Kapitel 25

Dieses Mal mühte sich Sigrid Steenkamp nicht, die dunkelgrüne Flasche zu verbergen, die sie bereits geleert hatte. Stattdessen blickte sie Lianne nur aus müden, glasigen Augen entgegen, als diese vor dem Strandkorb der Appartement-Vermieterin stehen blieb.

Verblüffend, dass Sigrid vorhin einen Nachmittagskorb gebucht hatte. Doch diverse Körbe waren wegen des Wetterumschwungs frei. Statt der tagelang vorherrschenden Hitze bot der heutige Tag erfrischende 23 Grad und leichte Bewölkung – für den norddeutschen Sommer gute Werte, dennoch wenig Andrang am Strand.

Also hatte Lianne den Schlüssel für Korb Nummer 45 an Sigrid ausgehändigt, seither nichts mehr von der schmalen, verhärmten Frau gehört – aber eine Ahnung, womit sich Sigrid die Zeit vertrieb. Am späten Nachmittag, nachdem sich die vorletzten Gäste verabschiedet hatten und lediglich Schlüssel Nummer 45 noch am Brettchen fehlte, die Bestätigung: Sigrid hatte sich im Strandkorb „einen geballert“, wie Thea es ausdrücken würde – und sie, Lianne, konnte zusehen, wie sie damit fertigwurde.

Dabei hatte sich Lianne auf einen frühen Feierabend gefreut. Nun, sie würde das Beste aus der Situation machen und versuchen, Sigrid auf den Zahn zu fühlen. Ohne sich erneut Theas „Ermittlungen“ anzuschließen – doch nichts sprach gegen eine aufschlussreiche Unterhaltung mit Sigrid.

„Moin.“ Sigrids Stimme klang leicht verwaschen.

„Moin.“ Lianne zückte zwei Wasserflaschen, ließ sich im Schneidersitz im Sand nieder.

„Bitte sehr.“ Sie reichte Sigrid eine der Flaschen. „Wasser tut dir jetzt bestimmt gut.“

„Hm.“ Sigrid blickte das – ihr offenbar wenig vertraute – Getränk misstrauisch an, als hielte sie ätzenden Essigreiniger in der Hand. Immerhin öffnete sie die Flasche und nahm einen Schluck.

„Dir geht es nicht so gut, oder?“, fing Lianne an.

„Nein.“ Sigrid schüttelte den Kopf. „Aber nett, dass du fragst. Normalerweise interessiert sich niemand für mich.“

„Aber du kennst doch so viele Leute hier.“ Lianne sah Sigrid fragend an. „Du hast doch Freunde im Ort.“

„Freunde! Haha!“ Sigrid lachte verächtlich. „Ich habe hier keine Freunde. Nicht mehr, seit Bernhard mich verlassen hat.“

„Bernhard ist dein Mann?“

„War. War mein Mann.“ Zu Liannes Erleichterung nahm Sigrid noch einen Schluck Wasser. Vielleicht konnte der verkonsumierte Wein so weit verdünnt werden, dass ein Abtransport der Frau Richtung Taxistand in naher Zukunft möglich war.

„Hat mich verlassen“, nuschelte Sigrid. „Für eine Jüngere. Seitdem zähle ich für die Leute nichts mehr.“

„Bist du sicher?“ Lianne runzelte die Stirn. „Heutzutage ist eine Frau allein doch genauso viel wert wie ein Mann. Oder ist es, weil du … na ja, ich habe gehört, dass du durch die Scheidung auch nicht mehr so wohlhabend bist wie vorher?“

„Ach das.“ Sigrid verzog das Gesicht. „Das glauben die meisten, ja. Weil sie keine Ahnung haben. Und ich werde einen Teufel tun und sie aufklären.“

„Aufklären worüber?“

„Bernhard hat sich freigekauft“, platzte Sigrid verbittert heraus. „Er hat mir die Hälfte seines Vermögens überschrieben, dafür, dass ich ihn so schnell wie möglich habe ziehen lassen, ohne Zicken. Und Bernhard hatte ein wirklich großes Vermögen.“

„Aber wieso …“, … bist du so schlecht gekleidet und lässt dich so gehen?, hätte Lianne am liebsten gefragt, verkniff sich diese deutliche Ansprache jedoch.

