Kapitel 29

Es war voreilig gewesen, zwei Gläser der „Timmendorfer Pfütze“ zu nehmen, als ein gefülltes Tablett die Runde machte. Aber Klaus von Salzen hatte sich nichts dabei gedacht oder zumindest nichts Schlechtes. Ein Fehler.

„Grauenhaftes Gebräu“, raunte ihm seine Frau Inge zu, während sie mit einem Löffel in der dunklen Flüssigkeit rührte und überlegte, ob es helfen würde, wenn sie die Basilikum-Blätter herausfischte.

„Ja“, murmelte Klaus von Salzen. „Aber da müssen wir jetzt durch.“

Mit Todesverachtung hoben sie ihre Gläser und tranken. Damit waren sie in der Menge rund um Britts Kiosk nicht allein. Dicht gedrängt standen Menschen an den Stehtischen im Abendsonnenschein. Andere hatten die Sitzbänke an der Seite belegt. Die Getränke – alkoholische wie nichtalkoholische – flossen in Strömen. Um die Szenerie hatte Meeno in weitem Bogen Kordelständer aufgebaut, an denen rote Schilder mit der Aufschrift „Geschlossene Gesellschaft“ baumelten.

„Ich freue mich trotzdem, dass Lianne uns eingeladen hat“, sagte Klaus vergnügt. „Eine große Ehre, hier sind ja ansonsten nur Einheimische.“

Er hatte recht. Es war Britts Vorschlag, das ersehnte Ende der Anschläge in Timmendorf und die Ergreifung des Täters mit einer Sommerparty zu feiern. Auf der Gästeliste standen fast ausschließlich Timmendorfer – das „Who is Who des Ortes“, so Britts großspuriger Kommentar. Lianne aber hatte auch ihre Lieblings-Stammgäste der Strandkorb-Vermietung berücksichtigt.

„Ich freue mich auch.“ Inge von Salzen nickte. „Obwohl mir immer noch ganz anders wird, wenn ich bedenke, was dieser furchtbare Mensch vorhatte.“

„Unfassbar“, stimmte ihr Mann zu. „Vermutlich wird es eine Weile dauern, bis die Gemeinde den Schock verarbeitet hat.“

Und ein Schock war es, für alle und jeden, als zwei Tage nach der dramatischen Geiselnahme nachzulesen war, was Steco getan und was er noch geplant hatte. Die Lokalzeitung überschlug sich regelrecht, hatte aber gegenüber „Update 23669“ das Nachsehen – schließlich war die frisch gekürte Chefreporterin Sophie Augsbach unmittelbar vor Ort gewesen, hatte sogar maßgeblich dazu beigetragen, den Täter zur Strecke zu bringen.

Tatsächlich war Sophie eine entscheidende Rolle zugekommen, mussten auch diejenigen einräumen, die nicht zu ihren Fans gehörten. Während Steco versucht hatte, den vermeintlich betrunkenen Martin Schmitz loszuwerden, hatte Thea eine Rotweinflasche aus einem der Kartons an der Wand gezogen und sie Sophie gereicht – denn Thea war offenbar klar gewesen, dass sie trotz aller Entschlossenheit nicht schnell genug auf die Beine würde kommen können.

Sophie war nach kurzem Zögern hochgeschnellt, hatte Steco die Flasche auf den Kopf geschlagen, ihn allerdings nur halbseitig getroffen. Zeitgleich hatte Kristof Lorenzen, alarmiert durch Stecos Ausruf „Ich mache jetzt Schluss!“, das Warten aufs SEK aufgegeben, die Tür des Pavillons eingetreten und sich auf Steco geworfen.

„Immerhin hat der Mann gestanden“, meinte Klaus von Salzen. „Damit dürften sämtliche Zweifel beseitigt sein – falls es überhaupt welche gab.“

Steco hatte sich in den Vernehmungen als überaus redselig erwiesen und alle Taten eingeräumt. Auch hatte er die Details seines Plans für das „große Finale“ ausführlich vor den Ermittlern ausgebreitet. In einer von Steco angemieteten Garage lagerte zudem eine Fülle von Indizien: Spraydosen, Benzin, ein halber Liter Buttersäure und mehrere Müllsäcke voller Überreste der „Polen-Böller“, aus denen Steco seine Sprengsätze gebaut hatte. Sogar der Bestellzettel für die Pistole lag in einem Fach (es war tatsächlich eine Attrappe gewesen, aber eine äußerst gute, wie Kristof Lianne später erklärt hatte). Alle Beweise waren so fein säuberlich aufgereiht, dass ein Kriminaltechniker anmerkte, es habe nur noch die Beschriftung mit dem jeweiligen Datum des Anschlages gefehlt.

