KAPITEL DREI

Zahra

Ich schlage die Tür meines Schließfaches zu.

»Worüber regst du dich denn so auf?« Claire nimmt auf der Bank mir gegenüber Platz und zieht ihre flachen Schuhe an. Ihr dunkles schulterlanges Haar fällt ihr ins Gesicht, und sie streicht es nach hinten.

»Ich hab heute Morgen im Meeting den größten Idioten aller Zeiten kennengelernt. Und du wirst nicht glauben, wer es war.«

»Wer?«

»Rowan Kane.«

»Ist nicht dein Ernst!« Die braunen Augen meiner Mitbewohnerin weiten sich.

Ein paar Köpfe drehen sich in unsere Richtung. Mrs. Jeffries tastet suchend nach ihrer Kette mit dem Kreuz, während sie uns anstarrt.

»Claire.« Ich ächze.

»Er gehört sozusagen zur Dreamland-Königsfamilie. Du musst mir meinen Schock nachsehen.«

»Vertrau mir. Einige Dinge überlässt man lieber der Fantasie.«

Und all die niedlichen Geschichten, die Brady über seinen jüngsten Enkelsohn erzählt hat, waren tatsächlich nichts weiter als Fantasie. Rowan hat sich einen Ruf als rücksichtsloser Geschäftsmann gemacht, der dafür bekannt ist, in seinen Mitmenschen dasselbe Maß an Freude hervorzurufen wie es das Einschläfern von Tieren mit sich bringt. Zum ersten Mal ist er aufgefallen, als er die entscheidende Stimme gegen die Erhöhung der Mindestlöhne für Angestellte abgegeben hat. Wegen ihm zahlt die Kane Company ihren Angestellten weiterhin nur Pennys für ihre harte Arbeit. Seine Schreckensherrschaft hat sich über die Jahre verfestigt. Er hat die bezahlten Urlaubstage reduziert, unsere Krankenversicherung gegen ein System ausgetauscht, das eher schadet als hilft, und unzähligen Angestellten gekündigt. Rowan mag aussehen wie ein Engel, aber alles andere an ihm ist pure Sünde.

Claire zupft an meinem Kleid. »Los, erzähl schon! Riecht er so gut, wie er aussieht?«

»Nein.« Doch. Aber das werde ich Claire nicht verraten.

Rowan riecht nicht nur atemberaubend gut, sein Firmenfoto wird ihm auch absolut nicht gerecht. Er ist auf eine unzugängliche Art schön. Wie eine Marmorstatue umgeben von einem roten Samtband, das mich in Versuchung führt, mich für eine einzige Berührung auf verbotenes Territorium zu begeben. Seine Wangenknochen wirken wie gemeißelt, während seine Lippen so weich aussehen, dass man sie küssen will. Und danach zu urteilen, was ich gespürt habe, als ich ihn gekniffen und seinen Oberschenkel berührt habe, ist er äußerst muskulös. Er wirkt makellos und sieht mit seinem perfekt gestylten braunen Haar, dem edlen Anzug und den karamellbraunen Augen aus wie ein klassisch hübscher Junge. Allerdings nur, bis er den Mund aufmacht.

»Okay, lass uns die Tatsache vergessen, dass er ein Idiot ist, und mehr darüber reden, ob er Single ist oder nicht.« Sie klimpert mit den Wimpern.

»Ich dachte, er ist nicht dein Typ.« Ich stoße sie an der Schulter an, denn ich weiß, dass sie nicht auf Männer steht. Sie hat sich in der Highschool als lesbisch geoutet und seitdem keinen Mann mehr angeschaut.

»Mädel, ich frage wegen dir, nicht wegen mir.«

Ich streiche mit der Hand an meinem violetten Renaissance-Kostüm hinab. »Da er mir zu verstehen gegeben hat, dass mein Job wohl kaum so wichtig sei, dass man mich vermissen könnte, bin ich nicht interessiert. Ganz zu schweigen davon, dass er unser Chef ist.«

Auch wenn es bei Dreamland keine Richtlinien gibt, die Beziehungen verbieten, habe ich Rowan offiziell als tabu abgeschrieben. Ich kenne Romanzen dieser Art aus eigener Erfahrung und habe die Quittung dafür bekommen. Dank meines Ex-Freundes habe ich bereits das maximale Arschloch-Level, mit dem man im Leben in Berührung kommen sollte, erreicht.

»Mann. Was für ein Mistkerl.«

»Ach was. Ich kann nicht glauben, dass er unser neuer Direktor ist. Es ist einfach so plötz…«

»Sie gehen unsere Namen für die Anwesenheitsliste durch«, ruft Regina, die Salon-Managerin, vom Hauptgeschoss.

Claire und ich betreten die Etage, in der sich der Salon befindet, und stellen uns zusammen mit den anderen Angestellten in einer Reihe auf. Wir sind umgeben von einem Meer aus leeren bunten Stühlen und beleuchteten Frisiertischen, die auf Kinder warten, die den großen Traum haben, sich für ihren Dreamland-Besuch als Prinzessinnen und Prinzen zu verkleiden. Alle bleiben stehen, während die Aufgaben verteilt werden, bevor wir unsere Tische vorbereiten.