„Wieso ich so aussehe, als wäre ich ein Sozialfall?“ Sigrid lachte freudlos. „Weil es mir egal ist, wie ich aussehe, seit Bernhard weg ist. Ich bekomme doch eh keinen anderen Mann mehr, in meinem Alter.“

Alter ist wohl nicht das drängendste Problem, dachte Lianne. Hör doch erst einmal mit dem Saufen auf. Dann rief sie sich innerlich zur Ordnung. Im Grunde ähnelte Sigrids Schicksal dem Liannes. Der Unterschied: Lianne hatte mehr Glück gehabt, zufällig einige Menschen in Timmendorf zu treffen, die ihr geholfen hatten – und sie verfügte über einen größeren Selbsterhaltungstrieb als die Frau vor ihr im Strandkorb.

„Aber die Appartement-Vermietung … ich dachte, dass du damit deinen Lebensunterhalt verdienst?“

„Quatsch. Peanuts.“ Sigrid machte eine wegwerfende Geste. „Ich brauche halt Beschäftigung. Lenkt mich ab.“

„Aha. Ich hatte vermutet, dass du vielleicht traurig wärst, weil du … sozial schlechter gestellt bist, seit dein Mann weg ist“, wagte sich Lianne nach vorne. „Da habe ich mich wohl geirrt.“

„Das meinen viele.“ Sigrid schüttelte den Kopf. „Glauben, dass ich neidisch bin auf die anderen mit ihren Autos und Yachten und Häusern und Uhren und so weiter. Dummes Zeug. Könnte ich mir auch alles kaufen, wenn ich wollte. Wahrscheinlich denken einige sogar, dass ich dieses Arschloch bin, dass die Anschläge verübt hat.“

Sie kicherte mädchenhaft, als habe sie einen schlüpfrigen Scherz gemacht, und klang wesentlich betrunkener als Lianne es sich gewünscht hätte.

„Nein, nein“, fuhr Sigrid fort. „Ich will nur meinen Bernhard zurück. Aber den krieg ich nicht, und einen anderen auch nicht.“ Sie griff nach der leeren Weinflasche, blickte missmutig hinein. „Ist ja schon leer.“

„Das ist auch gut so.“ Lianne hatte genug gehört, und Sigrid war nicht damit geholfen, dass sich Lianne ihren Feierabend weiter vermieste.

„Ich bringe dich jetzt zum Taxi.“ Lianne griff nach Sig­rids Hand und zog die schmale Frau aus dem Strandkorb. Sigrid schwankte einen Moment, hielt sich aber auf den Beinen, während Lianne den Korb verschloss und anschließend Sigrid unterhakte. Das Vermieterhäuschen hatte Lianne in weiser Voraussicht schon vor ihrem Besuch bei Korb Nummer 45 verschlossen.

Sigrid Steenkamp ließ sich widerstandslos die Promenade entlang, an den Ozeanwelten und dem Café Möchtegern vorbei zum Taxistand am Hochzeitshügel führen. Dort bugsierte Lianne die zarte Gestalt auf den Rücksitz eines Wagens, dessen Fahrer bereits „Moin, Sigrid, wie immer?“ gerufen hatte.

Lianne sah dem Taxi einen Moment hinterher. Die Appartement-Vermieterin gehörte nicht in den Kreis der Verdächtigen. Das würde sie morgen Thea berichten.

Der frühe Abend war deutlich milder als der Tag es verhießen hatte. Lianne sah in den sanftblauen Himmel. Lieber noch nicht nach Hause. Stattdessen Spaziergang am Strand, vielleicht kurz bei Steco vorbeischauen. Es konnte nicht schaden, ihren Arbeitsplatz für morgen Abend vorab zu besichtigen.

Todsicher war der Tipp nicht, aber verheißungsvoll genug, dass sich Sophie Augsbach nach Abschluss der aktuellen Meldungen und Berichte erneut ihre Kamera schnappte und loszog. Früh am Abend konnte sie ruhig ein bis zwei Stunden opfern – vielleicht würde es sich lohnen.

