wolkenloser Himmel: Ein weiteres sonniges Wochenende kündigte sich an. Ein Pritschenwagen der Gemeinde rollte heran, auf der Ladefläche ein Stapel rot-weißer Baken, die Absperrung für die Auto-Show vor dem Alten Rathaus.
„Knie sind scharnierartige Gelenke, sie sollten sich deshalb nur vor- und zurückbewegen. Außerdem verschwendest du bei einer Oberkörperrotation zu viel Kraft“, dozierte Kristof ohne den Hauch eines Schnaufens und bog in den Strandpark ab. Als säßen wir beim Kaffeeklatsch, und der Herr gibt einen Schwank aus seiner Jugend zum Besten, dachte Lianne, die Mühe hatte, mit dem groß gewachsenen Sportler Schritt zu halten. Ja, sie wusste, dass der kluge Mensch so joggte, dass er oder sie sich dabei problemlos unterhalten konnte, theoretisch. Praktisch war diese Empfehlung wohl nur etwas für Leute, die nie geraucht hatten.
Immerhin, die Tipps zur Armhaltung konnte sie direkt umsetzen. Fühlte sich das Laufen besser an? Sie warf einen Blick zur Seite, bemerkte, dass Kristof ihre Füße interessiert musterte.
„Du bist eine Fersenläuferin“, erklärte er trocken. „Macht nichts. Die Vorfußtechnik gilt zwar als wesentlich besser, aber für dein Niveau reicht das völlig aus.“
„Danke“, keuchte Lianne. Morgensonne, die auf die große Seebrücke schien, auf deren Geländer Möwen und Kormorane dicht an dicht. Ein leichter Wind über der Ostsee, sich kräuselnde Wellen, die glitzerten und blinkten.
Es könnte so romantisch sein, überlegte Lianne: Wir beide auf der Bank, hinten am Brückenkopf, mit einem schmackhaften Frühstück in einem hübschen Picknickkorb, ich in einem schicken Sommerkleid, mein Haar fällt frisch geföhnt auf meine Schultern, ich bin dezent geschminkt und …
„Wir sind hier nicht bei Wünsch-dir-was, sondern bei SO ISSES“, erklang Svenjas Stimme in Liannes Kopf. Natürlich. Ein Frühstück würde es erst nachher im Vermieterhäuschen geben, und statt eines Sommerkleides trug sie knielange Radlerhosen und ein betagtes T-Shirt. Und selbstverständlich hatte Lianne vor dem Lauftraining kein Make-up aufgelegt – damit konnte sie sich vor einem Mann wie Kristof Lorenzen nur lächerlich machen.
„Gut ist, dass du langsam läufst. Lieber langsam und länger, damit kannst du deine Leistung viel besser steigern, als wenn du auf Schnelligkeit setzt.“
Lianne begnügte sich mit einem Nicken, anstatt zuzugeben, dass sie im Vergleich zu ihren sonstigen Laufeinheiten heute Morgen rannte, als wollte sie noch den Bus erwischen.
Vor Stecos Strand-Treff: zwei Männer in Jeans und Oberhemden, einer von ihnen mit einem gelben Stativ und darauf montiertem Theodoliten. Lianne kannte dieses Gerät, Matthias hatte es ihr erklärt, damit wurden Grundstücke vermessen. Ob sie mit ihren Kenntnissen angeben sollte? Aber da waren sie schon vorbei, weiter in Richtung Scharbeutz. Kristof sagte nicht mehr viel, mahnte nur zwischendurch: „Armhaltung“, „kurze Schritte“.
„Wie lang ist der Timmendorfer Strand eigentlich?“, fragte Lianne, schon allein, um vorzutäuschen, dass für sie Atemnot überhaupt kein Thema war.
