Kapitel 2

Fünf Wagen zählte der private Fuhrpark von Jupp Schmitz, fünf sportliche, teure, auffällige Wagen. Von namhaften Herstellern natürlich, und ein Außenstehender hätte vielleicht vermutet, dass Jupp aufgrund dieses Übermaßes an Besitz den Zustand jedes einzelnen Fahrzeuges eher lässig sah. Schließlich hatte er sich nicht jahrelang eine durchschnittliche Mittelklasse vom Munde abgespart, die er nun sorgsam pflegte und hütete, sondern sich vielmehr einige Male munteren Spontankäufen hingegeben. War es deshalb nicht so, dass er den einen oder anderen Kratzer am einen oder anderen Gefährt auf die leichte Schulter nahm?

Nein.

Im Gegenteil.

Jupp Schmitz kochte vor Wut.

Allerdings ging es auch nicht um irgendeinen Kratzer.

Der schnittige Mercedes-AMG war Jupps Lieblings­auto. Jedenfalls spätestens jetzt, da jemand dem rollenden Männertraum rohe Gewalt angetan hatte. Jupp spürte die Attacke am eigenen Körper schmerzen. Tief und brutal waren die Buchstaben auf der stolz geschwungenen Motorhaube in die hyazinthrote Metallic-Lackierung gegraben worden, um eine denkbar schlichte Botschaft zu hinterlassen: „Arschloch“, quer über den 510-PS-Schlitten geschrieben.

Jupp atmete schwer. Sein ohnehin stets gerötetes Gesicht, das selbst bei medizinischen Laien die Assoziation „Bluthochdruck“ und „riskanter Alkoholkonsum“ hervorrief, lief im Ton seiner bordeauxfarbenen Hose an.

Er sah zum Rolltor der Tiefgarage, die sich unterhalb des Appartement-Komplexes in der Timmendorfer Berg­straße befand, in dem auch Jupps Zweitwohnung lag. Ein schönes Ostsee-Domizil, für seine Verhältnisse bescheidene 120 Quadratmeter, Penthouse mit Terrasse. Schade nur, dass es seit Jahren Ärger wegen des Rolltores gab.

Diese verfluchten Feriengäste! Zwei kleine Wohnungen im Haus waren in der ständigen Vermietung an Urlauber. An Menschen also, die ein oder zwei Wochen am Meer genossen, sich dem Müßiggang und der frischen Luft hin­gaben und ständig das Tor offen stehen ließen.

Jupp hatte sich beschwert und beschwert, bei der Hausverwaltung, den Wohnungseigentümern, den Urlaubern. Hatte auf den Wert seiner kostbaren Autos hingewiesen, Zettel aufgehängt und mit Schadenersatzforderungen gedroht.

Vergebens. Es klappte eine Zeit lang, und dann ließ doch wieder irgendein Idiot das Tor auf.

So wie jetzt.

Gestern Abend war der erfolgreiche Makler Jupp Schmitz von Dortmund an die Küste gefahren, ach was, gefahren, geflogen war er, in seinem roten Schätzchen, ein Gefühl irgendwo zwischen Formel 1 und Kampfjet über der Lüneburger Heide. Auf der A2, auf der A1 waren zu viele Baustellen. Knapp drei Stunden hatte er gebraucht, gute Zeit. Die er anschließend im Timmendorfer Kaiser gefeiert hatte, wobei von „Feiern“ derzeit eigentlich keine Rede sein konnte. Im Winter herrschte selbst in dieser angesagten Kneipe tote Hose.

Nun, Jupp Schmitz hatte das Beste daraus gemacht, sein Deckel konnte sich sehen lassen. Gegen zwei Uhr nachts war er nach Hause getorkelt, aber nach dem Tor hatte er gesehen, hundertprozentig, und hundertprozentig war es geschlossen gewesen, da irrte sich Jupp nicht, no way.