Sie fröstelte in ihrem dünnen, hellgelben Sommerkleid und ihrer ebenfalls dünnen Jeansjacke. Aber jetzt erst nach Hause fahren, sich umziehen und sich dann wieder auf die Pirsch begeben – nein danke, ein bisschen Frieren hatte noch niemandem geschadet. Zumal ein, zwei, drei hübsche Fotos vom bekannten Schauspieler Tim Zinker eine Gänsehaut wert waren.

Der Hinweis, dass Zinker sich in Timmendorf aufhielt, kam direkt aus seinem Hotel, das Zinker vor einigen Jahren übernommen hatte. Jetzt trug es seinen Namen und war vollgestellt mit seiner Möbelserie unter dem Label „Zinker-Design“.

In „Zinkers Lodge“ hatte der Schauspieler seine eigene Zimmerflucht. Sophie wiederum war mit einem der Zimmermädchen so weit verbunden, dass die Hotelangestellte sie regelmäßig informierte, wenn Zinkers Suite für die Ankunft des Hausherrn hergerichtet wurde. Vorhin hatte sie Sophie eine Handy-Nachricht geschickt. Grund genug, sich auf die Suche zu begeben.

Sophie hatte bereits im Kaiser und im Waldemars vorbeigeschaut: nur die übliche Gemengelage aus aufgekratzten Touristen und gelangweilten Einheimischen. Auch im Café Möchtegern und im Café Mitte Fehlanzeige.

Wohin könnte es Tim Zinker verschlagen haben, wenn er überhaupt im Ort war?

Sophie rückte den Gurt ihrer schweren Kameratasche zurecht, während sie über den Timmendorfer Platz spazierte. „Update 23669“ konnte muntere Bilder von feiernden Prominenten gut gebrauchen. Nicht, dass Sophie sich über die vergangenen Monate beschweren wollte – der Attentäter war aus Sicht des Boulevard-Journalismus natürlich ein Geschenk.

Aber es war alles doch sehr negativ.

In der Lokalberichterstattung durfte der Leitsatz „Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“ nicht überstrapaziert werden. Die Leute erwarteten auch Positives, Fröhliches, Buntes – gerade jetzt. Die Sorge war groß, dass die Vorfälle allmählich am Image Timmendorfs nagen könnten. Ein gut gelaunter A-Prominenter mit heiterer Entourage in Timmendorf wäre derzeit die ideale Abwechslung bei „Update 23669“.

Aber dafür musste sie Zinker finden.

Noch eine Möglichkeit: das hinter dem Hotel am Meer gelegene Restaurant, berühmt für seine Fischkarte, die wiederum Tim Zinker schätzte – Sophie hatte ihn schon einmal dort fotografiert.

„Also gut“, murmelte die Reporterin vor sich hin. Vorne der Seebrückenvorplatz in Sichtweite, dann würde hinter dem Strand-Treff auch schon das Landgasthaus kommen.

„Bist du sicher, dass er weg ist?“

Zögernd blickte Jonathan zu dem kleinen, heruntergekommenen Haus aus rotem Ziegelstein hinüber, das sich vor der sich dahinter erstreckenden, einstöckigen grauen Halle wegzuducken schien. Auf die Entfernung von etwa 150 Metern war nicht zu erkennen, ob sich in der ärmlich wirkenden Behausung jemand aufhielt oder nicht?

„Ziemlich sicher“, antwortete Bosse. „Er ist vor einer halben Stunde bei meiner Mutter am Kiosk eingetroffen – und üblicherweise hängt er dort stundenlang herum.“

Bosse hatte an diesem Tag mit Ole Martens’ Besuch am Kiosk gerechnet und richtig gelegen. Nachdem der selbst ernannte Öko-Bauer sein Fahrrad neben Britts Kiosk angeschlossen und die erste Flasche Bier geordert hatte, hatte der – in der Nähe des Kioskes postierte – Vito deshalb wie verabredet seine Freunde alarmiert.

Gemeinsam waren Bosse, Mia, Jonathan und Laura die knapp drei Kilometer nach Groß Timmendorf geradelt, von der Dorfstraße auf den holprigen Feldweg abgebogen, der zu Martens’ abgelegenem Resthof führte, und hatten Sichtschutz hinter einer Baumreihe gesucht.

