Kapitel 3

Eine Minute Schweigen am Tresen des Kioskes.

„Zimtzicke“, murmelte Lianne dann. „So hat mich seit hundert Jahren niemand mehr genannt.“

Britt kicherte.

„Ole ist von vorgestern“, meinte sie. „Wenn Sie ihn hören, denken Sie, 1985 ist nie vergangen.“

„1985.“ Die Frau verzog das Gesicht. „Ach je. Das waren Zeiten. Da war ich so jung, das kann gar nicht wahr gewesen sein.“

„Wie jung denn?“, rutschte es Britt heraus. Sie hatte nicht fragen wollen, aber ihre schlagfertige Kundin machte sie neugierig.

„Entschuldigung, das geht mich nichts an“, fügte sie schnell hinzu.

„Ist schon gut.“ Die Frau betrachtete sie nachdenklich. „Was meinen Sie: Wie alt bin ich?“

Britt räusperte sich verlegen. Wie grässlich, das Alter anderer Menschen zu schätzen. Man lag doch immer falsch, in neun von zehn Fällen war das Gegenüber gekränkt.

„Schätzen Sie, aber bitte ehrlich“, forderte die Frau.

Britt überlegte. Ehrlich geschätzt: Die Frau war Mitte bis Ende 50. Aber das würde sie ihr nicht sagen, denn diese Form von Ehrlichkeit kam nie gut an.

„Vielleicht Anfang 50?“, meinte Britt zögerlich. Hatte sie der Frau jetzt einen Gefallen erwiesen?

Doch diese verzog das Gesicht.

„Das heißt: In Ihren Augen sehe ich wie 55 plus aus, oder?“, fragte sie zurück.

Britt lächelte unsicher. „Ich hab’s nicht böse gemeint. Sie haben doch gesagt, dass ich schätzen soll, und darin bin ich einfach nicht gut.“

„Ach, ich finde, Sie sind sehr gut“, gab die Frau zurück und reichte ihre Tasse über den Tresen. „Haben Sie noch einen für mich?“

„Klar.“ Erleichtert drehte sich Britt zum Kaffeeautomaten um.

„Wieder ohne Sahne, richtig?“ Sie reichte einen zweiten Becher Kakao nach draußen.

„Richtig.“ Die Frau nahm den Becher. „Ich bin 45“, erklärte sie unvermittelt. „Merkt man nicht, oder?“

Britt schluckte. Wie unangenehm. Die Frau wirkte nett, zugleich einsam und traurig, und Britt hatte sie vermutlich vor den Kopf gestoßen.

„Ist auch kein Wunder“, fuhr die Frau fort. „Wer so mit sich umgeht, wie ich es getan habe, der sieht eben zehn Jahre älter aus, als er ist. Als sie ist, in diesem Fall.“

Wieder trank die Kundin von ihrem Kakao.

„Zigaretten, Alkohol“, zählte sie emotionslos auf, als hielte sie ein Referat vor rein faktenorientierten Zuhörern. „Jede Menge Essen und zum Ausgleich null Sport. Dafür Stress und Ärger und ständig schlechte Laune. Grauenhaft. Aber man gerät so hinein in das alles, und irgendwann merkt man gar nicht mehr, was man da macht.“

Britt schwieg. Was sollte sie dazu sagen? Es kam öfter vor, dass Kunden ihr Herz ausschütteten – gerade, wenn wenig los war, kam sich Britt vor wie ein Barkeeper, dem die Leute nach dem fünften Drink ihre Geheimnisse anvertrauten. Normalerweise hörte sie sich Klagen und Beichten höflich an und vergaß sie auf dem Heimweg wieder. Aber diese Frau hatte etwas an sich, das Britt interessierte.

„Lianne“, sagte die Frau. „Ich meine, das ist mein Vorname. Lianne, Lianne Paulsen.“ Sie reichte Britt ihre Hand.

„Britt. Britt Peters“, strahlte die Kioskbesitzerin zurück und ergriff die dargebotene Hand. „Freut mich. Heißt das, dass wir uns jetzt duzen?“

Britt hatte einen festen Händedruck, was Lianne auch erwartet hatte. Die schmale, blonde Frau hatte in der kurzen Zeit, die Lianne am Kiosk verbracht hatte, einen bodenständigen Eindruck hinterlassen. Kurze Haare, schräge graue Augen, klar geschnittenes Gesicht, fröhliches, manchmal spöttisches Lächeln. Flink wirkte sie, diese Britt, und zugleich ruhig und ausgeglichen. Lianne hatte sich dabei ertappt, wie sie die Kioskverkäuferin insgeheim beneidete, um etwas beneidete, das sie, Lianne, nicht genau benennen konnte.