„Ich hoffe, er kommt nicht so bald wieder aus dem Gefängnis frei“, erklärte Inge von Salzen und kippte angewidert den letzten Rest der „Timmendorfer Pfütze“ hinunter, als handele es sich dabei ebenfalls um Buttersäure. „Brrr! Geschafft!“

„Zum Glück ist Lianne nichts Schlimmes passiert“, sinnierte ihr Mann. Das Ehepaar blickte zu Lianne hinüber, die gerade ein Tablett voller Cola-Gläser zu einem Stehtisch balancierte. Sie trug ein bläulich-fliederfarbenes Sommerkleid, exakt in der Farbe ihrer Augen, und leichte Sandalen. Ihre linke Hand war verbunden, ansonsten machte sie einen unversehrten Eindruck.

„Eine Runde Cola, die Damen und Herren!“, rief sie. Ole Martens, Meeno sowie Bosse und vier weitere Jugendliche wandten sich ihr zu.

„Keine Pfütze?“, maulte Meeno scherzhaft.

„Sei ein Vorbild, Papa.“ Bosse verteilte Gläser an Mia, Laura, Jonathan und Vito.

„Tja. Du kannst durchaus ein Vorbild brauchen“, gab Meeno zurück. Bosse verzog das Gesicht. „Schon gut.“

„Jetzt hack nicht weiter auf dem Jungen herum“, meinte Ole grinsend. „Wir haben uns doch geeinigt.“

Ihr habt euch geeinigt“, merkte Mia spitz an.

„Und ihr seid gut dabei weggekommen“, erwiderte Lianne. Britt hatte ihr von dem Einbruch beziehungsweise dem gescheiterten Einbruchsversuch von Bosse und seiner Clique bei Ole Martens berichtet. Lianne hatte es erst nicht glauben können. Vor allem nicht, dass die Jugendlichen so unvorsichtig (oder besser doof) gewesen waren, sich im Geräteraum einsperren zu lassen.

Ole Martens hatte im Zuge dieser Geschichte menschliche Größe gezeigt und gemeinsam mit Meeno und Britt den Jugendlichen eine „Alternative“ (Bosse nannte es „Ultimatum“) unterbreitet, nachdem ihnen Britt in aller Deutlichkeit den Marsch geblasen hatte: 50 Stunden Arbeit auf Oles Hof für jede und jeden von ihnen, unentgeltlich natürlich. Dafür durften die jungen Leute, allen voran Mia, ihre Verbesserungsvorschläge für die Tierhaltung vorbringen und umsetzen.

„Das wird schon.“ Ole winkte ab. „Wir werden uns verstehen, davon bin ich überzeugt.“

„Vielleicht kann ja Sophie einen Bericht über euren Einsatz schreiben“, schlug Lianne mit süffisantem Lächeln vor. Bosse, Mia und Jonathan hoben entsetzt die Hände, doch Ole schien Gefallen an der Idee zu finden.

„Warum nicht“, meinte er. „Wo ist sie überhaupt?“

„Sie kommt später“, erwiderte Lianne. „Seit ihrer Beförderung zur Chefreporterin ist sie in der Redaktion nahezu unabkömmlich.“

„Wozu eine Geiselnahme doch gut ist“, spottete Ole, wurde dann aber wieder ernst. „Entschuldige, war nicht so gemeint. Darüber macht man keine Witze.“

„Sehe ich auch so“, antwortete Lianne.

„Hast du denn Sigrid schon gesehen?“, versuchte Ole, ein anderes Thema anzuschneiden.