»Bereit?« Claire schaut von ihrem Frisiertisch aus zu mir herüber.

Ich greife nach meinem noch nicht eingestöpselten Lockenstab und schwinge ihn wie ein Schwert. »Ich bin für alles bereit.«

Henry, der heutige Aufseher, öffnet die Türen und lässt eine Horde Kinder und deren Eltern herein.

Angesichts der Kleinen, die mit einem strahlenden Lächeln und leuchtenden Augen die Kostüme an den Wänden bewundern, wird mir warm ums Herz.

Henry schiebt ein kleines Mädchen in einem Rollstuhl zu mir. »Hi, Zahra. Das ist Lily. Sie freut sich darauf, dass du sie heute in Prinzessin Cara verwandelst.«

Ich beuge mich vor und gebe Lily die Hand. »Bist du dir sicher, dass du ein Make-over brauchst?«

Sie nickt und lächelt.

»Bist du dir sicher, dass du nicht ohnehin schon eine Prinzessin bist?«

Lily unterdrückt ihr Kichern mit der anderen Hand. Das glatte blonde Haar fällt ihr ins Gesicht und schirmt ihre grünen Augen vor mir ab.

Ich tippe ihr auf die Nase. »Du wirst mir die Arbeit so leicht machen, dass mein Chef noch denkt, ich könnte zaubern.«

Lily lacht. Der Klang ist so herzallerliebst, dass ich nicht anders kann, als mit einzustimmen.

»Mir gefällt deine Brosche.« Sie zeigt auf die Emaille-Brosche über meinem Namensschild.

»Danke.« Ich betrachte schmunzelnd den Schriftzug Bee Happy neben der Biene. Meine kleine Rebellion gegen die Regeln zu unserer Arbeitskleidung kommt bei den Kindern immer gut an.

Ich mache mich an die Arbeit und beginne mit Lilys Haar. Ihre glatten Strähnen lassen sich nur schwer in klassische Prinzessin-Cara-Locken verwandeln, aber ich gebe nicht auf, ehe sie perfekt aussieht.

Ein merkwürdiges Prickeln läuft an meinem Rücken hinab. Ich wende mich dem Spiegel zu und streiche, weil ich nicht auf meine Hände achte, ein wenig violetten Lidschatten auf Lilys Wange.

»Hey!« Sie lacht.

»O Gott.«

»Was denn?«

Rowan steht neben dem Empfangstresen. Unter seinem intensiven Blick, den er mir im Spiegel zuwirft, erhitzt sich meine Haut, und meine Augen drohen, mir aus dem Kopf zu springen. Röte breitet sich auf meinen Wangen aus, und ich wende mich vom Schminktisch ab, um meine Reaktion zu verbergen.

»Ohh, du wirst ja ganz rot. Mommy passiert das auch manchmal bei Daddy.« Lilys Augen leuchten.

»Hmmm.« Was macht er hier? Werde ich gefeuert?

Lily erwischt mich dabei, wie ich Rowans Spiegelbild anstarre. »Magst du ihn?«

»Schhh! Nein!« Ich wische ihr die Schminke von der Wange.

»Ist es ein Geheimnis?«, flüstert sie.

»Ja!« In diesem Moment würde ich alles sagen, was sie dazu bringt, den Mund zu halten.

Ich wage es, noch einmal über die Schulter zu schauen. Der Blick des Armani tragenden Mistkerls ruht weiterhin auf mir; seine nun mürrische Miene jagt mir noch größere Angst ein.

Henry kommt unter dem Vorwand, Lily ein Trinkpäckchen anzubieten, zu meinem Frisiertisch. »Willst du mir vielleicht verraten, warum Mr. Kane nach dir fragt?«

»Weil ich ihn vorhin vielleicht verärgert habe?«

Um Henrys Augen bilden sich Sorgenfältchen. »Ich wollte nur rüberkommen und dich warnen – er stellt Regina alle möglichen Fragen über dich.«

Ich hoffe, Regina behält ihre persönliche Abneigung mir gegenüber für sich. Auch wenn sie nichts lieber tun würde, als sich über mich zu beschweren, spricht meine Leistung für sich selbst. Das Trinkgeld, das ich von meinen Kundinnen und Kunden erhalte, ist fast doppelt so hoch wie das der anderen, was sie nur noch wütender auf mich macht. Ich verstehe ihr Problem nicht. Ihre Tochter ist schließlich diejenige, die eine Affäre mit meinem Freund – mittlerweile Ex-Freund – hatte, als wir noch zusammen waren. Ich stelle nicht mal annähernd eine Bedrohung dar, weil ich Lance selbst in einem Schutzanzug nicht mehr berühren würde, ganz zu schweigen davon, wieder mit ihm zusammenzukommen.

