Meine neue Assistentin Martha ist schon seit einer Ewigkeit bei Dreamland tätig und hat für alle Direktoren des Unterhaltungsparks gearbeitet, auch für meinen Großvater. Die Umstellung, die mein Einstieg für sie bedeutet haben muss, hat sie gelassen gemeistert. Dass sie alles über jeden weiß, ist ein Bonus, und so habe auch ich meinen Umzug nach Florida entspannt über die Bühne gebracht.
Von Martha weiß ich, wo ich die meisten Angestellten von Dreamland an einem Ort antreffen kann, um mich offiziell vorzustellen. Da ich als Erster zum morgendlichen Meeting eintreffe, kann ich meinen bevorzugten Platz ganz hinten im Vortragssaal einnehmen, wo das Licht der Neonlampen nicht hingelangt und ich wie erwünscht in Dunkelheit gehüllt bin. Abseits von den neugierigen Blicken werde ich beobachten können, wie die Gruppe interagiert und wie die Führungskräfte Probleme angehen.
Zehn Minuten vor Beginn des Meetings kommen alle hereingeströmt und füllen die zahllosen Sitzreihen. Ich weiß nicht, welche Art von Energie ich ausstrahle, aber die Angestellten meiden die letzte Reihe und füllen die Plätze vorn und in der Mitte. Nur eine Person setzt sich auf den Stuhl vor mir. Der ältere Herr starrt mich an, als wäre es eine Unannehmlichkeit für ihn, dass ich in seinem Territorium Platz genommen habe, aber ich beachte ihn nicht.
Die Scheinwerfer vorn im Saal sind auf Joyce gerichtet, Managerin und Dreamland-Mutter. Sie hat einen Helm aus weißem Haar und blaue Augen, mit denen sie sich im ganzen Raum umsieht wie ein Drill Instructor. Ich weiß nicht, wie sie mich entdeckt hat, aber ihr Blick landet auf mir, und sie nickt mit zusammengepressten Lippen.
Joyce tippt auf ihr Klemmbrett. »Alles klar, Leute. Dann fangen wir mal an. Wir haben viel zu besprechen, bevor der erste Gast eintrifft, und wenig Zeit.« Sie erklärt die Tagesordnungspunkte und arbeitet selbstsicher zahllose Fragen ab. Während sie den Zeitplan für Juli mit seinen Paraden, Festivals und berühmten Besuchern durchgeht, holt sie kaum Luft.
Plötzlich wird die Tür hinter mir knarrend geöffnet.
Ich drehe mich um und schaue über die Schulter.
Eine jüngere brünette Frau huscht durch den kleinen Spalt herein, bevor sie leise die Tür hinter sich schließt.
Ich blicke auf meine Uhr. Wer ist sie, und warum kommt sie zwanzig Minuten zu spät?
Sie hat sich ein neonpinkes Skateboard unter den Arm geklemmt und sucht mit ihrem Blick den vollen Saal ab.
Ich nutze ihre Ablenkung aus, indem ich sie genau betrachte. Sie ist so schön, dass ich Schwierigkeiten habe, meine Aufmerksamkeit wieder auf die Unterhaltung vorn im Raum zu lenken. Es missfällt mir, und dennoch kann ich den Blick nicht abwenden. Ich lasse meine Augen über die Kurven ihres Körpers wandern, von ihrem feinen Hals bis zu ihren trainierten Oberschenkeln. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich balle meine Hände zu Fäusten und ärgere mich darüber, dass ich keine Kontrolle über meinen Körper habe.
Reiß dich zusammen.
Ich atme ein paarmal tief durch, um meinen Herzschlag zu beruhigen.
Eine dunkle Locke fällt ihr vor die Augen. Sie streicht sie sich hinters Ohr, das mit goldenen Piercings geschmückt ist. Als würde sie meinen Blick spüren, schaut sie mich an – oder besser gesagt den leeren Platz neben mir. Sie tritt aus dem erleuchteten Türrahmen und kommt auf den dunklen Gang neben den Sitzreihen zu. Sie betrachtet die Stühle, als würde sie überlegen, wie sie mit so wenig Körperkontakt wie möglich auf den Platz neben mir gelangen kann.
»Hi. Entschuldigung.« Ihre Stimme ist weich und klingt, als käme sie nicht aus Florida. Dann atmet sie tief durch und schiebt sich Zentimeter für Zentimeter in meine Komfortzone.
