Kapitel 1

Luft!, schrie ihre Lunge, Luft, ich brauche Luft! Dabei war genug Luft da, frische Ostseeluft sogar, aber das Lungenvolumen von Raucherinnen ist eben begrenzt. Keuchend blieb Lianne stehen, beugte sich nach vorn, stützte die Hände auf die Knie und ließ sich in den braungrauen Sand fallen.

Dort lag sie, platt auf dem Bauch, den Kopf mühsam einige Zentimeter erhoben, um das Gesicht nicht auf den feuchten, körnigen Untergrund legen zu müssen. Tränende Augen, laufende Nase, brennender Hals, hämmerndes Herz. Ein scharfer Schmerz, der durch ihren Rücken schoss, einmal diagonal von links unten bis hoch in die rechte Schulter, als Lianne sich mit letzter Kraft umdrehte, um in den düsteren, wolkenverhangenen Februar­himmel zu starren. Ein unangenehmer, unter die Kleidung kriechender Nieselregen-Schleier über dem Strand und dem Wasser, das schmutzig und abweisend wirkte. Spitze Steine, die aus dem eiskalten Sand ragten und sich in ihren voluminösen Hintern bohrten.

Liannes geplagte Lunge rang weiter um Sauerstoff. Willkommen in Timmendorfer Strand. Sie war hier. Und jetzt?

Was würde ein Fremder sehen, einer, der sie überhaupt nicht kannte? Die Frage vor etwa einer Stunde, als sich Lianne vor dem hohen, schmalen Spiegel drehte, nachdem sie sich kurzentschlossen bis auf den teuren Seiden­slip ausgezogen hatte, vor diesem hässlichen Spiegel, eingelassen in die Tür eines nicht minder hässlichen, weiß lackierten Kleiderschrankes. Graues Winterlicht, das durch das Fenster des kleinen, übermöblierten Schlafzimmers der kleinen, übermöblierten Ferienwohnung fiel, als Lianne ihren Blick an sich herabgleiten ließ und wieder hinauf, langsam, gründlich, bemüht, jedes Detail zu erfassen, schonungslos ehrlich, anstatt wie sonst die Augen rasch abzuwenden und Trost zu suchen – eine Zigarette, ein Getränk, eine Trüffelpraline, einen Jumbo-Döner.

Die Antwort auf die Frage: Das Gleiche wie Lianne würde ein Fremder sehen. Mach dir bloß nichts vor, Lianne Paulsen. Guck genau hin.

Doch das genaue Hingucken tat weh. „Acht von zehn Punkten auf der Grusel-Skala“, hörte Lianne im Geiste ihre Freundin Svenja lachend kommentieren. Mindestens acht Punkte, dachte Lianne, eher neun. Nur, dass das überhaupt nicht witzig war.

Allein der Gesamtumfang. Ihr Gesamtumfang, üblicherweise verpackt in teures, beige- oder schlammfarbenes Knitterleinen – leicht deutbares Indiz dafür, dass sich unter edlem Stoff ein gewaltiger Fleischberg verbarg. Enthüllt, vor dem scheußlichen Spiegel des scheußlichen Schranks, türmte er sich ungeschützt auf. Von Cellulite befallen, voller Dehnungsstreifen und rötlicher Flecken, aufgeschwemmt vom Alkohol.

„Aber sie hat ein hübsches Gesicht.“ Die Stimme von Liannes Mutter aus weit entfernter Vergangenheit. Die Mutter, damals stets bemüht, wenigstens irgendetwas Nettes über irgendeine dicke Klassenkameradin ihrer Tochter zu sagen. Ihre Tochter selbst zu jener Zeit: schlank und flink, und natürlich war das Gesicht ebenfalls hübsch.

Die Schulzeit war seit über einem Vierteljahrhundert vorbei, wahrscheinlich hatte heutzutage niemand aus Liannes ehemaliger Klasse noch ein hübsches Gesicht, sie auf jeden Fall nicht mehr. Graue, großporige Haut, tiefe Falten, harter Zug um den Mund, die einst gerühmten großen, veilchenblauen Augen stumpf und wässrig. Schlapp herabhängende, glanzlose Haare, deutlich schimmernder Grauansatz am unregelmäßig gezogenen Mittelscheitel, und die verbliebenen Reste der Tönung „Kastanienbraun“ machten es schlimmer. Eine mittelalte Frau, müde, schlaff, verbittert.