„Etwa sieben Kilometer – wenn du die gesamte Gemeinde nimmst, also von der Ortsgrenze Scharbeutz bis nach Niendorf, zum Brodtener Ufer. Die Länge ist also beachtlich. Das Problem ist eher die Breite.“
„Warum?“
„Sandverlust macht den Stränden zu schaffen, gerade im Frühjahr und im Herbst wird durch die Stürme viel Sand weggespült beziehungsweise regelrecht weggerissen.“ Kristof wies Richtung Strand, der zwischen den Kiefern hervorschimmerte. „Deswegen investiert die Gemeinde einige Millionen in ein neues Buhnensystem.“
„Buhnen sind diese kleinen Dämme im Wasser, oder?“ Lianne kam schließlich nicht direkt von der Küste, da mussten derlei Fragen erlaubt sein.
„Richtig. Die neuen Buhnen sind aus Naturstein. Beim üblichen Seegang brechen sie die Wellen und halten den Sand.“ Für seine Verhältnisse war Kristof heute eine richtige Plaudertasche. Schade nur, dass man dafür mit ihm joggen gehen musste.
„Und was ist bei Sturm?“
„Bei Sturm oder vielmehr Sturmflut oder Hochwasser überspült die Ostsee die Buhnen“, sagte Kristof. „Und zwar so, dass sich keine Wirbel bilden. Damit wird auch der Sand nicht ausgespült.“
„Das funktioniert?“, hakte Lianne nach.
„Ja, in Niendorf hat es gut geklappt.“
„Dann lassen sich die Timmendorfer ihren Strand ja einiges kosten.“
„Geht so“, erwiderte Kristof. „Erstens ist der Strand immer noch die Hauptattraktion für die Gäste. Zweitens ist die Aufspülung von Sand viel teurer, vor Sylt werden dafür beispielsweise horrende Summen ausgegeben.“
„Spannend.“ Lianne freute sich über den Anblick des Baltic-Spaßbades. Die Hälfte der Strecke war geschafft. Rechts auf dem Strand herrschte munteres Treiben trotz der frühen Stunde. Es waren überwiegend junge Leute, die sich mit der Errichtung eines Pavillons mühten, andere schleppten Surfbretter, Paddel und Getränkekisten vom Parkplatz an die Wasserkante.
„Was ist hier los?“ Sie machten kehrt, und Lianne beeilte sich, um nicht zurückzufallen.
„Stand-up-Paddling“, antwortete Kristof knapp. „Die Timmendorfer SUP-Tage. Ist letztlich Werbung für den Sport, jeder kann es ausprobieren. Wäre das nichts für dich?“
„Warum nicht. SUP könnte ich mir wenigstens leisten“, sagte Lianne. „Im Gegensatz zu dem, was an diesem Wochenende bei der Auto-Show gezeigt wird.“
„Ach ja, ich vergaß. Madame bevorzugt ja eigentlich Ferrari.“ Kristof blickte mit steinerner Miene geradeaus, grinste dann aber, als Lianne ihm in die Seite boxte.
„Kein Wort mehr über diese Höllenfahrt! Ich habe bitter für meinen Fehler gebüßt!“
„Entschuldigung!“ Kristof hob die Hände. „Sehr tapfer von dir, mit dem Luxusleben abzuschließen.“
„Witzig.“ Lianne schnappte möglichst unauffällig nach Luft. Wie konnten Experten nur empfehlen, sich beim Laufen zu unterhalten?
„Denkst du, dass etwas passiert? Bei der Auto-Show?“, fragte sie dennoch.
„Keine Ahnung.“ Kristof zuckte mit den Schultern. „Dort sind fast ausschließlich teure Neuwagen, die werden gut bewacht – auch ohne die Timmendorfer Bürgerwehr.“
„Thea glaubt fest an einen neuen Anschlag, das hat sie mir vorgestern im Schwimmbad gesagt“, berichtete Lianne.
