KAPITEL ACHT

Zahra

Also noch mal langsam. Du bist ab jetzt Entwicklerin? Wie konntest du das den ganzen Tag vor mir geheim halten?« Claire lässt die Gabel auf den Teller fallen.

Ich habe es mir verkniffen, die Neuigkeiten zu verraten, weil ich sie meiner ganzen Familie bei unserem samstäglichen Abendessen verkünden wollte. Meine Eltern sind der Grund dafür, warum wir alle zusammen bei Dreamland arbeiten, daher wollte ich auch mit ihnen feiern.

Ani springt von ihrem Stuhl auf, sodass die brünetten Locken um ihren Kopf tanzen. Sie umarmt mich. »Yippie! Du hast es geschafft.«

Ich erwidere die Umarmung meiner Schwester und genieße ihre Wärme. Es bedeutet mir unheimlich viel, ihr zu zeigen, dass nichts sie aufhalten kann, trotz ihres Down-Syndroms. Mit ihrem ansteckenden Lachen und ihrer Fröhlichkeit macht sie mich jeden Tag zu einem besseren Menschen.

»Das müssen wir feiern.« Die grünbraunen Augen meiner Mutter leuchten, als sie in die Küche eilt.

Die Haut um Dads Augen legt sich in Falten, als er grinst. »Ich bin so stolz auf dich. Ich wusste, man würde dir nicht widerstehen können, wenn erst einmal die richtige Person erkennt, wie talentiert du bist.«

Mein Brustkorb wird eng. Dad hat mich immer unterstützt, seit ich als kleines Kind verkündet habe, dass ich Entwicklerin werden will, wenn ich groß bin. Er hat nie aufgehört, an genügend Träumen für uns beide festzuhalten, sogar als ich mich selbst aufgegeben hatte.

Meine Mom kommt mit einer Champagnerflasche und ein paar Sektgläsern aus Plastik aus der Küche.

»Habt ihr jetzt Champagner auf Vorrat im Haus?«

»Deine Mom hatte vor, sie an unserem Hochzeitstag nächste Woche zu öffnen, aber die Neuigkeit von heute schreit förmlich danach.« Dad klatscht in die Hände.

Mom legt mir eine Hand auf die Schulter und drückt sie. »Vergiss unseren Hochzeitstag. Von denen hatten wir schon genügend.«

Bisher achtundzwanzig, um genau zu sein.

Sie sind unzertrennlich, seitdem Dad Mom mit seinen Geschichten über Armenien verzaubert hat – und mit seiner Beharrlichkeit, mit der er sie jede Woche um ein Date gebeten hatte, bis sie endlich mit ihm ausging.

Mom legt einen Arm um mich. »Unsere Tochter wird Entwicklerin! Hast du das gehört, Hayk?«

»Es war schwer zu überhören, wo ich doch gleich hier sitze.« Dad zwinkert ihr zu.

Ich seufze. So sind meine Eltern. Die Menschen, angesichts deren überschäumender Liebe mir übel wird, seitdem ich auf der Welt bin.

Mom nimmt wieder neben Dad Platz. »Ich kann nicht glauben, dass Mr. Kane dir einen Job angeboten hat, nachdem du ihm unterbreitet hast, wie enttäuschend sein Fahrgeschäft ist. Aber das ist unsere Tochter.« Sie wirft Dad einen vielsagenden Blick zu.

Ich schneide eine Grimasse. »Na ja, ich habe es ihm ja nicht so direkt gesagt …«

»Sie lügt. Sie hat ihm geschrieben, dass Brady alles, wofür es steht, verabscheuen würde, wäre er noch am Leben.« Claire hebt ihr Wasserglas in meine Richtung, ehe sie einen Schluck nimmt.

Ani zieht die braunen Augenbrauen hoch. »Ist nicht dein Ernst.«

»Ich hab mich vielleicht ein bisschen zu weit aus dem Fenster gelehnt, aber es stimmt. Das Design, das Lance eingereicht hat, war nur ein Bruchteil der Idee, die ich mit Brady ausgearbeitet habe.«

Dads Lächeln verschwindet. Er streckt den Arm aus und drückt meine Hand. »Nun, der Schuss ging für Lance nach hinten los. Jetzt hast du einen neuen Job und die Chance, es geradezubiegen, bis alles genau so ist, wie du es dir erträumt hast.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es das ist, was Rowan sich vorstellt.«

Ich trete die Stelle ohnehin schon fürchterlich unvorbereitet und unterqualifiziert an. Das Letzte, was ich will, ist Unruhe im Entwickler-Team zu stiften, besonders nachdem ich meine Idee versehentlich eingereicht habe.