Ich sage kein Wort, während ich mich an den Armlehnen festklammere, und erhasche einen guten Blick auf ihre Rückseite, die in ihrem legeren, aus Jeans und T-Shirt bestehenden Outfit gut zur Geltung kommt.
Es gibt einen Grund, warum Arbeitskleidung auf dem Firmengelände Pflicht ist, und diesen Grund starre ich gerade an. Mein Nacken wird heiß, und die Armlehnen ächzen unter dem Druck meiner Hände. Ihr Parfüm steigt mir in die Nase. Meine Augenlider schließen sich automatisch unter dem betörenden Duft – eine Mischung aus Blumen, Zitrusfrüchten und etwas, das ich nicht recht einordnen kann.
Sie quetscht sich mit der Eleganz einer neugeborenen Giraffe an meinen langen Beinen vorbei.
Da ich will, dass es schnell vorbeigeht, verschaffe ich ihr mehr Platz, indem ich mich aufsetze.
Mit meiner plötzlichen Bewegung bewirke ich allerdings nur, dass sie über meine Füße stolpert. Mit einer Hand hält sie sich an mir fest, um die Balance wiederzufinden, und verfehlt dabei meine intimste Stelle nur um wenige Zentimeter.
Ein Stromstoß schießt durch mein Bein, geradewegs in meinen Schritt.
Mist! Seit wann schafft es denn eine Berührung, so eine Reaktion in mir hervorzurufen?
Sie schaut mich mit großen Augen an, sodass ihre dichten Wimpern und ihre braunen Augen zur Geltung kommen. Ein paarmal blinzelt sie und beweist damit, dass sie zumindest grundlegende kognitive Funktionen besitzt. »Das tut mir schrecklich leid.« Ihre Lippen öffnen sich vor Schreck, als sie auf ihre Hand in meinem Schoß hinabblickt. Sie schnappt nach Luft und reißt die Hand von meinem Oberschenkel, wobei sie ihre Wärme und das merkwürdige Gefühl mitnimmt.
Der ältere Mitarbeiter schaut über die Schulter. »Würdest du dich wohl bitte endlich hinsetzen? Bei dem Lärm, den du immer machst, kann man kaum etwas verstehen.«
Den du immer machst? Gut zu wissen, dass dies ein Verhaltensmuster ist.
»Sicher. Ja«, stottert sie.
Dass sie in der Lage ist, ohne einen weiteren Unfall neben mir auf den Stuhl zu rutschen, betrachte ich als Wunder. Sie lässt ihren laut klimpernden Rucksack auf den Boden fallen, was für eine weitere Ablenkung sorgt. Metall rasselt und stößt aneinander, als sie sich nach unten beugt und den Reißverschluss öffnet.
Ich schließe die Augen und atme durch die Nase, um den dumpfen Schmerz zu vertreiben, der in meinen Schläfen pulsiert. Doch mit jedem Atemzug inhaliere ich nur noch mehr von ihrem Parfüm, sodass es unmöglich ist, sie auszublenden.
Während sie etwas in ihrem Rucksack sucht, streift sie mit dem Arm mein Bein. Ein ähnlicher Blitz wie zuvor schießt bei dieser Berührung an meiner Wirbelsäule hinab wie eine Hitzewelle, die irgendwo hinwill.
Überall, nur nicht dorthin, verdammt!
»Geht es etwas schneller?«, presse ich hervor.
»Sorry!« Sie wirkt beschämt, als sie endlich ihr Notizbuch hervorholt und sich abrupt hinsetzt. Das Skateboard rutscht ihr vom Schoß und kracht auf meine zweitausend Dollar teuren Schuhe.
Die Dinger wurden nicht grundlos vor Jahrzehnten im Park verboten. Ich trete die Schmuggelware weg und ausgerechnet vor die Knöchel des Mannes, der sie zurechtgewiesen hat.
»Komm schon, Zahra.« Der Mann dreht den Kopf nach hinten und wirft ihr einen vernichtenden Blick zu.
Zahra.
»Sorry, Ralph«, murmelt sie.
»Hör auf, dich zu entschuldigen, und fang an, pünktlich zu kommen.«
Ich kämpfe gegen den Drang an zu schmunzeln. Es gibt nichts, was ich mehr genieße, als wenn Leute für ihre Dummheiten zurechtgewiesen werden.
