I ch habe nicht eine Sekunde gezögert, als ich die dilettantische Zeichnung aus Zahras Arbeitsnische mitgenommen habe. Und auch dann nicht, als ich beim Künstlerbedarf eine Packung mit hundert Farbstiften und Zeichenpapier gekauft habe. Das Schwierigste an der Sache war, Martha zu überreden, sich für den Rest des Tages freizunehmen, damit ich meine Ruhe habe.
Meine Hand, mit der ich den Bleistift halte, zittert. Mit steifem Arm drücke ich ihn auf das Papier. Die Spitze bricht ab und rollt davon, sodass ich nur noch ein nutzloses Stück Holz umfasse.
»Was machst du hier eigentlich?«, murmele ich, während ich den Stift fallen lasse.
»Du führst dich lächerlich auf.«
Ihre Zeichnungen sind grottenschlecht, und das weißt du. Sie hätte fast geweint, als du sie gezwungen hast, ihre Skizze während der Präsentation zu zeigen, und es war qualvoll, sie so nervös zu sehen.
Warum kümmert dich das überhaupt?
Weil Zahra nur dann kreativ sein kann, wenn sie glücklich ist, und je kreativer sie ist, desto schneller kann ich von hier verschwinden.
Meine boshafte und meine unüberlegte Seite tragen einen Kampf miteinander aus. Ich ziehe Zahras Zeichnung unter dem leeren Blatt hervor und betrachte sie. Ihre Idee ist gut durchdacht. Sie hat sich dazu entschieden, diejenigen unserer Charaktere hervorzuheben, die für Diversität stehen, statt die bekannteren Prinzessinnen. Es ist dieser Gedanke, der mich dazu bringt, nach dem Anspitzer zu greifen und es erneut zu versuchen. Ich konzentriere mich trotz meines rasenden Herzens voll und ganz auf Zahras Idee, während ich zeichne.
Bald werden meine Handflächen feucht. Ich bin ziemlich aufgewühlt. Ich ziehe mein Jackett aus und krempele die Ärmel meines Hemdes hoch in dem Versuch, meine steigende Körpertemperatur unter Kontrolle zu bringen.
Es fühlt sich an, als würde ich mit jedem Strich meine inneren Dämonen ausschwitzen.
Zeichnen ist ein sinnloses Hobby. Richtige Männer zeichnen nicht, höre ich die Stimme meines Vaters.
Ich festige meinen Griff um den Bleistift, während ich daran zurückdenke, wie er meine Zeichnungen, die ich im Kunstkurs angefertigt habe, aus dem Block gerissen hat.
Gelbe Splitter breiten sich auf dem Papier aus, als der Stift in zwei Hälften zerbricht.
»Scheiße.« Ich werfe die beiden Teile in den Papierkorb und klopfe das Blatt sauber.
Was habe ich mir nur dabei gedacht, Zahra zu erzählen, es gäbe jemanden, der ihr helfen kann? Ich schaffe das auf keinen Fall.
Ich rolle auf dem Stuhl nach hinten, springe auf und wische mir mit einer zittrigen Hand über die Stirn. Dann greife ich nach dem Blatt und zerreiße es in Stücke. Weiße Fetzen flattern in den wartenden Mülleimer wie Beweise meines Scheiterns und landen auf dem zerbrochenen Bleistift.
Ich warte darauf, dass sich Erleichterung einstellt, aber alles, was zurückbleibt, ist ein flaues Gefühl im Magen und mein rasendes Herz. Ich wende den Blick von meinen zu Fäusten geballten Händen ab und schaue zum Papierkorb mit meinen zerrissenen Zeichnungen.
Hier ist niemand, der mich anschreien oder dafür sorgen kann, dass ich mich wertlos fühle. Ich bin ein erwachsener Mann, der alle Aufgaben meistern kann, die ihm gestellt werden, auch eine alberne, harmlose Zeichnung.