„Wenn er früher nach Hause fährt, sagt uns Vito rechtzeitig Bescheid“, meinte Mia lässig.

Als es darum gegangen war, wer Ole Martens während der „Aktion“ im Auge behalten sollte, war die Wahl sofort auf Vito gefallen. Jeder aus der Clique wusste, dass er die schwächsten Nerven hatte und für den geplanten „Besuch“ im Schweinestall nicht geeignet war. Vito sah das offenbar auch so, zumindest hatte er den Auftrag mit sichtlicher Erleichterung angenommen.

„Also los.“ Laura versuchte, entschlossen zu klingen, doch Bosse glaubte, Beklemmung in ihrer Stimme zu hören. Sie trug ein schwarzes, wie immer sackartiges Kleid und schwarze Turnschuhe. Bosse, Mia und Jonathan hatten schwarze Jeans, schwarze Pullover und ebenfalls schwarze Turnschuhe an.

„Hier, die Sturmhauben.“ Mia reichte die mützenartigen Strickmasken herum.

„Müssen wir die aufsetzen?“, fragte Jonathan zweifelnd.

„Wenn wir uns dem Gelände nähern ja. Oder möchtest du, dass Martens oder die Polizei dein zauberhaftes Antlitz auf den Aufnahmen der Videoüberwachung sehen?“

„Also gut.“ Jonathan streifte sich die Sturmhaube so über, dass sie wie eine Halskrause saß, und nahm ein robust wirkendes Brecheisen aus seinem Rucksack.

„Noch einmal: Wir machen nichts kaputt – außer vermutlich die Tür“, erläuterte Mia. „Wir sehen uns nur um, und alles, was uns auffällt, wird gefilmt. Okay?“

Die anderen drei nickten.

„Dann los.“

Mia ging Richtung Hofeinfahrt, die anderen folgten ihr. Weit und breit niemand zu sehen. Ole Martens lebte tatsächlich sehr abgeschieden.

An dem Haus aus Ziegelstein vorbei. An der langen Seitenwand der grauen Halle roch es nach Schweinemist, das Quieken der Tiere war zu hören. Rasch warf Bosse einen Blick auf sein Handy – war bereits eine Warnung von Vito eingetroffen?

Kein Netz.

Bosse fluchte im Stillen. Sollte er die anderen informieren? Aber sein Handy war nicht mehr das neueste und hatte öfter Empfangsprobleme. Sollten sie deshalb die Aktion abbrechen?

Mia unterbrach seine Gedanken.

„Das gibt es ja gar nicht.“ Sie trat an eine Seitentür der Halle heran. Der Schlüssel steckte im Schloss. Mia drehte ihn herum und drückte die Klinke hinunter.

„Offen!“

„Das gibt es nur in Timmendorf“, spottete Bosse.

„Dann mal rein in den Schweinestall“, flüsterte Mia.

„Das wird nichts mehr heute, Ole.“ Britt nahm ihrem einzigen Gast dessen soeben geleerte Bierflasche ab. „Nimm es mir nicht übel, aber ich nutze die Flaute aus und mache dicht.“

Die Abkühlung hatte für einen ungewöhnlich ruhigen Tag am Kiosk gesorgt, Britt war froh, einmal früher schließen zu können als sonst.

„Kein Ding.“ Ole winkte ab. „Es sei dir gegönnt.“

„Du kannst ja noch bei Steco vorbeifahren.“

„Nein, danke.“ Ole blickte mürrisch. „Zu viel Schickimicki da in letzter Zeit. Und morgen will er die ganz große Sause feiern.“

„Tja. Wie du meinst. Mach’s gut.“ Britt schob rigoros die Fensterscheibe zu. Noch ein wenig aufräumen – dann konnte sie zu Hause die Füße hochlegen.

Ole schlurfte zu seinem Fahrrad, machte sich umständlich daran, es aufzuschließen. Frisch war es heute, er war zu leicht angezogen. Besser, er fuhr direkt nach Groß Timmendorf zu seinem Hof.

Hätte er das WC neben dem Kiosk aufgesucht, hätte er dort einen korpulenten 17-Jährigen angetroffen, der hektisch mit seinem Handy herumfuhrwerkte. Vito brach trotz der kühlen Temperaturen der Schweiß aus.

„Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.“

Viermal hatte er diese Ansage jetzt gehört. Von vier verschiedenen Handys. Mia, Bosse, Laura, Jonathan. Und hinter Vitos eilig versendeten Textnachrichten („Er kommt!!!“) prangte jeweils nur ein Häkchen – die Übertragung auf die Telefone der Empfänger stand also noch aus.

Aber warum?

Konnte der Empfang auf Ole Martens Hof so schlecht sein? Und was um Himmels willen sollte Vito jetzt tun?

Er öffnete vorsichtig die Toilettentür. Ole schwang sich gerade auf sein Fahrrad und rollte gemächlich Richtung Zentrum. Dort würde er vermutlich auf die Wolburgstraße abbiegen, sich immer weiter seinem Zuhause nähern.

Wie lange würde Ole für die Strecke benötigen?

Vermutlich 20 Minuten, schätzte Vito. Ob er Ole einholen konnte? Der Mann würde sich nichts dabei denken, wenn Vito an ihm vorbeifahren würde.

Aber dafür musste Vito schnell sein. Verdammt schnell.

Er steckte sein Handy in die Tasche seiner Windjacke und rannte zu seinem Fahrrad, seinem Spitznamen aus Kindertagen, „Kugelblitz“, alle Ehre machend.

Ausnahmsweise Rückenwind – damit fühlte sich Ole Martens für den plötzlichen Temperaturabfall entschädigt. Hitze war ohnehin nicht sein Ding, aber er hatte ja auch nicht die Zeit und das gefüllte Portemonnaie, ganze Tage in der Sonne herumzuhängen und es sich gut gehen zu lassen.

Jedenfalls nicht mehr. Früher, ja, früher hatte er genug Geld, um regelrechte Orgien am Strand zu feiern. Hatte er aber nicht getan – keine Lust und vor allem keine Zeit.

War sein Leben damals wirklich besser gewesen? Nein. Aber das Geld wünschte sich Ole dennoch zurück.

Schon allein, um vor grässlichen Angebern wie den Brüdern Schmitz nicht so dumm dazustehen. Ekelhaft, wie die herumprotzten. Peinlich, wie sie sich in ihre sündteuren Sportwagen hinein- und hinausmühten. Ole hätte sich an Jupp und Martin gewöhnen müssen, so lange, wie die schon nach Timmendorf kamen. Konnte er jedoch nicht. Aber sie würden auch noch sehen, was es hieß, alles zu verlieren. Ganz bestimmt.

Die Dorfstraße zwischen den Feldern links und rechts entlang, vorbei am Ortsschild von Groß Timmendorf. Wenig später der Feldweg, der zum Hof führte, stets eine Herausforderung für Oles altes Fahrrad.

Rund um den Hof war alles still. Das leise Quietschen einer Tür fiel sofort auf. Das Quietschen der Seitentür zum Geräteraum des Schweinestalls, um genau zu sein. Ole sah, wie sie ins Schloss fiel, als er auf die Hofeinfahrt rollte.

Wagte es tatsächlich jemand, bei ihm einzubrechen? Aber warum? Doch das konnte er später fragen. Jetzt musste er handeln.

Ole sprang von seinem Rad und war mit einem Satz an der Tür. Er hatte wieder einmal den Schlüssel stecken lassen. Nachlässig, gewiss, aber er hatte nie Probleme mit ungebetenen Besuchern gehabt. Bis heute jedenfalls. Aber diese Besucher würden bald selbst mehr Probleme haben, als sie sich vorstellen konnten.

Ole drehte den Schlüssel herum, lehnte sich an die Stallwand. Jetzt saßen sie fest. Anders als beim Futterraum gab es vom Geräteraum keinen Zugang zum großen Stall, zu seinen Tieren. Eigentlich unpraktisch, Ole hatte diesen Umstand oft verflucht. Doch heute freute er sich darüber.