Sie beugt sich vor und legt dem Mann eine schlanke Hand auf die Schulter. »Kann ich es vielleicht mit frischem Brot wiedergutmachen, das Claire und ich gestern Abend gebacken haben?«
Brot? Bietet sie dem Mann tatsächlich Essen an, nachdem er wütend auf sie geworden ist?
Ralph zuckt mit den Schultern. »Wenn du auch noch ein paar Kekse springen lässt, werde ich mich bei Joyce nicht darüber beschweren, dass du schon wieder zu spät gekommen bist.«
Ich blinzele und betrachte schockiert den grantigen Mann mit den grauen Haaren.
»Ich wusste, dass du mich doch ein bisschen magst. Die Leute sagen, du seist gemein, aber ich glaube ihnen kein Wort.« Sie stößt ihn auf eine vertraute Art an der Schulter an.
Ich erkenne ihren Plan. Irgendwie hat sie es geschafft, den alten Ralph um den Finger zu wickeln, mit nichts als einem Lächeln und der Aussicht auf Backwaren.
Diese Frau ist gefährlich – wie eine Landmine, die man nicht sieht, ehe es zu spät ist.
Zahra nimmt ein Päckchen aus ihrem Rucksack und lässt es in Ralphs wartende Hände fallen.
Ralph grinst, sodass ein abgebrochener Schneidezahn zum Vorschein kommt. »Verrate niemandem unser Geheimnis. Ich könnte die Konsequenzen nicht ertragen.«
»Natürlich nicht. Das würde ich nie wagen.« Sie stößt ein leises Lachen aus, das in meiner Brust vibriert, als hätte darin jemand mit einem Vorschlaghammer auf einen Gong geschlagen.
Wärme breitet sich in meinem Körper aus, was mir eine Heidenangst einjagt.
Ihre weißen Zähne leuchten in der Dunkelheit, als sie Ralph ein strahlendes Lächeln schenkt. Irgendetwas in ihrem Blick lässt mein Herz rasen. Schön. Sorglos. Unschuldig. Als sei sie tatsächlich glücklich mit ihrem Leben, statt wie wir anderen nur so zu tun.
Meine Zähne schlagen zusammen, als ich verärgert den Atem ausstoße. »Sind Sie fertig? Hier gibt es auch Leute, die zuhören wollen.«
Das Weiße in Ralphs Augen wird groß, bevor er sich wieder umdreht und Zahra sich selbst überlässt.
»Tut mir leid«, flüstert sie.
Ich ignoriere ihre Entschuldigung und konzentriere mich wieder auf Joyce.
»Es wird im Vorstand ein paar große Veränderungen geben, die wir im Laufe der nächsten Woche besprechen. Sie werden dieses Quartal ein besonderes Auge auf uns haben.«
»Großartig. Das hat uns gerade noch gefehlt«, murmelt Zahra leise, während sie etwas in ihr Notizbuch kritzelt.
»Haben Sie ein Problem mit dem Firmenvorstand?« Ich weiß selbst nicht recht, was ich hören will oder warum es mich überhaupt interessiert.
Sie lacht in sich hinein, und ein weiteres merkwürdiges Gefühl macht sich in meiner Brust breit. »Die Frage ist, wer hat kein Problem mit dem Vorstand?«
»Warum?«
»Weil der Vorstand der Kane Company aus lauter alten Männern besteht, die rumsitzen und sich darüber unterhalten, wie viel Geld sie verdient haben, ohne die wirklich wichtigen Themen zu besprechen.«
»Und Sie sind Expertin auf dem Gebiet der Vorstands-Meetings?«
»Man muss kein Genie sein, um Rückschlüsse daraus zu ziehen, wie sie uns hier behandeln.«
»Wie behandelt man Sie denn?«
»Als wären wir nicht wichtig, solange wir dafür sorgen, dass sie jährlich Milliarden von Dollar verdienen.«
Falls sie meinen bösen Blick bemerkt, scheint er ihr nichts auszumachen. »Werden Angestellte nicht bezahlt, damit sie sich nicht beschweren?«
Sie schenkt mir ein Lächeln. »Tut mir leid, aber da muss die Firma noch was drauflegen, und da die meisten von uns nur den Mindestlohn verdienen, gehört es nicht zum Vertrag, die Klappe zu halten.« Sie klingt leichtherzig, was mich nur noch mehr ärgert.