„Sigrid kommt nicht. Sie wird längere Zeit fort sein“, berichtete Lianne. „Sie hat mir eine E-Mail geschrieben, und ich soll den Inhalt an alle weitergeben, die es interessiert: Stecos Plan hat Sigrid sehr schockiert. Sie möchte nicht genauso verbittert und hasserfüllt werden wie er, und deshalb hat sie sich entschlossen, eine Entziehungskur zu machen. Sie wird mindestens vier Monate dafür benötigen, glaubt sie.“

„Oha.“ Ole nahm einen Schluck Cola. „Respekt.“

„Ja. Das wird gewiss nicht leicht für sie. Aber sie meinte, sie habe keine Lust mehr, zu saufen – und sich zu verstecken.“

Lianne blickte auf die Ostsee hinaus: platt und regungslos in der vollkommen windstillen Abendluft, die orangefarbene Sonne in unwirklicher Schönheit widerspiegelnd. Am Strand viele Spaziergänger, über der Szenerie tiefe Ruhe. Ob es daran lag, dass der „Die fetten Tage sind vorbei“-Spuk endlich ein Ende hatte? Oder bildete sich Lianne das nur ein?

Wie auch immer. Nicht jeder der Anwesenden wusste die Ruhe zu schätzen. Bedeutungsschwangere Synthesizer-Klänge, gepaart mit zittrigem Saitenspiel (Lianne tippte spontan auf Harfe), waberten plötzlich über die Partygäste hinweg. Dann ertönte eine – für Gesangsexperten gewöhnungsbedürftige – helle Kinderstimme: „Im Jahre 1909, da ward ein Stern geboren …“

Ratlosigkeit auf den Gesichtern der Norddeutschen, Jubel am Stehtisch der Nordrhein-Westfalen, die augenblicklich einstimmten: „Und man sah sofort an seinem Schein, er kann nur aus Dortmund sein!“

Konsterniert meinte Lianne, die Melodie von „Amazing Grace“ zu erkennen (womit sie, wie sich herausstellte, richtig lag). War das Blasphemie? Und was, um Himmels willen, war in Britt gefahren, die für die Musikauswahl verantwortlich zeichnete? Zwei quälende Strophen später aber wurde klar, worum es ging: „Leuchte auf, mein Stern Borussia!“, forderten das unbekannte, singende Kind und die am NRW-Tisch Versammelten. Jubel und Gelächter brachen aus. Martin Schmitz, dem das Lied natürlich gewidmet war, lief rot an, während ihm sein Bruder und andere Umstehende auf die Schulter klopften. „Das gibt es nur in Timmendorf!“, rief einer.

Lianne grinste. Diesen Song würde Martin in Timmendorf nie wieder loswerden. Aber das war in gewisser Weise auch eine Anerkennung seines mutigen Einsatzes am Strand-Treff, wo er den Betrunkenen gemimt hatte, um Steco abzulenken. Dieses Unterfangen hätte auch ganz anders und wesentlich übler für Martin ausgehen können, daran gab es keinen Zweifel. Martin hatte danach berichtet, ihm sei einfach nichts Besseres eingefallen als diese Hymne, zudem habe er sich diesbezüglich nach unzähligen Besuchen im Westfalen-Stadion textsicher gefühlt.

Pleite war Martin übrigens tatsächlich. Jupp aber hatte Lianne und Britt gegenüber – mit dem Gesichtsausdruck eines Entwicklungshelfers auf dem Weg in ein gefährliches Krisengebiet – betont, dass er seinem Bruder aus der Misere helfen und „das Schlimmste“ verhindern würde. Die Freundinnen waren gerührt gewesen, bis sie erfahren hatten, dass Jupp mit dem „Schlimmsten“ den drohenden Zwangsverkauf des gelben Ferraris meinte.

„Was ist denn das für entsetzliche Musik?“, unterbrach eine vertraute, raue Stimme die heitere Fußballstimmung. Alle Köpfe wandten sich zum Promenadenweg – dann brandete noch lauterer Jubel auf als beim Borussen-Lied. In einem silbrig funkelnden Rollstuhl saß Thea in großer Robe: glänzendes, hellblaues Satinkleid, üppige, dunkel­blaue Federboa, eine Tonne Schmuck (garantiert echt), die unvermeidliche Zigarettenspitze in der rechten Hand und frischen Lila-Stich im auftoupierten Haar. Hinter ihr stand Philipp, deutlich dezenter gekleidet, mit stolzem Lächeln. Ein neu rekrutiertes, elfengleiches Wesen (dieses Mal rothaarig) schmiegte sich an ihn und staunte aus runden Augen in die Welt.