„Diese Schweine.“ Jupps sonst übliches, joviales Grinsen war ausgelöscht, was sein aufgeschwemmtes Gesicht schlaff und verbraucht wirken ließ. Vorsichtig strich er mit einer Hand über das A von „Arschloch“, mehrere Millimeter tief eingeritzt. Was hatten sie benutzt? Ein Messer? Einen Schraubendreher?

Jupp ballte die Fäuste. So nicht. Sie wollten Jupp Schmitz anpissen? Dann hatten sie sich mit dem Falschen angelegt. Das hier, das nahm er persönlich. So persönlich, wie man es nur nehmen konnte. Er würde herausfinden, wer seinem Wagen das angetan hatte.

Später.

Jetzt brauchte er auf den Schreck erst einmal einen Drink.

Die Frau stand seit 20 Minuten auf der Promenade, im Regen, ohne Schirm, genau gegenüber der Asia-Galerie, und starrte die bronzene Buddha-Statue im Vorgarten unentwegt an. Britt Peters hatte sie dabei beobachtet. Jedes Mal, wenn sie am offenen Schiebefenster ihres Kioskes vorbeikam, wofür an diesem trüben Sonntag reichlich Zeit war, warf sie einen Blick hinaus, und dann stand die Frau immer noch da. Mittelgroß, stämmig, halblanges Haar von undefinierbarem Braun, beigefarbene Jacke, braune Schuhe. Schon komisch, dachte Britt.

Natürlich zog die Asia-Galerie mit Buchhandlung Neugierige an, Hunderte täglich in der Saison. Für unzählige Fotos – zu pittoresk war das hübsche Reetdachhäuschen, verwandelt in einen fernöstlich anmutenden Pavillon: die Ansicht des Fachwerkhauses dunkelrot, weiß und schwarz, dazu Bambus und eine Kiefer im davor gelegenen Garten, in den die Besucher durch ein rotes Holztor und über eine geschwungene Granitbrücke gelangten. Auf dem Rasen steinerne Buddha-Statuen, in einer gläsernen Außen-Vitrine. Buddhas aus Messing und Bronze, versilbert und vergoldet, auf betuchte Käufer wartend. Ein eckiger Wasserlauf umgab das Haus, darüber führte eine rote Holzbrücke, alles klar und geradlinig angelegt, stimmig und doch fremd, als habe es Harry Potter von Japan weg an der Ostsee apparieren lassen.

Ein beliebtes Motiv. Aber so lange wie diese Frau fesselte es niemanden. Achselzuckend wandte sich Britt dem Kaffeeautomaten im hinteren Teil des Kioskes zu. Was ging es sie an, was die Frau dort tat? Wenn sie gucken wollte, sollte sie gucken.

Britt beugte sich über ihre Warenliste. Das kleine Lager des Kioskes war noch gut gefüllt, der Februar war nicht die Zeit, in der sie Pommes und Sandwiches, Prosecco und Bier, Weingummi und Eis ohne Unterlass aus dem Ausgabefenster schaufelte.

Britt seufzte. In den toten Monaten öffneten Meeno und sie den Kiosk – ebenfalls ein Reetdachhaus, mit angeschlossener öffentlicher Toilette – nur an den Wochenenden, und selbst dann tropften die Stunden zäh wie alter Honig dahin. Es kam einfach zu wenig Kundschaft, da nützten auch die großflächigen Glasscheiben nichts, die rund um den Kiosk als Windschutz montiert worden waren. Kein Vergleich zum Sommer, wenn Britt an sonnigen Tagen das Gefühl hatte, im Auge eines Orkans zu arbeiten: Sie auf den wenigen Quadratmetern ihres Kioskes, und draußen die wilde, hungrige, durstige Masse, gegen die weiß getünchten Mauern drängend.

Britt griff nach ihrer Tasche, darin: einer ihrer Heftromane mit dem goldenen Rand. Zu Hause spotteten Meeno und die Jungs, wenn sie sich mit glühendem Gesicht in die dramatischen Liebesabenteuer des Hochadels versenkte. Doch hier im Kiosk hatte sie ihre Ruhe, zumindest im Februar.