»Wenn er dich eingestellt hat, wird er wissen, was er tut«, merkt Dad an.

Ich wünschte, ich hätte genauso viel Vertrauen in mein Können wie er. Seitdem ich Rowans Büro verlassen habe, haben sich meine sorgenvollen Gedanken vervielfacht, und mittlerweile sind sie überwältigend.

Was, wenn ich nur eine gute Idee hatte, die sich ausschließlich durch Brady Kanes Hilfe von durchschnittlich in brillant verwandelt hat? Was, wenn ich ein One-Hit-Wonder bin, das nun vor den Leuten, zu denen ich mein Leben lang aufgeschaut habe, abstürzt und verbrennt?

Ich ärgere mich darüber, dass ich in diese alten Denkmuster verfalle. Lance gewinnt jedes einzelne Mal, wenn ich zulasse, dass sich seine Kritik in meine Gedanken schleicht, und das ärgert mich noch mehr.

Wenn du nicht selbst an dich glaubst, wird es niemand tun.

Meine Familie reißt mich aus meinen Gedanken. Ich öffne die Champagnerflasche und hebe sie zur Decke.

Prost, Brady.

* * *

Heute bin ich zehn Minuten zu früh dran, um Rowan mit meiner Pünktlichkeit zu beeindrucken, aber die Mühe habe ich mir umsonst gemacht.

Seine Tür bleibt geschlossen, also rede ich pausenlos auf Martha ein. Es dauert nicht lange, bis wir Freundinnen geworden sind, die sich über ihre bevorzugten Liebesromanautorinnen unterhalten und über ihre Sucht nach einem sonntäglichen Besuch bei Chick-fil-A.

Mit ihr zu reden, hilft dabei, mir die Zeit zu vertreiben.

Aber auch Martha muss irgendwann arbeiten, also spiele ich mit dem Stoff meines gepunkteten Kleides herum und scrolle auf meinem Handy.

Die Tür zu Rowans Büro öffnet sich mit einem lauten Geräusch.

Ich zucke auf meinem Stuhl zusammen und presse mir eine Hand auf mein rasendes Herz. Welchen Kaffee auch immer Rowan morgens trinkt, er hat offenbar nicht die erwünschte Wirkung.

Er kommt aus seinem Büro, ohne seine Assistentin oder mich eines Blickes zu würdigen, und marschiert an uns vorbei.

Martha schubst mich förmlich von meinem Stuhl. »Los, hinterher!«

Eiligen Schrittes gehe ich aus dem Empfangsraum, um ihn einzuholen. Ich mache doppelt so viele Schritte wie er, um mit ihm mithalten zu können, weil der Mann wirklich groß ist. Wie kommt er durch Türen, ohne den Kopf einzuziehen?

Während wir weitergehen, wird die Stille für mich immer bedrückender, bis ich schließlich herausplatze: »Ich glaube langsam, Sie sind kein Morgenmensch.« Irgendwie ist es mir mittlerweile gelungen, mich seinem Tempo anzupassen.

Rowan schnaubt leise. Er geht geradewegs auf den Eingang zu den Story-Street-Katakomben zu.

»Wundervolles Wetter, hab ich recht?«

Ach, was soll’s. »Exakt, Zahra. Ich hab mir gedacht, es bringt nichts zu duschen, wenn die Luftfeuchtigkeit den gleichen Effekt hat«, gebe ich mir selbst die Antwort und versuche dabei, seinen tiefen Tonfall zu imitieren, scheitere jedoch, als meine Stimme bricht.

Sein Mundwinkel hebt sich ein ganz kleines bisschen, und in Gedanken applaudiere ich mir selbst.

Ich unternehme einen weiteren Versuch, die Unterhaltung zu retten. »Wie gefällt Ihnen Dreamland bisher?«

»Überhaupt nicht«, murmelt er leise.

Ich stolpere über die Spitze meines Sneakers. »Oh.« Verdammt. Damit habe ich nicht gerechnet. »Haben Sie ein Lieblingsfahrgeschäft?«

»Nein.«

Meine Gehirnzellen feiern seine Antwort. Wir machen Fortschritte, Leute. »Ich auch nicht. Es gibt zu viele gute.«

Das bringt mir ein weiteres Schnauben ein.