„Thea!“ Meeno stürmte auf die alte Dame zu, verpasste ihr einen herzhaften Kuss auf die Wange. „Toll, dass du hier bist! Du ahnst nicht, was du uns allen für eine Freude machst!“

„Na, ob sich wirklich alle freuen …“, gab Thea gewohnt bissig zurück. Doch damit lag sie falsch, davon war Lianne überzeugt. Ganz Timmendorf hatte um seine berühmte Herrin der Strandkörbe gebangt. Lianne selbst würde nie den Anblick ihrer Freundin und Chefin auf dem Boden dieses verdammten Pavillons vergessen. Blass, reglos, in verdrehter Haltung. Tot!, war es Lianne durch den Kopf geschossen, oh nein, bitte nicht, lass sie nicht tot sein!

Und Thea war nicht gestorben. Doch sie hatte in der Aufregung einen Kollaps erlitten und war in Ohnmacht gefallen. Zwar war sie Minuten später wieder ansprechbar gewesen, aber ihr Arzt hatte darauf bestanden, dass sie sich mehrere Tage im Krankenhaus erholte. Thea hatte ihn als „übervorsichtigen Quacksalber“ bezeichnet und von einer „winzigen Kreislaufschwäche“ gesprochen, wegen derer man sie „noch lange nicht entmündigen“ dürfe, doch der Mediziner hatte sich nicht erweichen lassen.

Die richtige Entscheidung, dachte Lianne, denn Thea sah trotz ihrer aufwendigen Garderobe schwächer als sonst aus. Angegriffen, noch nicht wieder voll in Form.

„Na, dann wollen wir mal!“ Sie bedeutete Philipp mit einer herrischen Geste, sie mitten ins Geschehen zu schieben.

„Was darf es denn zu trinken sein?“ Britt hatte sich mit einem Tablett vor Thea aufgebaut.

„Eine Pfütze natürlich!“, erwiderte Thea sofort. Sekunden später tauchte Britt mit dem gewünschten Getränk auf.

„Deine neue Pflegerin?“, fragte sie Thea mit einem vergnügten Seitenblick auf Philipps rothaarige Eroberung, die sich hilflos an seinen Arm klammerte, während er bereits muntere Sprüche mit den Brüdern Schmitz austauschte.

„Nein, das bin selbstverständlich ich“, dröhnte es neben Britt und Thea. Erschrocken wandten beide den Kopf: Margot Dietz, ebenfalls mächtig in Schale geworfen, in grellem Grün und giftigem Gelb. Besitzergreifend schnappte sie sich die Schiebegriffe des Rollstuhls. „Ab sofort kümmere ich mich um Thea, bis sie wieder richtig gesund ist!“, verkündete die Matrone.

Thea warf Lianne einen entnervten Blick zu. „Ich glaube“, sagte sie weithin hörbar, „dann gehe ich doch lieber zurück ins Krankenhaus.“

An einen anderen Ort wünschte sich auch Kristof Lorenzen. Vielleicht hätte er sogar lieber noch das Krankenhaus genommen als jenen Stehtisch, an dem ihn die Tourismuschefin Tatjana Ebert, Gustav Kiekbusch vom Tourismusausschuss und die Bürgermeisterin Ragna de Fries persönlich einkesselten. Abwechselnd redeten sie auf ihn ein, während er stumm an seiner Apfelschorle nippte und versuchte, Hanno Stöhlmaker an seine Seite zu ziehen, der sich allerdings sichtbar sträubte.