„Vielleicht hat sie recht“, gab Kristof zurück. „Falls es diesen einen Täter gibt und die Jugendlichen es nicht waren – dann wäre die Auto-Show ein gutes Ziel. Aber dort ist wirklich viel Security vor Ort. Es dürfte schwer werden, an diesen Leuten vorbeizukommen.“
Dass sie die Strecke bis Scharbeutz und zurück so schnell wie nie zuvor gelaufen war, spürte Lianne noch Stunden später deutlich, vor allem in den Oberschenkeln. Glücklicherweise drängten sich an diesem Morgen die Gäste bereits früh am Vermieterhäuschen, um das sonnige Wochenende in einem Strandkorb zu genießen. Die Schlange der Wartenden war so lang, als sei Freibier satt im Ausschank. Um 11 Uhr hängte Lianne das Schild mit der Aufschrift „Ausgebucht“ an den Eingang und ließ sich in ihren Stuhl fallen.
„Du warst ja heute früh flott unterwegs.“ Lianne sah auf. Vor ihr stand Inge von Salzen und lächelte sie an.
„Ich habe dich gesehen, sehr sportlich“, erklärte die Mittsiebzigerin fröhlich. „Und dann noch mit einem so gut aussehenden Trainingspartner …“
„Das ist mein Nachbar“, erwiderte Lianne rasch.
„Noch besser.“ Inge von Salzen zwinkerte ihr zu. „Dann hast du es ja nicht weit. Zwei Kaffee, mit Milch, bitte.“
Lianne kämpfte sich gegen ihre schmerzenden Muskeln aus dem Plastikstuhl. Jetzt hatte die Dauermieterin von Korb 36 sie doch tatsächlich in Verlegenheit gebracht.
Dabei war Inge von Salzen nicht die Einzige, die sich für Liannes läuferische Aktivitäten in Begleitung interessierte, wie sich in Britts Mittagspause herausstellte.
„Du warst also mit Lorenzen joggen“, begrüßte sie Lianne.
„Woher weißt du das?“ Lianne konnte sich nicht daran erinnern, Britt von Kristofs „Einladung“ berichtet zu haben.
„Einer aus der Bauverwaltung hat euch gesehen und es Meeno erzählt, und von dem habe ich es. Timmendorfer Ortsfunk, du weißt Bescheid?“
„Ja, schon klar.“ Lianne verdrehte die Augen. „Das gibt es nur in Timmendorf, richtig?“
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Die Landbevölkerung ist generell sehr aufmerksam.“ Britt schnappte sich einen Stuhl.
„Aufmerksamkeit schadet nie“, erklang Theas raue Stimme vom Strandaufgang. Heute war sie in beigefarbenen Chiffon gehüllt. Jedenfalls glaubte Lianne, dass es Chiffon war, was sich da um Theas hagere Gestalt bauschte. Sie sah aus wie ein farblich leicht missglücktes Sahnebaiser.
„Alles ausgebucht, sehr schön“, lobte Thea. Lianne schaffte einen weiteren Stuhl herbei.
„Wie war dein kleiner Ausflug heute Morgen mit dem attraktiven Nachbarn?“, fragte Thea.
„Du nicht auch noch. Wahrscheinlich steht es schon im Internet, dass ich ein einziges Mal mit Kristof Lorenzen ein paar Kilometer gejoggt bin. Was für eine Sensation.“
„Nun, ich finde es durchaus sensationell, dass mein wortkarger, wenngleich tadelloser Mieter mit einer Frau gesehen wurde“, gab Thea ungerührt zurück. „Das war, wenn ich mich richtig erinnere, noch nie der Fall. Aber du hast dich ja auch gemacht, seitdem du hier bist. Ihr passt ganz gut zusammen.“
„Finde ich auch“, mischte sich Britt ein.
„Schluss jetzt. Ich möchte nicht mehr darüber reden.“ Lianne ging ins Vermieterhäuschen, schenkte drei Tassen Kaffee ein und brachte sie nach draußen.