Freundlich war Britt auf jeden Fall, und überhaupt tat Lianne der Zwischenstopp am Kiosk gut. Kakao und kalte Luft vertrieben endlich die Restnachwirkungen des Katers, den sie sich vor drei Tagen eingefangen hatte. Zweieinhalb Flaschen Rotwein, diverse Einheiten Kräuterlikör, wiederholter Verstoß gegen das Rauchverbot in der Ferienwohnung. Selbstmitleidig, auf dem Wohnzimmerboden sitzend, Leonhard Cohen aus dem Bluetooth-Lautsprecher in Dauerschleife. Zwischendurch heulend, selbstverständlich, dann wieder wütend. Irgendwann war sie vollkommen betrunken ins Bett gefallen.

Eine bemerkenswerte Menge Alkohol, selbst für Liannes Gewohnheiten. Die Folgen ließen nicht auf sich warten. Am nächsten Tag ging es ihr dermaßen schlecht, dass sie sich kaum erheben konnte und tiefe Dankbarkeit dafür verspürte, dass sie beim hektischen Raubzug durch den Supermarkt – besagter Rotwein, besagter Kräuterlikör, an der Kasse die beiden Schachteln Zigaretten – auch Knäckebrot und zwei Flaschen Wasser in den Einkaufswagen geworfen hatte. Notverpflegung, mit der sie sich mühsam am Leben hielt, und mit einer sorgsam über den Tag verteilten Ration Kopfschmerztabletten.

Der Tag nach dem Tag danach: etwas besser, aber nicht sehr. Immerhin hatte Lianne es geschafft, die Kartons, die sie bei ihrem überstürzten Aufbruch hastig gefüllt hatte, und die Koffer aus dem Transporter in die Wohnung zu schleppen. Danach war ihr schwindelig, sie musste sich übergeben, wobei sie sich endgültig fühlte wie ein verkommenes Wrack.

Undenkbar, den Transporter selbst zur Annahmestation in Lübeck zu fahren. Also ein längeres Telefonat mit dem Stationsleiter, Zustimmung zu einer deutlich erhöhten Rechnung, dann wurde ein Mitarbeiter der Autovermietung nach Timmendorf gebracht, um von dort den Transporter in die Stadt zu kutschieren.

Lianne hatte sich anschließend in den Supermarkt gekämpft, wie unter einer Glasglocke und – mitten im norddeutschen Flachland – mit Bergauf-Gefühl in den Beinen, um sich für das einzudecken, was nach Kopfschmerzen die nächste unausweichliche Folge eines Lianne-Paulsen-Besäufnisses war: der Fressanfall. Fertigpizza, Chips, Käsescheiben direkt aus der Packung, Mini-Salamis, Weingummi, Schokolade. Sie hatte gestern etwa 20.000 Kalorien in sich hineingeschaufelt.

Einschlafen mit Magendruck und einem erneuten Gefühl von Übelkeit. Heute immer noch leichte Nachwehen, ein unbestimmtes, vertrautes Ziehen im Körper und pappiger Geschmack im Mund. Wie ungerecht, dass Lianne derart lange für einen mittelschweren Exzess bestraft wurde, der sich ja immerhin diskret nur in „ihrer“ Wohnung abgespielt und verhältnismäßig wenig Geld gekostet hatte – und der ihr doch außerdem zustand, ihr Mann hatte sie verlassen!

Das Schlimmste am Kater, das wusste Lianne – auch wenn sie es verdrängte, so lange die Gläser gefüllt waren – waren jedoch nicht Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schwindel und Fressanfall. Das Schlimmste war die Angst.

Sie kam seit Jahren, nach jedem Absturz, nach jedem berühmten Glas zu viel. Ein dunkles Gefühl, gespeist einerseits aus dem Bewusstsein völligen Versagens und zerstörter Selbstachtung und andererseits aus der nackten, überwältigenden Panik, gleich zu sterben. Lianne kannte die Angst inzwischen gut, wusste um deren Zuverlässigkeit, dennoch versprach ein dummes, verlogenes Stimmchen immer wieder, es würde nicht so schlimm werden und sie hatte es sich doch verdient, und fast alle tranken ab und an zu viel.