»Was gefällt Ihnen am besten daran, Direktor zu sein?«

»Die Stille am Ende eines Arbeitstages.«

Nun verliere ich die Selbstbeherrschung. Meine Lunge brennt vor Lachen über seine Antwort.

Er bleibt stehen und starrt mich einen Moment an, ehe er sich wieder fasst. Dann führt er mich durch die Tunnel, als würde er das ständig tun. Zusammen gehen wir eine Treppe hoch und durch eine Tür, auf der Entwickler-Workspace steht.

Ich schnappe nach Luft, als wir eine riesige Lagerhalle betreten, die durch Trennwände in vier Bereiche unterteilt ist. Der Geruch, der in der Luft liegt, erinnert mich an den Kunstunterricht in der Grundschule.

Rowan führt mich eilig und schweigend durch jeden Raum, während ich alles bestaune.

Der erste Bereich ist mit Animatronik und Robotern für Fahrgeschäfte, Paraden und Züge ausgestattet. Ich fahre mit der Hand über den kalten Metallarm eines Gerätes. Als es sich bewegt, mache ich einen Satz nach hinten und pralle gegen Rowans Brust.

Seine Hand legt sich um meinen Arm, damit ich mein Gleichgewicht wiederfinde.

Jede Zelle in mir beginnt zu brennen, erwacht angesichts der sanften Berührung zum Leben. Mein Körper wird zu einem Inferno. Meine Haut erhitzt sich dort, wo seine Hand liegt, und ich ertappe mich dabei, wie ich mich an ihn lehne.

Er lässt mich los und geht so eilig aus dem Raum, als könnten seine Schuhe Feuer fangen.

Ich passe mich seinem schnellen Tempo an und folge ihm in ein Designerparadies, in dem die Wände mit Storyboards tapeziert und die Tische mit unterschiedlichen Materialien übersät sind.

Im nächsten Raum sind Mini-3-D-Modelle von Dreamland aufgebaut. Beeindruckt von der Detailgenauigkeit beuge ich mich vor, um mir eines der Modelle anzusehen – eine Nachbildung des Märchenlandes und des Schlosses von Prinzessin Cara. Ich kann mich nicht davon abhalten, meinen Zeigefinger über eine der Turmspitzen gleiten zu lassen.

Als mein Nacken kribbelt, schaue ich über die Schulter und stelle fest, dass Rowan auf meinen Hintern starrt.

O mein Gott. Findet er mich attraktiv?

Als hätte er den gleichen Gedanken, presst er seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

Mein Kichern verwandelt sich schließlich in einen so heftigen Lachanfall, dass ich mich vornüberbeugen muss.

Er blinzelt ein paarmal, was seine Augen weniger finster wirken lässt. »Sind Sie bereit, alle kennenzulernen, oder immer noch daran interessiert, Arbeitszeit mit Ihrer kleinen Führung zu verschwenden?«, versetzt er und steuert die Tür an.

Ich mache mir nicht die Mühe, ihm zu erklären, wer mit der Führung überhaupt erst begonnen hat. Ich weiß nicht recht, wem er etwas vormachen will, denn ich kann ihn leicht durchschauen. Die Frage ist jedoch: warum ? Warum wollte er mir einen Moment verschaffen, in dem ich mir meine Umgebung so genau anschauen kann? Warum hat er mich höchstpersönlich durch die Lagerhalle geführt, statt die Aufgabe an jemanden zu delegieren, der bereit dazu ist und Zeit hat?

Ich weiß noch, dass Brady mir erzählt hat, dass Rowan es als Kind geliebt hat, die Lagerhalle zu besuchen. Genießt er den Abstecher genauso wie ich? Falls ja, warum ist er jetzt so verärgert?

Rowan ist wie ein geheimer Code, den ich zu entschlüsseln versuche – ein menschliches Fort Knox, in das ich einbrechen will, und wenn es nur ist, um ein eingekerkertes Herz voller Gold zu finden. Aber vielleicht mache ich mir auch umsonst Hoffnungen, weil sich ein Teil von mir fragt, ob Rowan tatsächlich so nett ist, wie Brady ihn beschrieben hat.

Ich folge ihm in den letzten Raum, in dem sich die Entwickler tummeln. Es scheint sich um eine Art Hauptaufenthaltsraum zu handeln, in dem Meetings abgehalten werden und der von Reihen aus Arbeitsplätzen umgeben ist. Es ist ein Paradies mit Sitzsäcken, beschreibbaren Wänden und 3-D-Simulationsstationen.