„Erzähl mir lieber, wie es Bosse geht“, forderte sie Britt auf. „Sind die Ermittlungen endlich eingestellt worden?“
„Ja.“ Britt griff nach ihrem Kaffee. „Zum Glück. Ich meine, es war eigentlich klar, weil er es ja nicht gewesen ist. Aber für uns bedeutet das eine große Erleichterung. Ich habe mich auch gleich breitschlagen lassen und ihm für heute großzügig Ausgang gewährt.“
„Ausgang? Wohin? In Timmendorf wird jungen Leuten doch nichts geboten“, erklärte Thea abschätzig.
„Bosse fährt mit seiner Clique nach Lübeck“, berichtete Britt. „Sie wünschen sich nichts sehnlicher als ein Konzert auf der Flori zu besuchen, das ist dieses alternative Zentrum nahe der Musik- und Kongresshalle.“ Sie seufzte. „Und weil ja nach 23 Uhr kein Bus und kein Zug mehr hierher fahren, haben wir erlaubt, dass Bosse – mit seinen Freunden – bei Jonathans Bruder in der WG übernachten darf. Der studiert in Lübeck und wohnt in der Altstadt.“
„Richtig so“, meinte Thea. „Der Junge muss mal raus aus dem Kaff hier.“
„Also ein Kaff ist Timmendorf nun nicht“, widersprach Britt.
„Hier ist in der Tat mehr los, als ich dachte“, stimmte ihr Lianne grinsend zu. „Vor allem im Vorfeld von Veranstaltungen …“
„Sehr witzig“, knurrte Thea. „Darüber solltest du keine Scherze machen. Das könnte Unglück bringen.“
Es war dieser Satz, der Lianne dann auch als Erstes durch den Kopf schoss, als mitten in der Nacht – dieses Mal um 4.15 Uhr – ihr Handy klingelte und Theas Foto im Display erschien.
„Was ist?!“, rief Lianne ins Telefon, von dem Déjà-vu-Erlebnis schlagartig hellwach.
„Es brennt.“ Thea klang aufgeregt, aber nicht derart von der Rolle wie nach dem Angriff auf Philipp.
„Die Auto-Show?!“ Ich wusste es, dachte Lianne.
„Nein, nicht die Autos! Hinten am Strand, bei diesem Surf-Festival!“
„Du meinst die SUP-Tage?“ Damit hatte Lianne nicht gerechnet.
„Ja, im Ort ist der Teufel los, alle Wehren sind auf den Beinen. Sag bloß, du bist davon nicht aufgewacht?“
„Also hier ist nichts zu hören.“ Lianne stieg aus dem Bett und angelte nach ihrer Jeans, die über einem Stuhl hing. Dann hielt sie kurz inne. Sollte sie wirklich zu dem Feuer eilen? Mehr als zusehen, um nicht zu sagen gaffen, konnte sie nicht. Doch in gewisser Hinsicht fühlte Lianne sich betroffen – und wütend. Wer war das bloß, der so schrecklich im schönen Timmendorf wütete und den Menschen hier die Freude an ihren Events, die niemandem schadeten, verderben wollte?
Während Lianne durch den Strandpark und über die stockdunkle Promenade lief, fasste sie zum vermutlich hundertsten Mal den Entschluss, sich ein vernünftiges Fahrrad zuzulegen. Allerdings hatten jetzt erst einmal andere Probleme Priorität. Sie hatte nicht bei Kristof geklingelt. Es erschien Lianne zu aufdringlich, ihn erneut zu nächtlicher Stunde als Beistand anzufordern.
Der Feuerschein war von Weitem sehen, ebenso die Blaulichter der Löschfahrzeuge. Als Lianne sich näherte, erkannte sie die beiden Pavillons für die Besucher der SUP-Tage, offensichtlich unversehrt.
Etwa fünfzig Meter weiter weg loderten allerdings beeindruckende Flammen in die Höhe. Zahlreiche Feuerwehrleute sperrten den Bereich ab. Vier von ihnen hielten mächtige Schläuche, aus denen Wasserstrahlen schossen. Hinter ihnen mehrere dunkelblau gekleidete Männer, auf ihren Polohemden die Aufschrift „Security“. Auf der Promenade hatte sich ebenfalls eine Gruppe Menschen versammelt.