Dann die Frage, ob sie noch Trinkerin oder schon Alkoholikerin war, gepaart mit dem fehlenden Ehrgeiz, eine ehrliche Antwort darauf zu finden, obwohl das wahrscheinlich auch nur Angst war.

Kalte Luft und Nieselregen, Kakao und eine freundliche Kioskverkäuferin: Der heutige Nachmittag fühlte sich gar nicht schlecht an.

„Nehmen Sie – nimm Ole seinen Auftritt nicht übel“, unterbrach Britt Liannes Gedanken.

„Ach das.“ Lianne machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das war doch nichts.“

„Nein.“ Britt schüttelte den Kopf. „Das klingt jetzt blöd, aber eigentlich ist Ole sehr nett. Etwas ungeschickt eben. Er eckt generell oft an.“

„Dachte ich mir“, gab Lianne zurück. „Auch wenn ich mich hier nicht gut auskenne, ich habe doch den Eindruck, dass er nicht nach Timmendorf passt.“

„Du meinst in die Schicki-Micki-Szene?“ Britt zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Zu der passt ja kaum jemand. Auch die meisten Urlauber übrigens nicht, die Mehrheit ist ganz normal – Familien, Pärchen, Silver-Ager, das Übliche. Aber es stimmt, Ole gehört hier nicht hin. Er ist eher, wie soll ich sagen … alternativ, aus der Zeit gefallen, wie die Ökos früher.“

„Öko.“ Lianne lachte. „Den Ausdruck habe ich ewig nicht mehr gehört. Aber dazu passt sein Outfit nicht – wenigstens einen Jutebeutel müsste er tragen.“

„Ole sieht ärmlich aus, ja. Aber es ging ihm mal wesentlich besser“, berichtete Britt. „Ich meine, er hatte einen guten Job, war Oberstudienrat, verbeamtet. Dann Burnout, und dann ist er ausgestiegen. Er betreibt eine Art Biohof in Groß Timmendorf.“

„Es gibt auch ein großes Timmendorf? Ich dachte, das hier wäre das große, sozusagen.“

Jetzt lachte Britt.

„Groß Timmendorf ist eine Ortschaft der Gemeinde Timmendorfer Strand“, erklärte sie mit dem Gesichtsausdruck einer engagierten Dozentin für Neuere Geschichte. „Diese Gemeinde besteht aus Timmendorfer Strand und Niendorf sowie aus Groß Timmendorf und Hemmelsdorf.“

„Aha. War das schon immer so?“

„Nein.“ Britt schüttelte den Kopf. „Dieser Zuschnitt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegt, durch die damalige britische Militärregierung. Vorher gehörte Timmendorf zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein.“

„Du weißt wirklich eine Menge über deinen Heimatort“, merkte Lianne anerkennend an.

„Ja. 8700 Einwohner, ungefähr, gut 2000 Hektar Fläche. Noch Fragen?“ Britt lächelte.

„Also in Groß Timmendorf ist dieser Ole Biobauer?“, hakte Lianne nach.

„Na ja, so halb. Er ist nicht zertifiziert, glaube ich. Er versucht, sich mit Obstbäumen und Gemüseanbau und einigermaßen artgerechter Tierhaltung über Wasser zu halten. Er hat Hühner und Schweine. Aber es kommt nicht viel dabei herum.“

„Kann ich mir denken.“ Lianne nickte. „Aber warum versucht er es auch ausgerechnet hier? Die Gegend ist ja nicht gerade ein Mekka für den alternativen Lebensstil.“

„Irgendetwas hält ihn hier fest“, meinte Britt. „Ich kann es auch nicht erklären. Zumal er ständig gegen den Luxus und reiche Leute wettert.“

„Damit dürfte er in Timmendorf viel zu tun haben.“

„Geht so.“ Britt nickte. „Natürlich ist das hier nicht die Côte d’Azur, und wer meint, dass Timmendorf vor reichen Promis in dicken Autos nur so platzt, wird enttäuscht sein. Aber hier ist das Geld, keine Frage, oder vielmehr: Hier sind Leute, die es haben. Die kann Ole nicht ausstehen. Er schwärzt sie auch ständig beim Ordnungsamt an – wenn ein teurer Wagen falsch geparkt ist zum Beispiel, oder wenn er glaubt, dass jemand illegal ein Carport gebaut hat, solche Dinge. Es ist, als würde er am Rand stehen, zugucken und sich ärgern wie ein Aussortierter.“