Willkommen in deinem neuen Zuhause.

Ich kann nicht glauben, dass ich endlich hier bin. Brady hatte recht. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe ich meine alte Arbeitsplakette gegen eine mit der Aufschrift Entwicklerin eintausche. Was würde er jetzt von mir denken?

Er hätte dir vielleicht geraten, den Wein wegzulassen und im nüchternen Zustand etwas zu schreiben – aber in der Not frisst der Teufel Fliegen.

Ich blinzele den Schleier vor meinen Augen weg.

Rowan stellt mich den Entwicklern vor, die in ein Alpha- und Beta-Team unterteilt sind. Diverse Mitglieder heißen mich willkommen. Angesichts ihres Enthusiasmus und bei dem Gedanken, dass ich nun mit ihnen arbeiten werde, zieht sich mein Herz zusammen.

Als Rowan sich einen Schritt von mir entfernt, erklärt mir Jenny, eine brünette Frau, die das Beta-Team leitet, dass ich zu ihrer Gruppe gehören werde.

Ich schaue mich zu Rowan um, weil ich sehen will, ob dies seinen Plänen entspricht.

Er schenkt mir einen gelangweilten Blick. »Na los.« Er schaut sich im Raum um. »Alle zurück an die Arbeit.«

Die Entwickler folgen dem königlichen Dekret wie treue Fußsoldaten.

Jenny nimmt sich Zeit, um mir meinen neuen Arbeitsplatz zu zeigen.

Mir bleibt der Mund offen stehen, als ich einen Blick in meine Bürozelle werfe. Ich hatte noch nie ein eigenes Büro, und ich bin begeistert von dem L-förmigen Schreibtisch in der Ecke mit einem Doppelbildschirm, der einen großen Teil der Fläche einnimmt. In einer Ecke steht sogar ein neuer glänzender Laptop, der nur darauf wartet, geöffnet zu werden.

Ich lasse mich auf den luxuriösen Stuhl auf Rollen fallen und fahre mit der Hand über die ergonomische Tastatur.

Sieh einer an, wie erwachsen ich bin – mit eigenem Schreibtisch und Tacker. Ich betätige ihn zweimal, um sicherzugehen, dass ich nicht träume.

Jenny zupft ihren ohnehin schon tadellosen Pferdeschwanz zurecht. »Wir freuen uns, dich von nun an in unserem Team zu haben, Zahra. Ich bin froh, dass sich Sam in unserem Streit um dich ziemlich schnell geschlagen gegeben hat.«

»Ein Streit um mich ?« Die Worte klingen lächerlich, als sie meinen Mund verlassen.

Sie grinst. »Keine Sorge. Ich war nicht allzu hart zu ihm. Mein gespieltes Weinen wirkt immer – er war schneller hinüber als eine Eismaschine bei McDonald’s.«

Wir lachen.

Jenny ist so erfrischend anders als Regina.

»Ich bin diejenige, die der Ansicht war, dass Mr. Kane deine Idee selbst lesen müsse. Sam war ein wenig zögerlich wegen dem Inhalt.«

Ich zucke zusammen. »Tut mir leid.«

Sie winkt ab. »Bitte. Du musst dich nicht entschuldigen. Wir haben so großen Zeitdruck, und man muss sich nicht dafür rechtfertigen, was man fühlt. Du bist die Art von Entwicklerin, die wir in unserem Team brauchen.«

»Wow. Ich meine … danke.« Das läuft so viel besser, als ich erwartet habe.

»Ich erkläre dir kurz, wie die Dinge hier funktionieren. Freitags muss jeder Entwickler und jede Entwicklerin einen neuen Vorschlag präsentieren. Wir haben einen mehrschrittigen Sechsmonatsplan, um Mr. Kane so viele Optionen wie möglich anzubieten, aus denen er wählen kann.«

»Was denn wählen?«

Jenny lächelt. »Er plant ein paar Neuerungen für das fünfzigste Jubiläum. Von einem Projekt dieser Größe hängt eine Menge ab, also erwartet er von uns nur das Beste.«

»Alles klar. Ich werde euch nicht enttäuschen.«

»Dann richte dich mal ein. Ich hoffe, du magst italienisches Essen, denn die Betas haben einen Willkommens-Lunch für dich geplant.«

»Nur Monster mögen kein italienisches Essen.«

Sie lacht. »Ich wusste, du würdest gut ins Team passen. Dann sehen wir uns um zwölf.« Sie verlässt mein Büro, sodass ich mit all meinen glänzenden Spielsachen allein bin.