„Ich habe doch gesagt, dass wieder etwas passiert.“ Thea trat auf Lianne zu.
„Wie bist du so schnell hierhergekommen?“
„Philipp hat mich gefahren, er steht dort drüben.“ Thea wies auf ihren Neffen, der sich mit einem der Feuerwehrmänner unterhielt. Die Szenerie wurde durch das Feuer in dramatisches Licht getaucht. Aschefetzen in der Luft, ein Windstoß trieb beißenden Rauch über die Promenade und den Strand.
„Wir hätten weiter Wache halten müssen“, dröhnte die Stimme von Jupp Schmitz aus der Menschengruppe. Er gestikulierte aufgeregt, neben ihm stand sein Bruder Martin. Die Tourismuschefin Tatjana Ebert verfolgte die Bemühungen der Feuerwehr mit düsterer Miene. Sogar die Bürgermeisterin, Ragna de Fries, war vor Ort, ihre blonde Wallemähne war unverwechselbar. Lianne konnte außerdem den Kommunalpolitiker Gustav Kiekbusch sehen sowie die beiden Unvermeidlichen: Ole Martens und Sigrid Steenkamp. Waren die Angehörigen dieser Timmendorfer Clique womöglich an den Hintern zusammengewachsen? Auch Sophie Augsbach tauchte auf und fotografierte munter drauflos. Nächtliche Feuer schienen in Timmendorf ein großes Publikum anzuziehen.
„Die jungen Leute waren es jedenfalls nicht!“, rief Thea der Gruppe zu.
„Warum?“ Die Gesichter wandten sich Liannes Chefin zu, die sich in kämpferischer Pose auf dem Weg aufbaute.
„Wenn mich nicht alles täuscht, sind eure vermeintlichen Verdächtigen gerade alle in Lübeck“, erklärte Thea triumphierend. „Da können sie wohl kaum zeitgleich hier ein Feuer gelegt haben!“
„Das wird die Polizei überprüfen“, gab Jupp giftig zurück.
„Hoffentlich!“
„Thea, lass, das bringt doch nichts.“ Philipp legte seiner Tante eine Hand auf die Schulter.
„Philipp hat recht“, meinte Lianne. „Dass Bosse und seine Freunde in Lübeck sind, wird sich hundertprozentig nachweisen lassen.“
„Außerdem hält sich der Schaden offenbar in Grenzen“, berichtete Philipp. „Der Einsatzleiter sagt, dass lediglich zwei Container brennen. Papiercontainer allerdings, deswegen das große Feuer.“
„Aha?“ Thea runzelte die Stirn. Auch Lianne wunderte sich. Papiercontainer? Das passte nicht zur Vorgehensweise des „Attentäters“, diese Schlussfolgerung konnte jedes Kind ziehen.
„Und diese Parole?“, frage Thea.
„Nichts zu sehen“, antwortete Philipp. „Aber das kommt vielleicht noch, erst einmal muss das Feuer gelöscht werden, bevor man mehr sagen kann.“
In diesem Moment läutete sein Handy. Philipp riss es hastig ans Ohr.
„Ja? Was?! Ach du Scheiße!“
Lianne sah, wie einer der Security-Männer ebenfalls aufgeregt in sein Telefon sprach und seinen Kollegen etwas zurief. Sie rannten in Richtung Zentrum, als sei der Teufel hinter ihnen her – oder als wollten sie sich bei einer Laufrunde mit einem durchtrainierten Triathleten messen.
„Was ist los?“ Thea zerrte ungeduldig an Philipps Arm.