Britt schwang ihren zierlichen Körper auf einen Hocker, schlug die schlanken Beine übereinander und blätterte zu der Szene, in die sie sich vorhin bereits vertieft hatte: Die schöne Elena begegnete zum ersten Mal dem einsamen Prinzen auf seinem verfallenen Landgut und sagte ihm gehörig die Meinung wegen seiner unhöflichen Haltung ihr gegenüber, womit sie in Britts Augen vollkommen recht hatte, denn schließlich …

„Haben Sie geöffnet?“ Eine raue Stimme, Britt wurde aus ihrer Lektüre gerissen. Am Tresen stand die Frau, die so lange auf den Buddha gestarrt hatte.

„Klar. Was soll’s denn sein?“ Britt lächelte freundlich. Die neue Kundin: in der Tat recht stämmig, mit rotbraunem, stumpfem Haar, nass vom Regen, die Gesichtshaut fahl und grau.

Andererseits: eine teure Designerjacke, mindestens 3000 Euro, schätzte Britt, damit kannte sie sich aus. Wer in Timmendorf lebte und arbeitete, hatte einen Blick dafür, auch wenn sie oder er sich die edle Ware selbst nicht leisten konnte.

„Was Heißes, bitte.“ Die Frau blickte auf die Getränke-­tafel hinter Britt.

„Glühwein, Grog, Lumumba?“ Britt sah sie auffordernd an. Wie eine Antialkoholikerin wirkte die Frau vor ihr ja nun nicht gerade.

„Lumumba“, erwiderte diese zögerlich. „Aber ohne Rum, bitte.“

Britt sah sie verständnislos an. „Ohne Rum ist das nur Kakao.“

Die Frau stutzte, dann lachte sie, was ihr Gesicht verwandelte und hübsch wirken ließ, schöne Augen hatte sie, groß und veilchenblau. Elizabeth Taylor, ging es Britt durch den Kopf, sie hat Augen wie Elizabeth Taylor.

„Also gut, dann nur Kakao“, sagte die Frau. „Bitte ohne Sahne.“

„Kakao, ohne Sahne. Läuft.“ Britt drehte sich zur Edelstahl-Zeile um, zur geschlossenen Reihe aus Kaffeeautomaten, Fritteuse, Herd und Wärme-Bassin für Bockwürste.

„Ist nicht gerade die Hölle los hier, oder?“, bemerkte die Frau in ihrem Rücken.

„Nö. Ist die toteste Zeit“, bestätigte Britt. Becher unter die Maschine stellen, „Schokolade“ programmieren, sich wieder umdrehen.

„Gibt es toter als tot?“

„Keine Ahnung.“ Britt zuckte mit den Schultern. „Aber wenn, dann haben Sie es gefunden.“

Die Frau lachte erneut.

„Ich glaube, das stimmt nicht. Ich habe vorhin mehrere Menschen gesehen.“

„Viele können es nicht gewesen sein“, antwortete Britt, während sie den dampfenden Kakao auf den Tresen stellte.

„Nein, da haben Sie recht. Was macht das?“

„Drei Euro.“

Die Frau kramte in ihrer Manteltasche, zog ein übergroßes Lederportemonnaie hervor, legte drei Münzen auf den Tresen.

„Was ist das für ein Gebäude?“, erkundigte sie sich. „Das mit den Buddhas und dem asiatischen Zeug drumherum.“

„Das ist die Asia-Galerie“, erklärte Britt. „Gehört einem reichen Hamburger Geschäftsmann. Der handelt vor allem mit Buddhas und Entspannungsbüchern und diesem ganzen Harmonie-Kram. Ihm gehören auch die drei Villen weiter hinten an der Promenade. Haben Sie die gesehen?“

„Nein“, sagte die Frau und nippte an ihrem Kakao. „Sollte ich?“

„Schon“, erklärte Britt. „Wenn Sie sie gesehen haben, vergessen Sie sie nicht wieder. Sind eine der Hauptattraktionen hier – drei Häuser nebeneinander, im asiatischen Stil gebaut. Werden ,Die weiße Stadt‘ genannt.“

„Aha. Gehört das Haus auf der Brücke auch dazu?“ Die Frau wies mit dem Kopf zur Seebrücke hinter ihr.