Ich bin erstaunt darüber, wie nett alle hier sind. Es ist eine ganz andere Atmosphäre als ich nach all den Geschichten, die man über die Entwickler hört, erwartet habe. Meine anfängliche Sorge kommt mir nun lächerlich vor.

Ich schiebe meinen Rucksack unter den Schreibtisch, bevor ich mich auf meinem Stuhl im Kreis drehe. Nachdem das Schwindelgefühl verschwunden ist, schlage ich auf den Tacker ein und betätige ihn wieder und wieder. Heftklammern fliegen um mich herum wie Konfetti auf einer Party.

Ich spüre Rowan, noch bevor ich ihn sehe. Mein Nacken kribbelt, und ich schaue über die Schulter, woraufhin ich feststelle, dass sein bohrender Blick auf mir ruht, als wollte er mir ein Messer in den Rücken jagen.

»Ja?« Ich schenke ihm ein breites Lächeln, weil ich es amüsant finde, dass dies sein rechtes Auge zum Zucken bringt.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Waffe wegzuräumen, bevor ich beginne zu reden?« Er betrachtet mit zusammengekniffenen Augen den Tacker.

»Hat der große, böse Mr. Kane etwa Angst vor einem kleinen Tacker?« Ich drücke noch ein paarmal drauf, wobei ich mit dem Tacker auf ihn ziele. Die Heftklammern fliegen in die Luft und landen ein paar Zentimeter neben meinen Ballerinas auf dem Boden.

»Ich würde Ihnen nicht mal Luftpolsterfolie anvertrauen, geschweige denn einen Tacker.«

»Sie haben recht. Die Warnung vor Erstickungsgefahr sollte man viel ernster nehmen.«

Ein merkwürdiger Laut, der wie eine Mischung aus einem Schnauben und einem Ächzen klingt, entfährt ihm, und ich ordne es als Lachen ein.

Sieht aus, als würde doch ein wenig Menschlichkeit in ihm stecken.

Ich lege den Tacker zurück auf meinen Schreibtisch, wo er hingehört.

»Irgendwelche anderen Waffen, von denen ich wissen sollte?«

Ich verdrehe die Augen, während ich so tue, als ob ich unter meinem Schreibtisch eine unsichtbare Pistole hervorhole. Ich mache eine besondere Show daraus, das nicht existente Magazin zu entfernen und es auf die Tischplatte zu legen.

Wenn ich mich anstrenge, könnte ich die leichte Regung in Rowans Gesichtszügen als Lächeln deuten.

Er stößt übertrieben die Luft aus und betritt mein Büro.

Wow. Hat er sich an einem Witz versucht?

Ich belohne ihn mit einem Grinsen, das nicht erwidert wird.

Die Zelle fühlt sich mit einem Mal kleiner an, da er mit seiner Größe ein Viertel des Platzes einnimmt.

Ich durchbreche die Stille. »Kann ich Ihnen bei irgendwas Bestimmtem helfen?«

Er öffnet den Mund, nur um ihn eine Sekunde später wieder zu schließen.

Weiß er überhaupt, warum er hier ist? Bei dem Gedanken breitet sich ein Kribbeln in meiner Brust aus. Böse Zahra.

»Was halten Sie von meiner neuen Bude?«

»Lässt Raum für Verbesserungen.« Er wendet den Blick von mir ab und betrachtet die grauen Wände.

Ich schaue ihn blinzelnd an.

Würde es ihn umbringen, nett zu sein? Wahrscheinlich.

Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Schreibtisch, fest entschlossen, ihn zu ignorieren, bis er weggeht, weil ich nicht will, dass er mir die Laune verdirbt. Ich drücke jede Taste des Computers zweimal, aber das verdammte Ding lässt sich nicht einschalten, ganz gleich, was ich versuche.

»Rutschen Sie rüber.« Er tritt an meinen Schreibtisch, wobei er sein Parfüm mit Suchtfaktor mitbringt.

»Warum?«, frage ich heiser.

»Aus unerfindlichen Gründen hab ich Lust, Ihnen zu helfen.«

»Weil …?« Ich verberge mein Schmunzeln hinter einem Vorhang aus Haaren.