„Herr Lorenzen, das können Sie uns nicht abschlagen“, erklärte Ragna de Fries resolut. „Sie werden um eine Ehrung nicht herumkommen, versuchen Sie es also gar nicht erst.“

„Ich möchte wirklich nicht“, murmelte Kristof, warf einen sehnsüchtigen Blick zum Strand. Wie schön wäre es, jetzt dort entlangzulaufen. Allein. Oder mit Eddie. Oder mit Eddie und …

„Vielleicht sollten wir warten, bis Steen Cordes verurteilt ist?“, schlug Tatjana Ebert vor. „Wann beginnt der Prozess?“

„Oh, das kann dauern“, mutmaßte Gustav Kiekbusch mit wichtigem Gesicht. „Monate, wenn ihr mich fragt. Es wird einiges zusammenkommen. Sachbeschädigung, Brandstiftung, Körperverletzung, dann diese schreckliche Geschichte im Pavillon – wie wird denn da die Anklage lauten, Herr Lorenzen, Sie sind doch vom Fach, sozusagen, was meinen Sie?“

„Ich weiß nicht.“ Kristof zuckte mürrisch die Achseln. „Vermutlich Bedrohung, Geiselnahme, versuchte Herbeiführung einer Sprengstoff-Explosion.“

„Vielleicht sogar versuchter Mord?“, fragte Kiekbusch mit einem vergnügten Funkeln in den Augen, als ginge es um das bunte Rahmenprogramm fürs lustige Dorffest.

„Möglich.“ Kristof schob Hanno Stöhlmaker an den Tisch. „Fragen Sie doch mal den stellvertretenden Wehrführer, der kennt sich damit bestimmt auch sehr gut aus.“

Stöhlmaker verdrehte die Augen. Anders als die meisten Partygäste war er schlechter Stimmung, konnte es sich nicht verzeihen, dass er Thea bei ihren „Ermittlungen“ im Stich gelassen hatte. Seit dem dramatischen Vorfall im Strand-Treff war keine Stunde verstrichen, in der sich Hanno Stöhlmaker nicht mit Selbstvorwürfen quälte.

Kristof hatte jedoch keine Lust, darauf Rücksicht zu nehmen. Auf einmal erblickte er auf dem Promenadenweg eine vertraute Gestalt, die sich zügig Richtung Strand bewegte.

„Sie entschuldigen mich“, gab er knapp in die Runde. „Ich muss … ähm … kurz weg.“

Lianne beugte sich zu ihren Füßen hinunter, was sie noch vor Kurzem nicht so locker geschafft hätte, band ihre Sandalen los und warf sie hinter einen der verschlossenen Strandkörbe. Es würde sie schon niemand stehlen.

Sie atmete tief ein, blickte auf die Ostsee und das sanft illuminierte Teehaus am Ende der Seeschlösschen-Brücke. Zahlreiche Möwen patrouillierten wieder an der Wasserkante entlang, weiter draußen tauchte aus dem Wasser ein Kormoran auf, einen zappelnden Fisch im Schnabel. Menschen schlenderten über den Strand, allein oder als Pärchen Hand in Hand oder umringt von lachenden, kreischenden Kindern, die sich nach Muscheln und anderen Kostbarkeiten bückten.

Lianne reckte sich noch einmal, wandte sich Richtung Niendorf – und rannte los.

Nahe am Wasser war der Sand etwas härter als weiter oberhalb an der Düne. Dennoch versanken ihre Füße bei jedem Schritt einige Zentimeter im nachgiebigen Untergrund, doch das störte Lianne nicht. Ihr Kleid flatterte um ihre Beine, ihre Haare wehten im Laufwind, vermutlich weder elegant noch betörend, aber immerhin, sie wehten. Mit jedem Meter mobilisierten sich weitere Energien in ihr. Strandkörbe, Menschen und Bäume oben an der Promenade zogen in rascher Folge vorbei, links das Wasser, schön tiefblau heute, Strandkörbe um Strandkörbe, sie konnte lässig weiterlaufen, immer weiter, es machte ihr gar nichts aus.

An der Promenade die Schranke zur Straße „An der Acht“, Lianne war bis Niendorf gerannt, stoppte, ließ sich in den warmen, weichen, hellen Sand fallen. Sie drehte sich auf den Rücken, blickte in den dunkelblauorange verfärbten Abendhimmel. Ihr Atem ging schneller als sonst, aber dennoch ruhig, sie spürte ihre Wadenmuskeln und ein tiefes Glücksgefühl, das durch ihren Körper strömte.

Mehr als jetzt ging nicht. Mehr als jetzt wollte sie auch nicht. Sie hatte alles, was sie brauchte.