„Nein, nicht direkt.“ Britt merkte, wie sie sich warmredete. Die Frau war interessiert, und Britt liebte es, von ihrem Heimatort zu berichten. An ihr sei eine Fremdenführerin verloren gegangen, meinte ihr Mann Meeno häufig, und manchmal spielte Britt tatsächlich mit dem Gedanken, Ortsführungen anzubieten, sah sich bereits ein Fähnchen schwingen, vor Scharen aufgeschlossener Bildungsbürger, die an ihren Lippen hingen.

„Also“, hob sie an, „das ist so: Die Asia-Galerie mit dem Buddha davor ist die ehemalige Lesehalle, das Haus wurde Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut. Es stand einige Jahre leer, bis der Hamburger es 2004 gepachtet und umgemodelt hat.“

„Geizig scheint er ja nicht zu sein“, merkte Britts Zuhörerin an und zog amüsiert die Augenbrauen hoch.

„Nein, Geld ist nicht das Problem.“ Britt grinste. „Aber das ist es in Timmendorf häufig nicht. Jedenfalls hat sich der Mann zunächst eine dieser Villen an der Promenade gebaut und dann irgendwann die Nachbarhäuser gekauft und auf den Grundstücken sein Reich sozusagen erweitert. Die Häuser sind alle miteinander verbunden, es ist quasi ein Gebäude – um die 1000 Quadratmeter Wohnfläche, sagt man.“

„Oh.“ Die Frau zog die Stirn in Falten. „Wie bescheiden.“

„Ja.“ Britt nickte wissend. „Das gibt es nur in Timmendorf.“

„Und das Haus auf der Brücke?“

„Das ist die Seeschlösschen-Brücke, und das Haus darauf ist das berüchtigte Teehaus. Sagen Sie bloß, dass Sie diese Geschichte auch nicht kennen.“

Britt war erstaunt. Die Querelen um die Brücke und das gläserne Gebäude mit dem auffälligen, geschwungenen weißen Dach hatten jahrelang hohe Wellen bis nach Hamburg und darüber hinaus geschlagen.

„Sorry. Da habe ich wohl etwas verpasst.“ Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich komme aus Bremen. Bei uns hört man nicht so viele Geschichten von der Ostseeküste.“

„Angefangen hat das alles mit dem Abriss der alten Seeschlösschen-Brücke. Die war marode“, hob Britt an. „Damals hat der Hamburger vorgeschlagen, auf der neuen Brücke ein Teehaus zu errichten – er wollte es der Gemeinde sogar schenken.“

„Großzügig, oder?“ Die Frau sah Britt fragend an. „Darüber haben sich die Timmendorfer doch bestimmt gefreut?“

„Geht so.“ Britt verzog das Gesicht. „Es gab riesigen Streit im Ort. Einige wollten das Teehaus unbedingt, andere wollten es überhaupt nicht. Schließlich gab es einen Bürgerentscheid, und der ging zugunsten des Teehauses aus.“

„Meine Güte. Was für ein Aufwand.“

„Tja, da kennen die Timmendorfer nichts.“ Britt fuhr fort: „Die Gemeinde hat dann die Brücke bauen lassen, ich glaube, für knapp zweieinhalb Millionen Euro. Anschließend gab es wieder Streit – dieses Mal über den Bau des Teehauses. Erst wollten sich die Gemeinde und der Hamburger gegenseitig verklagen, später haben sie sich doch noch geeinigt, und der Hamburger hat eine Million Euro in das Haus eingebracht. Und die Gemeinde hat den Rest bezahlt.“

„Eine teure Tasse Tee, wie?“ Die Frau lächelte süffisant.