Selbstmitleid ließ Lianne aufs Bett sinken. Im Sitzen floss ihr Körper auseinander wie Crêpes-Teig in der Pfanne.

„Grässlich!“ Selbsthass und wütendes Starren in den Spiegel. Laut Personalausweis: Lianne Paulsen, 45 Jahre alt. Gefühlt um die 100. Kein Wunder, dass Matthias …

„Nein!“ Lianne sprang auf, wich zurück, zur Tür, weg von diesem schwarzen Gedanken, der aus der Zimmerecke auf sie zukam, schwärzer als alles, was sie bisher in dieser kalten, unpersönlichen Ferienwohnung gedacht hatte. Hastiges Überstreifen einer riesigen Leinenhose und eines nicht minder riesigen Mohair-Pullovers. Ab in den Flur, Füße in die 500-Euro-Stiefel, dazu eine zeltartige Jacke und die Schlüssel, dann raus.

Das Treppenhaus runter, weißgraue Fliesen, Krankenhaus-Flair, die Eingangstür aufgerissen, hinaus auf die Wohldstraße, die sich vor dem ockerfarben geklinkerten Appartementhaus mit den geschmacklosen, rot lasierten Dachziegeln erstreckte. Nach rechts, und los, Lianne begann zu rennen, eine bescheuerte Idee, mit hochhakigen Wildlederstiefeln, kein normaler Mensch würde damit rennen, aber egal.

Wasser, das von den kahlen Ästen zahlreicher Bäume und braungrünem Buschgestrüpp tropfte, verlassen wirkende Einfamilienhäuser, eine Linkskurve, ein großer Parkplatz mit nur zwei Autos darauf, daneben eine langgestreckte Halle mit grauem Dach, ein Schriftzug: „Eissport- und Tenniscentrum“ in fleckigen Buchstaben. Ein Hinweisschild, „Polizei“, aber wie sollte die Polizei Lianne helfen?

Sie stellte sich vor, wie sie ins Revier taumelte, schnaufend, sich auf dem Tresen abstützte und in das ernste Gesicht eines kompetenten Beamten blickte. „Was kann ich für Sie tun?“, würde er sie begrüßen, und Lianne könnte etwas Dramatisch-Bedeutungsvolles antworten. „Ich will mein Leben zurück“ zum Beispiel, und wenn er dann fragen würde, wie es denn aussähe, ihr Leben, das sie zurückwollte, könnte sie es ihm gar nicht sagen.

Weiterrennen, noch mehr Schilder, „Evangelische Waldkirche“, „Sport-Hotel“, rechts ein fünfstöckiges Gebäude, wieder ockerfarben, damit hatten sie es hier offenbar, unten ein Geschäft: „Meeresmode“. Im Schaufenster zwei dünne Puppen, behängt mit bunten Designerfähnchen, nichts für Lianne, klar konnte sie sich die Teile leisten, aber sie würde nicht hineinpassen und war zu alt für fröhliche Muster, lächerlich sahen die an ihr aus.

Mareile könnte diese Kleider tragen, die zarte, hübsche Mareile mit den weichen, blonden Haaren und den runden, hellblauen Augen, so schlank und mädchenhaft, umhüllt von „Meeresmode“, unwiderstehlich lächelnd, hinreißend und beschützenswert. Aber jetzt bloß nicht an Mareile denken. Lianne knickte mit dem rechten Fuß ein, stolperte unbeholfen und rannte weiter.

Links ein Hotel, ein ausgemusterter Fischkutter als Dekoration im Vorgarten, von morschen Holzplanken blätterte Farbe ab. Erinnerung an diesen Kutter, damals, vor zehn Jahren, im Sommer, im Sonnenschein, hatte in Timmendorf alles ganz anders ausgesehen. Aber sie selbst hatte damals auch anders ausgesehen, und ihr Leben ebenso. Matthias neben ihr, braun gebrannt und attraktiv und gut gelaunt, ein toller Mann, das hatten Liannes Freundinnen immer gesagt, und ihre Feindinnen auch, alle mit kaum verhohlenem Neid.