Matthias würde tatsächlich in der nächsten Zeit einige Male nach Timmendorf kommen. Wegen des Neubaus, der anstelle des Strand-Treffs Urlauber und Einheimische beglücken sollte. Und weil sich nach Matthias’ Ansicht die Scheidung „im persönlichen Kontakt“ besser regeln ließe.

Lianne war es egal. Sollte er die Dinge in die Hand nehmen. Ihretwegen konnte Matthias auch bei jedem Besuch an der Ostsee Mareile mitbringen, Mareile mit ihrem stetig wachsenden Babybauch. Lianne würde ihnen brav jeden Tag einen Strandkorb vermieten, gern auch den mit dem roten Herzen, das Liebesnest für Romantiker. Kostete natürlich extra.

Lianne richtete sich auf den Ellenbogen auf, sah an sich hinunter. 23 Kilo. Sie hatte 23 Kilo abgenommen, eindeutige Anzeige der allwissenden Glas-Diagnose-Waage heute Morgen. Dementsprechend gut saß das bläulich-fliederfarbene Sommerkleid.

Lianne legte sich wieder in den Sand. Noch vor wenigen Monaten hätte sie für diesen Gewichtsverlust jemanden ermordet. Vielleicht keinen nahen Angehörigen oder Freund, aber einen Fremden, warum nicht, hallo, 23 Kilo!

Aber etwas hatte sich verändert. In den vergangenen Wochen war Liannes Interesse an ihrem Gewicht mehr und mehr in den Hintergrund gerückt. Der morgendliche Gang auf die Waage: oft ausgelassen. Das sorgfältige Notieren der verzehrten Nahrung nebst Kalorien und Fettpunkten: meist vergessen. Die Sporteinheiten: immer eingehalten, ohne darüber nachzudenken.

Dann die schlimme Stunde in Stecos Pavillon. Mit der Überzeugung, in wenigen Augenblicken sterben zu müssen, verlor der Wunsch nach dem Schlanksein schlagartig an Bedeutung. Wie fast alles andere auch. Lianne hatte sich nur noch gewünscht, am Leben zu bleiben. Wie lächerlich und kleingeistig waren ihr all ihre Sorgen und Nöte aus diesem Blickwinkel erschienen. Und wie peinlich, in gewisser Hinsicht, dass erst ein durchgeknallter, rachsüchtiger Spinner wie Steco sie darauf stoßen musste, was ihr wichtig war: einfach leben. Hier. Strandkörbe vermieten. Joggen. Abends am Kiosk stehen, auf einen Feierabend-Schnack. Ihre gemütliche kleine Wohnung. Ihre Freunde und Freundinnen, besonders Britt und Thea – Thea, von der Lianne einen schrecklichen Moment lang gedacht hatte, sie hätte sie verloren.

Ein langer Schatten fiel auf Liannes Gesicht. Sie richtete sich erneut auf. Kristof stand vor ihr. War das ein Lächeln im steinernen Gesicht des sportlichen Asketen und Helden von Timmendorf?

„Dein Laufstil hat sich verbessert“, erklärte er trocken, setzte sich neben Lianne in den Sand.

„Danke“, erwiderte sie ebenso trocken. Ihr Nachbar war wirklich ein Romantiker vor dem Herrn.

Sie schwiegen, sahen aufs Wasser. Das ist das Gute an der Ostsee, dachte Lianne. Wenn sonst nichts ist, kann man immer noch aufs Meer gucken.

„Was willst du jetzt machen?“, fragte Kristof nach einer Weile.

„Alles wie gehabt“, gab Lianne zurück. „Arbeiten. Sport. Mich scheiden lassen.“

„Sonst nichts?“

Sie sah lange in ein Paar aufmerksame, braune Augen.

„Ein bis zwei Sachen mehr fallen mir noch ein“, erklärte sie schließlich.

Lianne legte sich wieder auf den Rücken, breitete Arme und Beine zur Seite aus und malte einen Sand-Engel. Dann sprang sie auf und betrachtete ihr Werk.

Ein lustiger, hübscher Sommer-Sand-Engel. Und neben ihm entstand soeben noch einer, etwas größer und schmaler, aber unverkennbar ein zweiter Sand-Engel. Der ausgezeichnet zum ersten passte.