„Allerdings.“ Britt lachte. „Mindestens vier Millionen Euro für die Gemeinde, und dann waren nach kurzer Zeit die Fenster undicht. Wieder 800.000 Euro. Aber seit 2014 ist das Teehaus immerhin geöffnet.“

„Ich muss dort unbedingt einen Tee trinken“, bekräftigte die Frau. „Wenn die Timmendorfer doch so viel Geld für so ein kleines Haus ausgegeben haben.“

Britt wollte gerade zu einer weiteren Erklärung ansetzen, als eine kratzige Männerstimme ertönte.

„Kaffeekränzchen am Nachmittag? Störe ich die Damen?“

Ole Martens war trotz des deprimierenden Wetters bester Laune. Der Grund hätte schlichte Lebensfreude sein können, doch stattdessen erfreute sich Ole über die Maßen an Jupps Zorn. Vor einer halben Stunde hatte Ole den aufdringlichen Angeber aus Nordrhein-Westfalen vor dem Timmendorfer Kaiser getroffen und von dem ach so bösen Frevel gehört, der Jupps Mercedes angetan worden war. Eine Nachricht, die den trüben Tag in Oles Augen in ungeahntem Glanz erscheinen ließ. Er fühlte sich regelrecht aufgekratzt, ein im Zusammenhang mit Jupps Auto geniales Wortspiel, befand Ole, als er sich Britts Kiosk näherte und die Betreiberin sowie eine Unbekannte am Tresen mit heiteren Worten begrüßte.

Lianne drehte sich um und sah einen großen, dünnen Mann um die 50 mit längerem, wirrem Haar in undefinierbarem Braungrau, an dem sich seit Ewigkeiten kein Frisör mehr zu schaffen gemacht hatte. Dazu trotz der Kälte ausgelatschte Turnschuhe, zerschlissene, helle Jeans und eine schmuddelige, sackartig herabhängende Jacke in einem abschreckenden Türkiston. Krönung der Gesamtkombination waren eine selbst gestrickte, deutlich zu kleine Mütze und ein uraltes, klappriges Holland-Rad, das der Mann neben sich herschob und jetzt umständlich an der Seitenwand von Britts Kiosk abstellte.

„Ole, grüß dich“, sagte Britt trocken. „Wie immer?“

„Moin, Britt. Ja, wie immer.“ Der Mann lehnte sich mit gespielter Lässigkeit neben Lianne an den Kiosk-Tresen und griff nach der Flasche Pils, die Britt für ihn geöffnet hatte. Ein tiefer Schluck, dann setzte er die Flasche wieder ab und zwinkerte Lianne zu, als sei er ein weltgewandter Geheimagent im Smoking und sie der dazu passende Vamp im Cocktailkleid.

„Auch hier im Regen unterwegs?“

Britt wand sich. Was für eine peinliche Bemerkung für einen Mann in Oles Alter. Aber so war Ole Martens: mental irgendwann kurz nach seinem 18. Geburtstag stehen geblieben und null Gespür für seine fatale Außenwirkung.

Lianne nippte an ihrem Kakao und lächelte Ole kühl an.

„Nein“, erwiderte sie. „Ich bin nur eine Luftspiegelung und liege in Wahrheit gerade gemütlich zu Hause auf meinem Sofa.“

„Wie?“ Verwirrt ließ Ole seine Flasche sinken. „Was für eine Luftspiegelung?“

„Das war nur ein Scherz.“ Resigniert hob Lianne erneut ihre Tasse zum Mund. „Verschwendete Ironie, wenn Sie so wollen.“

„Na, wie auch immer.“ Ole machte eine wegwerfende Handbewegung. „Prost jedenfalls.“

Er wandte sich Britt zu.