Wie hatte Lianne ihn für sich gewonnen, diesen großen Kerl, breite Schultern, grüne Augen, dunkelblonde Locken und ein freches Grinsen, wie hatte sie das gemacht? Sie wusste es nicht mehr, Lianne war eine andere gewesen, vor 20 Jahren, als alles angefangen hatte.

Eine kleine Verkehrsinsel, ein Schilderwald obendrauf, von links nach rechts eine breite Straße mit rotem Asphalt. Ein Transporter rollte vorbei, ein Transporter wie der, den Lianne gemietet hatte und der, voll mit willkürlich hineingeworfenem Kram, vor dem Appartementhaus wartete und entladen und in Lübeck abgegeben werden sollte. Das müsste sie eigentlich heute noch erledigen oder einen weiteren Tag dafür bezahlen – nicht, dass es darauf ankäme.

Geradeaus ein Fußweg, gesäumt von weiß verputzten Häusern mit düstergrauen Schieferdächern. Ein unscheinbarer Kiosk auf einem gepflasterten Rondell, mehr Trink-Halle als Champagner-Bar, die Jalousien heruntergelassen, für wen sollten sie auch öffnen, es war so was von keine Saison, wie es nur sein konnte. Lianne keuchte heftiger, aber dahinten schimmerte endlich die Ostsee stumpfgrau.

Der Strand und das Wasser seien nicht weit, hatte die Vermieterin der Ferienwohnung gesagt, vorhin, als Lianne die Schlüssel abgeholt hatte. Bei einer Frau, die genauso nichtssagend und unpersönlich aussah wie die Wohnung, die sie Lianne vermietet hatte, aber was sollten diese Gedanken, Lianne war nicht in der Position, über das Aussehen anderer Leute zu spotten.

Rechts die Promenade hoch, ein einsamer Fahrradfahrer wich erschrocken aus, als die dicke Frau mit dem hochroten Gesicht an ihm vorbeikeuchte, ein Kugelblitz in Zeitlupe. Ein mehrstöckiger weißer Hotelklotz, der in den Himmel ragte, wieder leichter Nieselregen. Links eine rostige Metallskulptur, die einen Mann mit Hut darstellte: Udo Lindenberg, hatten sie dem also auch schon ein Denkmal gesetzt, das gab es nur in Timmendorf. „Hinterm Horizont geht’s weiter“, was für ein Quatsch, sorry, Udo, aber das war auch nur ein Kalenderspruch, eine Phrase, wie die Facebook-Deppen sie jeden Tag tausendfach verschickten, nein danke, und nein, Lianne glaubte nicht, dass es hinterm Horizont weiterging, denn hinterm Horizont war höchstwahrscheinlich Ende.

Ende, Ende, Ende. Das böse Wort, das im Kopf herumratterte, Ende, Ende, Ende, hörbar nur für Lianne, als Mat­thias ihr gegenübersaß, an diesem Abend am Küchentisch, und redete und redete, mit unerträglichem Gesichtsausdruck, bedauernd und mitleidig und entschlossen. Wie er erklärte und erklärte, eine Geschichte erzählte, die Lianne nicht hören wollte, denn sie lief ja nur auf eines hinaus: Ende, Ende, Ende. Doch Matthias wollte gestehen und dass Lianne ihn verstand, beichten und sich rechtfertigen, eine Last ablegen, Lianne ablegen und ihr gemeinsames Leben und frei sein, unbeschwert und glücklich. „Auseinandergelebt“, „entfremdet“, „gemeinsam einsam“, „noch einmal neu anfangen“: Vor keiner Plattitüde war er zurückgeschreckt, hatte Liannes Intelligenz und Kreativität mit banalem Gerede beleidigt, das jeder Seifenoper zur Ehre gereicht hätte.