„Mist, hier sind wir falsch.“ Mia ließ den Schein ihrer Taschenlampe über die schmutzigen Regale an den Wänden gleiten: Spraydosen und Plastikflaschen mit Reinigungsmitteln, außerdem Zangen, ein staubiger Trockenfutterautomat, alte Leuchtstoffröhren, poröse Gummimatten, Kabeltrommeln, Kunststoffschalen, ausrangierte Wärme­lampen sowie ein Sammelsurium an Gegenständen, deren Zweck vermutlich nur Schweinehalter kannten.

„Geht es dort hinten nicht weiter?“ Jonathan hatte als Letzter den langen, schmalen Raum betreten.

„Nein, hier sind nur Regale“, sagte Mia. „Wir müssen wieder raus.“

„Wäre ja auch zu schön gewesen.“ Jonathan drückte die Klinke der Tür hinunter. Doch diese ließ sich nicht öffnen.

„Klemmt die Tür?“, fragte Bosse besorgt. „Warte, ich helfe dir.“

Zu zweit stemmten sie sich dagegen. Doch nichts geschah.

„Die klemmt nicht“, meinte Laura ruhig. „Die hat jemand abgeschlossen.“

„Aber wer …“, setzte Mia an. In diesem Moment tauchten die Umrisse eines Gesichtes hinter dem verdreckten, höchstens 20 mal 20 Zentimeter kleinen Fenster auf, das in Kopfhöhe neben der Tür eingelassen worden war.

„Masken aufbehalten“, zischte Mia. „Taschenlampen aus.“

Binnen Sekunden standen die vier Jugendlichen im Dunkeln.

Draußen lehnte sich Ole wieder an die Tür. Er hatte genug erkannt. Vier maskierte Einbrecher waren in den Geräteraum eingedrungen. Wahrscheinlich hatten sie einen Zugang zum Stall, zu den Schweinen gesucht.

Er hätte mit etwas Derartigem rechnen können. Waren es radikale Tierschützer, die ihn anschwärzen wollten? Oder gewöhnliche Diebe, die glaubten, bei ihm sei etwas zu holen?

Egal. Auf jeden Fall wollten sie ihm schaden, ihm das Letzte nehmen, das er noch hatte. Aber nicht mit Ole Martens.

Er hob den Kopf. Hatte er dort drüben, bei der Baumreihe, eine Bewegung wahrgenommen? Doch es war zu dunkel, als dass er auf die Entfernung etwas erkennen konnte.

Sei’s drum. Ole zog den Schlüssel ab und steckte ihn in seine Jeans. Er musste in Ruhe nachdenken. Die Eindringlinge sollten eine Lektion erteilt bekommen, die sie nicht vergessen würden.

Etwa 150 Meter von Ole entfernt drückte sich Vito zitternd in den Schatten einer mächtigen Eiche. Einige grauenhafte Sekunden lang hatte es so ausgesehen, als würde Ole zu ihm herüberkommen. Doch der Schweinehalter schlenderte zu seinem baufälligen Ziegelhäuschen und trat ein.

Was jetzt?

Vito war zu langsam gewesen. Als er am Hof eintraf, konnte er gerade noch sehen, wie Ole die Tür abschloss. Vito war, so schnell er konnte, zu der Baumreihe geradelt, hatte sein Rad ins hohe Gras geworfen. Davon hatte Ole zum Glück nichts bemerkt.

Seine Freunde saßen hinter dieser Tür in der Halle fest, dessen war sich Vito sicher.

Und kein Netz.

Das meldete jetzt auch sein Handy.

Doch er musste jemanden um Hilfe bitten. Die Polizei? Nein, lieber nicht. Wie hörte sich das denn an? „Meine Kumpels sind bei Ole Martens eingebrochen, und dann hat er sie gemeinerweise eingeschlossen“? Toll. Abgesehen davon alarmierte Ole höchstwahrscheinlich gerade selbst die Polizei. Einen Festnetzanschluss würde er in seiner Hütte wohl haben.

Sollte Vito sich an seinen Vater wenden? Auf keinen Fall. Der würde ihm den Kopf abreißen.

Es gab nur zwei Personen, die Vito in dieser Lage einfielen. Er presste die Lippen zusammen. Dann zog er sein Fahrrad aus dem Gras, schwang sich darauf und radelte den Feldweg hinunter – so schnell und so leise er konnte.