»Das sollte es aber, und wenn es nur ist, um Sie davon abzuhalten, noch weitere ignorante Bemerkungen zu machen.«
Sie saugt die Luft ein und richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr Notizbuch, wodurch ich endlich die Ruhe bekomme, die ich mir wünsche.
»Das kommende Quartal wird anders als das letzte.«
Joyce’ Augen beginnen zu leuchten.
Ein paar Angestellte murren leise.
»Ach, kommt schon. Es ist die Wahrheit.«
Zahra stößt einen Laut aus, der tief aus ihrer Kehle kommt. Sie macht sich wieder Notizen, aber ich kann die Wörter in der Dunkelheit nicht entziffern.
»Sie glauben ihr nicht?« Was zur Hölle machst du hier, Junge? Sie hält endlich den Mund, und jetzt stellst du ihr Fragen?
Sie wendet sich mir abrupt zu, aber ich kann ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. »Weil nichts Gutes geschehen kann, jetzt wo Brady wirklich fort ist.« Ihre Stimme bricht.
Ich beiße die Zähne zusammen. Was bildet sie sich ein, meinen Großvater Brady zu nennen? Es ist beleidigend. »Der Park war im letzten Jahr erfolgreicher als jemals zuvor, daher ist Ihre Behauptung haltlos.«
Sie wippt auf nervtötende Art mit dem Knie. »Es geht nicht immer nur um Profit. Klar, der Park war erfolgreicher, aber zu welchem Preis? Niedrige Gehälter? Schlechtere Krankenversicherungen für Angestellte und unbezahlte Urlaubstage?«
Falls sie versucht, an meine Menschlichkeit zu appellieren, ist es vergeblich. Menschen in meiner Position führen nicht mit dem Herzen, weil wir mit so etwas Lächerlichem niemals zufrieden wären. Wir haben nicht vor, die Welt zu verbessern.
Wir haben vor, die Welt zu erobern.
Ich ändere meine Sitzposition und schaue sie an. »Sie klingen wie jemand, der keine Ahnung davon hat, wie man ein milliardenschweres Unternehmen führt. Nicht, dass mich das überrascht. Schließlich arbeiten Sie hier.«
Sie streckt die Hand aus und kneift mir in den Arm. Ihre kleinen Finger haben nicht genügend Kraft, um wirklichen Schaden anzurichten.
»Was zur Hölle war das denn?«, versetze ich.
»Ich wollte testen, ob das ein Albtraum ist. Aber leider ist diese katastrophale Unterhaltung real.«
»Wenn Sie mich noch einmal anrühren, werde ich Sie auf der Stelle feuern lassen.«
Sie erstarrt. »Aus welcher Abteilung haben Sie gesagt, kommen Sie?«
»Ich habe es nicht gesagt.«
Sie schlägt sich an die Stirn und wechselt in eine Sprache, die ich nicht verstehe.
»Und in welcher Abteilung arbeiten Sie ?«
Sie setzt sich aufrechter hin und schenkt mir ein Grinsen, als hätte ich ihr nicht soeben mit Kündigung gedroht.
Bizarr.
»Ich bin Kosmetikerin im Salon Zauberstab. «
»Super. Dann machen Sie wenigstens nichts Wichtiges, es wird Sie also keiner vermissen.«
Ihr Stuhl knarrt, als sie sich darauf windet. »Gott, Sie sind so ein Arschloch.«
Joyce hätte sich keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können, um mich vorzustellen. Sie sagt meinen Namen, und alle Köpfe wenden sich unserer kleinen dunklen Ecke zu.
Ich erhebe mich von meinem Platz und schaue Zahra mit hochgezogener Augenbraue an.
Sie lässt den Kopf hängen, und ihre Brust bebt.
Vor Lachen? Was zur Hölle? Sie sollte sich entschuldigen und darum betteln, ihren Job behalten zu dürfen.
Joyce ruft erneut meinen Namen, und ich drehe den Kopf abrupt Richtung Bühne. Dann wende ich mich der Menschenmenge zu und entferne mich von Zahra. Ich muss mich nur auf eine Sache konzentrieren, und mein Ziel hat nichts mit einer Frau zu tun, die es gewagt hat, mich als Arschloch zu bezeichnen und auch noch darüber lacht.