Lianne sah sich, wie sie ihm schweigend gegenübersaß, unfähig zu einer Entgegnung und immer wieder diesen einen Satz denkend: Ich kann nicht glauben, dass das mir passiert. So etwas ungeheuer Gewöhnliches und zugleich undenkbar Schreckliches, aber vermutlich war das Schreckliche häufig gewöhnlich, was wusste sie schon darüber, sie hatte sich bislang ja wunderbar eingerichtet oder das zumindest gedacht.

So wunderbar schien das alles aber nicht gewesen zu sein, sondern eine Täuschung, sonst hätte es den Abend mit Matthias’ vernichtender Rede nicht gegeben. Er sah immer noch so attraktiv aus, das war Lianne zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder aufgefallen, keine Spur von verheerenden Verfallserscheinungen wie bei ihr. Die dunkelblonden Haare leicht grau meliert, aber immer noch dicht, ein paar feine Fältchen im kantigen, gut geschnittenen Gesicht – das war’s. Matthias Paulsen, 48, konnte locker für 38 durchgehen, sportlich und trainiert, die Muskeln zeichneten sich unter seinem dunkelblauen Hemd ab, als er sich angespannt nach vorne beugte und die kräftigen Arme auf den Esstisch (Wildeiche, „white washed“, hatte ein Schweinegeld gekostet) legte und die schmalen Hände mit den langen Fingern ineinander verschränkte wie ein seriöser Gutachter, der erläuterte, warum ein alter Baum unrettbar verloren war (Innere Fäulnis? Starke Bruchgefährdung?).

Er trug seinen Ehering nicht mehr, hatte Lianne in diesem Moment registriert. Seit wann? Das konnte sie nicht sagen, wie auch, sie hatte kaum auf Matthias geachtet in den vergangenen Monaten, anderes im Kopf gehabt als ihren Mann, der hatte schließlich auch genug zu tun. Allerdings offenbar nicht nur das, von dem Lianne gedacht hatte, dass er es zu tun hätte. Stattdessen war Matthias damit beschäftigt gewesen, Mareile zu treffen und sich in Mareile zu verlieben – ha, jetzt hatte Lianne den Gedanken doch zugelassen, da war er, gekommen, um zu bleiben.

Mareile, was war das eigentlich für ein Name? Mareile und Matthias, Matthias und Mareile, das klang wie Fix und Foxi, Pat und Patachon, lächerlich. Nur, dass Matthias es überhaupt nicht lächerlich fand, und dass es ihn gar nicht störte, dass das Namen aus zwei verschiedenen Generationen waren, aber es störte ihn ja auch nicht, dass sie tatsächlich zwei verschiedenen Generationen angehörten, er und Mareile, die junge Mareile, was für ein abgegriffenes Klischee.

Kiefern säumten mittlerweile den Schotterweg, den sie hier Promenade nannten, rechts tauchte ein hübscher, filigraner Rundbau mit hohen Sprossenfenstern auf. Ein Spielplatz, viel Holz, dann ein futuristisches, ufoartiges Glasgebäude mit blauen Betonbögen, gefolgt von einem sechsstöckigen Kasten, dunkelrot verklinkert, wahrscheinlich eine Klinik, und wieder ein Rondell, dieses Mal mit Sitzbänken und der bronzenen Skulptur einer schlanken Frau in der Mitte, die sich mit einem Badetuch abtrocknete.

Lianne wurde schwindelig, ihr Atem kam stoßweise, lange würde das nicht mehr gut gehen, leichte Übelkeit, Halsschmerzen. Sie brauchte eine Pause, dabei hatte sie vermutlich nur wenige Hundert Meter zurückgelegt. Links abbiegen, vorbei an einem schmutzig weißen DLRG-Container, durch einen Streifen Dünengras, und da war er, der Strand, nass, braungrau und schwer. Hier schaffte sie noch wenige Schritte, die Füße versanken, blieben stecken, und Schluss.