»Weil man Ihnen in der Nähe von Stromanschlüssen nicht trauen kann.«

Ich lache und rolle auf meinem Stuhl nach hinten, damit er Platz hat.

Trotz seiner perfekt gebügelten Hose kniet er sich hin. Das sollte ich auf keinen Fall so sexy finden, wie ich es tue, aber im Büro wird es mit einem Mal heiß, als er von dort unten zu mir aufblickt.

Sein Blick verdunkelt sich, als er meine übereinandergeschlagenen Beine betrachtet.

Das Herz schlägt mir in der Brust wie ein Presslufthammer, und ich bin überrascht, dass er das unbeständige Klopfen nicht hören kann.

Was auch immer in diesem Moment zwischen uns aufgekeimt ist, verflüchtigt sich, als er unter den Schreibtisch krabbelt und mir eine perfekte Sicht auf seinen Körper auf allen vieren bietet.

Na, wer starrt jetzt?

Ich ignoriere die Stimme in meinem Kopf und beschließe, die Show zu genießen. Rowan sieht meinem Ex-Freund kein bisschen ähnlich. Jeder Zentimeter seines schlanken Körpers ist muskelbepackt, als würde er ständig zum Spaß rennen. Seine muskulösen Waden schauen unter dem Schreibtisch hervor, und sein fester Hintern bewegt sich, als er die Kabel dort unten sortiert. Es bedarf all meiner Selbstbeherrschung, um nicht die Hand auszustrecken und ihn zu berühren. Ich nehme mir einen Augenblick Zeit, um seine Schuhgröße zu schätzen. Die einzige Schlussfolgerung, zu der ich komme, ist, dass ich hoffnungslos unreif bin und viel zu oft an Sex denke.

Natürlich fühle ich mich zu meinem arroganten Chef hingezogen, der überhaupt nicht mit Menschen umgehen kann. Das muss ein schlechter Witz auf meine Kosten sein, nach allem, was ich durchgemacht habe. Vielleicht gibt es eine Art chemische Unausgeglichenheit in meinem Körper, die dazu führt, dass ich auf Mistkerle wie Rowan stehe. Vielleicht sind Mistkerle meine ungewöhnliche sexuelle Vorliebe?

Nun, zumindest erklärt das deine ungesunde Obsession, was Mr. Darcy angeht.

Ich habe kaum meine Atmung wieder unter Kontrolle gebracht, als er aufsteht.

Irgendwas an der Art, wie er mich ansieht, lässt mein Blut heiß werden. Eine Gänsehaut bildet sich auf meiner Haut, obwohl in meiner Brust ein Inferno wütet und sich von dort ausbreitet. Es ist tröstlich, dass sich mein Körper genauso widersprüchlich verhält wie mein Gehirn.

Warum er? Warum ich?

Mein Lächeln verschwindet.

Er ballt die Hand an seiner Seite zur Faust, bevor er sie in die Tasche schiebt.

Jane Austen, bist du jetzt mein Schutzengel?

Auf der Suche nach einer Antwort schaue ich zur Decke, aber nichts geschieht.

»Was in Gottes Namen flüstern Sie da?«

Oh, Mist. Hab ich das laut ausgesprochen?

»Funktioniert der Computer jetzt wieder?« Vielleicht glaubt er mir ja, dass ich diese Worte gemurmelt habe.

»Ja.«

»Toll. Danke. Sie finden allein den Weg nach draußen?« Ich verwende bewusst seine Worte in der Hoffnung auf eine Reaktion.

Er schenkt mir aber nichts außer einem Stirnrunzeln und einer gequälten Miene.

Nun, es ist ein Anfang.

Er steuert den Ausgang der Bürozelle an und nimmt seine merkwürdige Anziehungskraft mit.

Vielleicht kann ich jetzt, wo er außer Sichtweite ist, endlich wieder denken. Er hat irgendwas an sich, das mich aus dem Konzept bringt, sodass ich in seiner Gegenwart nicht weiß, was ich sagen oder tun soll. Und er lässt mich mit unzähligen wirren Gedanken zurück.

Ich atme tief durch, um einen klaren Kopf zu bekommen, doch erhasche noch eine Duftwolke seines Parfüms.

Warum muss er so verdammt gut riechen?

Ich lasse den Kopf in meine Hände fallen und stoße ein frustriertes Stöhnen aus. Als ich mich wieder gefangen habe, betätige ich zögerlich die Einschalttaste meines Computers.

Machen wir uns an die Arbeit.