„Einer der Wachleute ist bei den Autos niedergeschlagen worden!“, rief Philipp. „Und irgendetwas stimmt da bei der Auto-Show nicht!“
„Nix wie hin!“, kommandierte Thea und zog jetzt an Liannes Arm. „Du kommst mit, oder?!“
Binnen einer Minute saßen sie in Philipps altem Jeep. Die Strandallee hinunter, durch die Poststraße bis zum Parkplatz der Tourismus GmbH. Auf dem Timmendorfer Platz schon wieder Blaulicht.
Lianne sprang aus dem Auto, Philipp half Thea hinaus. Sie näherten sich den im Schein der Straßenlaternen glänzenden Neuwagen, etwa 15 Stück, sorgsam poliert und wie auf dem Präsentierteller.
Plötzlich schlug Lianne ein ekelerregender Gestank entgegen – nach Erbrochenem und faulen Eiern, schimmligem Käse und Fäkalien, eine grauenhafte Mischung. Sie spürte heftigen Würgereiz und blieb stehen.
„Herr im Himmel, was ist das?“ Thea war kreidebleich geworden und schwankte. Philipp hielt sie am Arm fest, sie ließ sich auf eine Bank sinken. Alle drei hielten sich die Nasen zu, doch das half wenig. Der Geruch schien durch die Kleider, ja, durch die Finger zu kriechen.
„Gehen Sie nicht näher ran!“ Ein Uniformierter lief auf sie zu, hob abwehrend die Hände. Hinter ihm tauchte Hanno Stöhlmaker auf, ebenso kreidebleich wie Thea. Seine Augen tränten.
„Tut euch das nicht an, Leute“, meinte er. „Lasst uns auf den Parkplatz gehen, dort ist es vielleicht auszuhalten.“
Sie zogen sich hinter einige auf dem Rondell parkende Autos zurück. Lianne kämpfte immer noch mit ihrem Würgereiz.
„Was machst du hier, Hanno?“, krächzte Thea.
„Na, ich war schon am Abrücken, die Lage hinten beim SUP ist unter Kontrolle“, erwiderte der stellvertretende Wehrführer. „Dann wurde Alarm vom Timmendorfer Platz gemeldet. Hätte ja noch ein Feuer sein können.“
„Ist es aber offenbar nicht“, sagte Lianne mit schwacher Stimme.
„Nein.“ Hanno schüttelte den Kopf. „Schlimmer, hätte ich beinahe gesagt. Anscheinend hat jemand Buttersäure auf und in die Autos gekippt.“
„Buttersäure?“ Philipp, Thea und Lianne starrten Stöhlmaker entgeistert an.
„Ja, das Zeug ist die Hölle, stinkt wie die Pest. Vorher hat der Täter noch einen Wachmann niedergeschlagen, den hat es ähnlich erwischt wie dich damals, Philipp.“
„Was ist Buttersäure?“, fragte Thea verwirrt.
„Wie der Name sagt: eine Säure, die durch Gärung von Butter entsteht. Üble Sache, ätzend, reizt auch die Augen und die Atemwege“, erklärte Hanno Stöhlmaker.
„Und das hat jemand auf die Autos gekippt?!“
„Ja – und hinein, in die Lüftungsschlitze, wie es aussieht“, präzisierte Hanno. „Keine Ahnung, ob man den Geruch wieder wegbekommt. Aber die Auto-Show ist gelaufen, würde ich sagen.“
„Das war garantiert dieser Attentäter!“ Theas Augen funkelten. Lianne rechnete beinahe damit, dass auf ihrer Stirn die Worte „Ich habe es ja gesagt“ aufblinkten.
„Tja. Sieht so aus.“ Hanno Stöhlmaker zögerte einen Moment. „Ich darf euch das eigentlich gar nicht sagen, aber spätestens in ein paar Stunden weiß es ja eh wieder jeder. Die Polizei hat auf einer Motorhaube einen Zettel gefunden.“
„Lass mich raten, was draufsteht“, meinte Philipp ruhig. „Die fetten Tage sind vorbei, oder?“
„So ist es.“