Britt verstummte. Was tratschte sie hier herum? Das war nicht ihre Art. Wie kam sie dazu, einer Wildfremden all diese Details über einen zwar penetranten, aber auch netten Stammkunden aufzutischen? Doch es war schön, einfach mal mit einer Frau zu tratschen. Die guten Freundinnen von früher hatten nach der Schule den Ort eine nach der anderen verlassen. Zu Hause warteten ausschließlich Männer beziehungsweise Jungen auf sie: ihr Mann Meeno, mit dem sie den Kiosk betrieb, der aber derzeit vollauf mit seinem Hauptjob als technischer Mitarbeiter beim Timmendorfer Bauhof beschäftigt war, und ihre Söhne – der siebzehnjährige Bosse und Rasmus, dreizehn Jahre alt. Allesamt liebenswert und toll und Britts Familie – aber manchmal hing für ihren Geschmack zu viel Testosteron in der Luft.

„Aussortiert zu werden ist nicht leicht zu verkraften“, eröffnete ihr Lianne überraschend. „Da kann man schon bitter werden.“

„Vermutlich“, stimmte Britt vorsichtig zu. „Wie meinst du das?“

„Oh, das kannst du dir sicher denken“, führte Lianne aus. „Oder findest du nicht, dass ich aussortiert aussehe?“

„Du? Aussortiert?“ Britt starrte Lianne ratlos an. „Nein, finde ich nicht. Vielleicht müde. Gestresst. Abgekämpft. Aber aussortiert – nein.“

„Danke“, antwortete Lianne trocken. „Bin ich aber. Ganz frisch aussortiert, sozusagen. Von meinem Mann. Oder muss ich sagen: von meinem zukünftigen Ex-Mann? Ab wann sagt man das eigentlich – beziehungsweise sagt man das überhaupt?“

„Weiß ich nicht.“ Achselzucken. „Die meisten geschiedenen Frauen, die ich kenne, sagen Ex-Arsch. Oh, Entschuldigung.“

Britt schlug sich eine Hand auf den Mund. Aber Lianne lachte nur.

„Ex-Arsch“, sinnierte sie. „Wenig originell, noch dazu unpräzise und widersprüchlich, wenn ich das mal bewerten darf. Ich hoffe, mir fällt etwas Besseres ein.“

„Bestimmt.“

Die beiden Frauen betrachteten schweigend das Teehaus über der spiegelglatt daliegenden, trüben Ostsee. Das weiße Dach schimmerte durch den Regenschleier. Kein Mensch mehr auf der Seeschlösschen-Brücke, unwirkliches Grau in Grau, im roten Rahmen am Brückenfuß das Asia-Schild, leicht hin und her schwankend.

„Wie lange ist es denn her?“, durchbrach Britt die Stille. „Ich meine, dass du …“

„Dass ich aussortiert wurde?“, ergänzte Lianne un­gerührt. „Tja, wann es tatsächlich war, ich meine, aus Sicht meines Mannes, das weiß ich nicht, er hat es mir ja nicht sofort erzählt. Ich habe es vor sechs Tagen erfahren.“

„Ah.“ Britt versuchte, ein verständnisvolles Gesicht zu machen. Ihr fiel keine passende Antwort ein, musste es auch nicht, denn Lianne erzählte weiter.

„Er hat mich abends in der Küche informiert, als wir zusammen am Tisch saßen. Eigentlich war es eher un­spektakulär, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Also seine Ansprache war unspektakulär. Ich bin danach abgehauen.“

Ungefragt stellte Britt einen weiteren Becher Kakao vor Lianne auf den Tresen.

„Der Klassiker“, fuhr Lianne fort. „Viel gearbeitet, auseinandergelebt, jetzt hat er eine Jüngere. Ich teile ein Millionenschicksal.“

„Das macht es nicht besser.“

„Nicht?“ Lianne seufzte. „Ach, ich finde schon. Ist doch tröstlich zu wissen, dass es vielen Frauen so geht, oder? Wahrscheinlich gibt es einen Haufen Selbsthilfegruppen für solche wie mich. Ü-40, Reste-Rampe, etwas in der Art.“ Sie lachte wieder.