Ich drücke meinen Rücken durch. Über Lance und Tammy nachzudenken, ruiniert nur meine Laune. So niedergeschlagen wie damals will ich nie wieder sein; ich weigere mich, mich selbst auf das Mädchen zu reduzieren, das dachte, es würde seinen College-Freund heiraten. Unsere gemeinsame Zukunft wurde zerstört, als ich erfahren habe, dass Lance ein Doppelleben mit Tammy führte.

Lass los. Zeig ihnen, dass sie dich nicht gebrochen haben, ganz egal, wie nahe sie dran waren.

»Ist das dein Prinz?«, Lily grinst.

Ich konzentriere mich wieder auf die Unterhaltung.

Henry hebt die Schultern. »Wir müssen abwarten, ob er sie mit in sein Königreich nimmt.«

Das Königreich, in dem der Mann lebt, ist die Hölle, und ich habe kein Interesse daran, es zu besuchen. Er ist ein Teufel im Designeranzug, mit einem Charakter, der dazu passt.

»Viel Glück. Das wirst du gebrauchen können.« Henry geht, nachdem er mir wie einem Kind den Kopf getätschelt hat.

Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, trifft Rowans emotionsloser Blick meinen. Ich zittere trotz der warmen Lichter des Frisiertisches unter seiner Beobachtung. Während des gesamten Make-overs schaffe ich es irgendwie, meine Miene unter Kontrolle zu halten, obwohl mir das Herz gegen den Brustkorb hämmert. Ich verwende all meine Energie darauf, meinen neuen Chef zu ignorieren, während ich Lily zur hübschesten Prinzessin im ganzen Park mache.

Als es fast an der Zeit ist, ihr mein Werk zu zeigen, drehe ich ihren Rollstuhl zur Mitte des Raumes und weg vom Spiegel. Ich nehme die letzten Handgriffe vor, ehe ich den Rollstuhl wieder zum Spiegel drehe, damit sie sich betrachten kann.

Ihre Augen werden feucht, als sie sich sieht.

»Du siehst wunderschön aus.« Ich beuge mich hinunter und umarme sie kurz.

»Danke.« Sie schaut stirnrunzelnd auf ihren Rollstuhl hinunter.

Mein Herz zieht sich zusammen, und ich wünsche mir, ich könnte mehr für Kinder wie Lily tun. Sie scheinen stets übersehen zu werden.

Ich lege meinen Arm um ihre Schulter und lächele in den Spiegel. »Du bist eine hübsche Dame. Ich wette, der ein oder andere wird dich tatsächlich für Prinzessin Cara halten, wenn du unseren Salon verlässt.«

»Wirklich?« Ihr gesamtes Gesicht erhellt sich wieder.

Ich tippe ihre Nase an. »Da gehe ich jede Wette ein. Und ich weiß, dass die anderen Kinder dich um diese tollen Räder beneiden werden, wenn ihnen die Füße schmerzen.«

Sie lacht. »Du bist witzig.«

»Wenn jemand bei dir mitfahren möchte, solltest du unbedingt Geld dafür nehmen. Versprochen?«

»Ehrenwort.« Sie reicht mir ihre Hand, um das Versprechen zu besiegeln.

Ich drehe mich um, um Lilys Eltern zu rufen. Doch mein Blick trifft auf Rowans. Hitze sammelt sich in meinem Bauch und breitet sich wie ein Lauffeuer auf meiner gesamten Haut aus.

Bekomme ich etwa Fieber? Ich wusste doch, dass das schniefende Kind, das ich gestern im Salon hatte, nicht nur an Heuschnupfen gelitten hat.

Lilys Eltern kommen herüber und schwärmen davon, wie toll sie aussieht. Während ihr Dad sich hinkniet, um mit ihr zu reden, dreht sich ihre Mutter zu mir um und umfasst zitternd meine Hand. »Vielen Dank, dass Sie sich um meine Tochter gekümmert haben. Sie hatte Angst, dass sie sich zu sehr von den anderen Mädchen unterscheiden würde, aber Sie haben sich besonders große Mühe gegeben, um ihren Tag zu etwas Besonderem zu machen.« Sie schließt mich in die Arme.

Ich erwidere die Umarmung. »Es war mir ein Vergnügen. Aber Lily hat es mir leicht gemacht, weil Ihre Tochter wirklich wunderschön ist, innerlich und äußerlich.«

Lilys Dad wird rot, während ihre Mom grinst. Mit einem letzten Blick in den Spiegel schieben ihre Eltern Lily aus dem Salon.

Ich drehe mich in die Richtung, wo Rowan und Regina gerade noch geredet haben, doch sie sind verschwunden. Mein Magen zieht sich zusammen.

Für den Rest des Tages ist mir dauerhaft übel. Ganz gleich, wie viele strahlende Kinder meinen Stuhl verlassen, ich werde das merkwürdige Gefühl in meinem Bauch nicht los. Ich bin mir nicht sicher, was Rowan vorhat, aber ich muss auf der Hut bleiben. Es gab eine Zeit, in der ich meine Intuition ignoriert habe, und diesen Fehler will ich nie wieder begehen.