Nichts hatte sie gemerkt, sie, Lianne Paulsen, so intelligent und organisiert und erfolgreich, wie sie war, gar nichts, aber dafür dann alles auf einmal gesehen, in dieser einen Stunde am Esstisch in der Küche. Wie sehr Matthias sich verändert hatte, oder vielmehr rückverwandelt, wie jung er wieder aussah. Nicht nur das dunkelblaue Hemd war neu, Lianne konnte sich nicht erinnern, es zuvor schon an ihrem Mann gesehen zu haben, auch die Jeans mit den breiten Nähten, und hatte er je zuvor Segelschuhe aus weichem Leder getragen?

Eine bittere Erkenntnis der Lianne Paulsen in ihrer Küche: Matthias und sie waren ab einem bestimmten Punkt in entgegengesetzte Richtungen marschiert. Sie: zu den bösen Klassikern – Arbeit und Geld, Zigaretten und Alkohol, Pralinen und Kanapees, zu Abenden in völliger Erschöpfung auf dem mächtigen Sofa im weitläufigen Wohnzimmer, Fernbedienung und Flachbildschirm im Kinoformat und Home-Entertainment vom Feinsten. Matthias: Richtung Sportstudio und Lauf-Runden die Weser entlang, garantiert nicht zu den Kippen und dem Rotwein, er baute Frust und Stress auf gesunde Weise ab. Und die Richtung Arbeit und Geld hatte ihm offenbar auch nicht mehr gefallen oder zumindest nicht mehr genügt, denn er war abgewichen, ein plötzlicher Ausfallschritt zur Seite, und zack! in eine kleine Gasse abgetaucht und verschwunden, in einem kleinen Café, wo Matthias Mareile entdeckte und sie ihn.

Er war wieder glücklich. Lianne konnte es an diesem Abend, in dieser letzten Stunde genau sehen. Matthias saß am Esstisch und beendete ihre Ehe und zeigte glaubhaft Bedauern und Mitleid, aber darunter leuchtete und funkelte es, sein neues Glück, er konnte es nicht komplett verbergen, es strahlte aus ihm heraus.

Lianne hätte es ihm am liebsten entrissen und es auf den Boden geworfen, um darauf herumzutrampeln und es mit einem brutalen Kick in die Ecke zu befördern, aber sie konnte sich nicht bewegen.

Gab es einen Wettbewerb für auf extrem schablonenhafte Weise auseinandergebrochene Ehen? Sie könnten sich anmelden und ihre Geschichte erzählen, und dann würde eine Jury tagen und ihr Sprecher das Ergebnis verkünden. „Herzlichen Glückwunsch, die Gewinner sind: Lianne und Matthias Paulsen“. Was wohl die Siegprämie wäre? Vielleicht zwei neue Leben, für jeden eines, aber das brauchte Matthias ja gar nicht, das hatte er schon, zusammen mit Mareile und … Aber den letzten, schwärzesten Gedanken wollte Lianne dann doch nicht hereinlassen, nicht heute, genug war genug.

Timmendorfer Strand. Sie war hier und lag an einem kalten Februartag im Sand wie ein gestrandeter Grindwal. Und jetzt? Ich müsste aufstehen, dachte Lianne, ich werde mir die Grippe einfangen. Kälte kroch vom Rücken runter zu den Beinen und hoch zum Hals. Aber sie blieb liegen. Der Nieselregen hielt an. Zwei Grad plus Lufttemperatur, schätzte Lianne. Wie kalt wohl die Ostsee war? Doch das würde sie nicht ausprobieren.

Kein Mensch am weiten Strand, nur ganz hinten unterhalb der langen Seebrücke eine Gestalt mit Hund. Lianne breitete Arme und Beine zur Seite, als wollte sie einen Schnee-Engel malen, und malte einen Sand-Engel, einen traurigen, hässlichen, dicken Winter-Sand-Engel.

Alles muss anders werden, blinkte es in Liannes Kopf auf. Aber sie wusste nicht wie, sie wusste gar nichts, nichts, nichts, nichts, und das flößte ihr einen Moment lang eine solche Angst ein, dass sie ans Sterben dachte. Stattdessen blieb sie weiter liegen, nach Luft schnappend, im kalten Sand, mit spitzen Steinen, die sich in ihren Hintern bohrten, und einem Geröllhaufen auf der Seele.