„Reste-Rampe!“ Britt hob empört die Stimme und sah plötzlich aus wie ein in seiner Berufsehre auf Äußerste geforderter Persönlichkeitscoach. „So sollten Sie … so solltest du nicht denken, das ist ja schrecklich.“

„Das ist realistisch, meine Liebe – und die Realität ist eben oft schrecklich. Jedenfalls wenn man Angst hat, ihr ins Gesicht zu sehen. Wenn man es allerdings tut, soll sie ja nach einer Weile ihren Schrecken verlieren, heißt es.“

„Hm.“ Wieder wusste Britt nicht, was sie sagen sollte. „Machst du das?“, erkundigte sie sich schließlich. „Der Realität ins Gesicht sehen?“

„Früher habe ich es wohl getan.“ Lianne nahm einen Schluck Kakao. „Aber ich habe leider irgendwann damit aufgehört. War zu unbequem. Das rächt sich. Deshalb werde ich wieder damit anfangen.“

„In Timmendorf?“

„Warum nicht?“, fragte Lianne. „Mir ist auf die Schnelle nichts anderes eingefallen, als ich die Flucht vor dem neuen Glück meines lieben Gatten, Verzeihung, künftigen Ex-Gatten, angetreten habe. Und jetzt bin ich hier.“

„Du hast einfach einen Koffer gepackt und bist los?“

Das würde Britt vermutlich nie wagen. Sie hatte allerdings auch keinen Grund dafür.

„Nein, nein, ich bin ja keine 20 mehr. Etwas mehr Komfort und Polster dürfen es sein.“

Lianne berichtete, wie sie eine beachtliche Summe in bar vom gemeinsamen Konto geräumt sowie den Transporter gemietet und befüllt hatte.

„Dann habe ich mich bei der Arbeit krank gemeldet, ganz korrekt, das sitzt drin“, schloss Lianne ihre Erzählung. Den Absturz der vergangenen Tage musste sie der sympathischen, unbescholten wirkenden Britt nicht auf die Nase binden.

„Was sagt denn deine Familie dazu?“ Britt dachte an ihren Mann und ihre Söhne, ihre Eltern und ihre Brüder. Alle würden sich schreckliche Sorgen um sie machen.

„Ich habe keine“, erwiderte Lianne trocken. „Bin ein spätes Einzelkind, meine Eltern waren schon über 40, als sie mich bekamen. Sie sind vor einigen Jahren gestorben, und ansonsten habe ich nur entfernte Verwandte, die gern weiterhin entfernt bleiben können.“

„Aber was machst du jetzt?“, fragte Britt.

„Keine Ahnung.“ Lianne spürte, wie sich diese Worte in ihr ausbreiteten. Keine Ahnung. Absolut. Lianne Paulsen hatte, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, keine Ahnung, was sie machen sollte. Das aber war nicht das Überraschende an ihrer Lage. Das Überraschende: Es störte sie nicht. Sie stand mit einem leeren Becher an einem Kiosk im Nieselregen, hatte keine Ahnung, und es störte sie nicht. Das gibt es nur in Timmendorf, dachte Lianne. Oder?

„Und deine Arbeit?“

„Die erwarten mich am Montag zurück“, erklärte Lianne. „Aber ich werde nicht erscheinen.“

„Das gibt bestimmt Ärger“, meinte Britt.

„Hundertprozentig. Jede Menge Ärger. Aber es ist mir egal.“

„Aber was willst du tun – hier, in Timmendorf?“ Britt wirkte verwirrt.

„Keine Ahnung“, wiederholte Lianne. „Hier am Kiosk stehen und Kakao trinken. Ist für den Anfang nicht schlecht.“

Sie kramte in ihrer zeltartigen Jacke, zog ihr Portemonnaie heraus und legte einen Zehneuroschein auf den Tresen.

„Danke für die Getränke. Und fürs Zuhören. Ich hoffe, ich habe dich nicht allzu sehr vollgejammert.“

„Nein, gar nicht. Schön, dass du hier warst.“

„Wird nicht das letzte Mal gewesen sein.“ Lianne drehte sich um und marschierte los, als gelte es, noch an diesem Abend die Stadtgrenze von Hamburg zu Fuß zu erreichen.

„Wiedersehen!“, rief sie über die Schulter zurück.

„Wiedersehen!“, rief Britt. „Im Februar ist immer samstags und sonntags geöffnet, von 13 bis 18 Uhr!“

Lianne reckte einen Daumen in die Luft. Dann verschwand ihre Silhouette im Regen.

Britt atmete tief durch. Ein überraschender Besuch, der Nachmittag war schneller vergangen, als wenn sie sich in ihren Heftroman mit Goldrand vertieft hätte. Hoffentlich kam diese Lianne wieder.