„Schon gehört, was Jupp passiert ist?“

„Nein“, gab Britt gelassen zurück. „Aber lass mich raten. Er hat einen neuen Promille-Rekord aufgestellt?“

„Nein, besser, viel besser.“ Ole schwenkte aufgeregt seine Bierflasche hin und her. „Jemand hat eines seiner Autos zerkratzt. Diesen roten Mercedes. Da steht jetzt in Riesen-Lettern ,Arschloch‘ drauf.“

„Ach du Schande.“ Britt zog die Augenbrauen hoch. „Wie ärgerlich. Das wird bestimmt teuer.“

„Ach, der Jupp kann sich das doch leisten.“ Ole feixte und entblößte dabei lange, gelbe Zähne. „Ich hätte zu gern sein Gesicht gesehen, als er die Bescherung entdeckt hat.“

„Du scheinst dich darüber zu freuen“, hielt Britt ihm vor. „Das ist nicht gerade nett.“

„Jupp ist auch nicht nett.“ Ole schnaubte verächtlich durch die Nase. „Der arrogante Angeber.“

„Nun lass ihn mal. So verkehrt ist der Jupp gar nicht“, erwiderte Britt. „Weiß man denn schon, wer es war?“

„Nee.“ Ole schüttelte den Kopf. „Jupp hat das Ganze bei der Polizei angezeigt, und jetzt will er selber Nachforschungen anstellen. Keine Ahnung, wie er das machen will. Er meinte irgendwas von Linken und der Antifa, die dahinterstecken sollen.“

„Die Antifa. In Timmendorf. Und die nehmen sich ausgerechnet das Auto von Jupp vor.“ Britt zeigte Ole einen Vogel.

Der drehte sich erneut zu Lianne um. „Ich bin übrigens Ole Martens. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

Lianne starrte ihn an. Ihr lag eine weitere spitze Bemerkung auf der Zunge. Doch sie sagte nur: „Paulsen.“

„Paulsen, aha. Und hat Paulsen auch einen Vornamen?“ Ole feixte wieder.

„Ja“, gab Lianne zurück. „Aber der geht Sie nichts an. Wir wollen uns ja nicht duzen.“

Erneut blickte Ole einen Moment lang ratlos vor sich hin. Dann verfinsterte sich sein Gesicht.

„Schon klar“, erwiderte er beleidigt. „Die feine Dame spricht nicht mit jedem. Erst recht nicht mit einem Otto Normalbürger wie mir. Lieber in teuren Klamotten herumstehen und Champagner saufen und wichtig tun. Typisch Timmendorf-Touristen, aber echt.“

Lianne sah ihn abschätzend und mit verhaltenem Interesse an – so, wie ein Wissenschaftler die nur wenig spannenden Aktivitäten wimmelnder Einzeller unter einem Mikroskop betrachten würde, dachte Britt.

„Erstens: Was typisch ist für Timmendorfer Touristen, weiß ich nicht“, erklärte Lianne mit kalter Höflichkeit. „Zweitens: Das hier ist kein Champagner, sondern Kakao. Drittens: Die Bekleidung meiner Mitmenschen interessiert mich nicht. Meinetwegen können Sie einen Nerz oder eine Mülltüte tragen – Hauptsache, Sie sparen sich diese billigen Sprüche.“

Ole verschluckte sich an seinem Bier, hustete und knallte die fast komplett geleerte Flasche auf den Tresen. Von seiner guten Laune angesichts von Jupps zerkratztem Wagen war nichts mehr zu merken.

„Dann will ich nicht weiter stören“, giftete er. „In Gegenwart von solchen Zimtzicken schmeckt einem ja das Bier nicht mehr.“

Er wandte sich zu Britt, die ihn amüsiert beobachtete.

„Tschüs, Britt. Ich komme ein anderes Mal wieder, wenn hier bessere Stimmung ist.“

„Tschüs, Ole. Ich schreib’s auf deinen Deckel.“

Ole schnappte sich sein Rad und schob es die leichte Anhöhe der Promenade hoch und am Aufgang zur Seeschlösschen-Brücke vorbei. Die beiden Frauen sahen ihm hinterher, bis sich seine türkisfarbene Jacke im Nieselgrau verlor.