Ich schaffe das. Wenn nicht für mich selbst, dann wenigstens für die Zukunft, von der meine Brüder träumen. Eine, in der Declan Geschäftsführer ist und ich Finanzdirektor bin. Und auch Cal soll endlich seinen Platz in der Firma finden, wenn wir erst einmal die Führung übernommen haben.
Ich setze mich wieder hin, greife nach einem neuen Blatt und einem Stift und mache mich an die Arbeit.
* * *
Am Eingang zu Zahras Arbeitsnische bleibe ich stehen und beobachte sie für einen Moment. Sie bewegt den Kopf zum Takt der Musik, die sie über ihre Kopfhörer hört, während sie gleichzeitig am Computer tippt. Ihre Anstecknadel des Tages leuchtet unter dem Licht der Deckenlampe. Heute zeigt sie einen Salz- und Pfefferstreuer mit der Aufschrift Seasons Greetings darunter.
Wer hat so wenig Selbstachtung, dass er etwas derart Grauenhaftes tragen würde?
Ich lasse den Blick über ihren Körper wandern und auf der Rundung ihres Halses ruhen. Die weiche Haut wirkt, als sei sie gemacht, um zu betören. Um geküsst zu werden, während ich Sex mit ihr habe. Es gäbe unzählige Dinge, die ich mit diesem wunderschönen Hals tun würde, wenn ich die Chance dazu hätte.
Aber das ist nicht möglich.
Ich werde keinen Moment der Schwäche mehr zulassen. Sie kann behaupten, dass sie mich nicht in der Personalabteilung meldet, aber ich hätte es im Leben nicht so weit gebracht, wenn ich irgendeiner anderen Person als mir selbst vertraut hätte. Ihre Optionen sind endlos, und sie hat die Möglichkeit, Geld von mir zu bekommen. Allein die Medien würden ihr genug zahlen, damit sie sich mit ihren dreiundzwanzig Jahren zur Ruhe setzen könnte. Der Gedanke macht mir Sorgen; meine Zunge wird trocken, und meine Kehle verengt sich.
Ich marschiere zu ihrem Schreibtisch und werfe die Zeichnung darauf.
Sie zuckt auf ihrem Stuhl zusammen und lässt sich dann gegen die Lehne fallen. »Hallo! Können Sie Ihre Anwesenheit vielleicht ankündigen so wie jeder andere?«
Ich antworte nicht, weil ich mich in ihrer Gegenwart nicht einmal traue zu atmen. Alles, was es bedarf, um mein Blut von meinem Gehirn weiter nach unten zu leiten, ist der Duft ihres Parfüms.
Zum Glück habe ich genügend Selbstbeherrschung, um einen Schritt zurückzutreten.
Sie legt ihren Kopf schief und schaut mich an. »Was stimmt nicht mit Ihnen?«
Ich rücke meine ohnehin schon perfekt sitzende Krawatte zurecht. »Mit mir ist alles in Ordnung.«
»Alles klar …« Sie wendet sich der Zeichnung zu und starrt darauf.
Gefällt es ihr?
Natürlich gefällt es ihr, sei nicht so unsicher. Wem würde es nicht gefallen?
Ihre Augen weiten sich, als sie ihren Blick über die Zeichnung wandern lässt. »Das ist wundervoll.«
Ich stoße die Luft aus, die ich unmerklich angehalten hatte. Zumindest habe ich noch ein wenig von meinem Zeichentalent, so wie Grandpa immer behauptet hat. Eines muss ich dem alten Mann lassen. Er hatte tatsächlich recht, als er behauptet hat, dass Talent nicht verschwindet – nur Leidenschaft.
Meine Kehle schnürt sich zu. Konzentrier dich auf die Aufgabe, die vor dir liegt.
Obwohl ich mehrere Versuche und mehr als vierundzwanzig Stunden gebraucht habe, war es einfach, Zahras Idee umzusetzen. Zu einfach. Als mir vor einer Stunde bewusst geworden ist, dass ich die Zeichnung fertiggestellt hatte, habe ich eine merkwürdige Leere empfunden. Meine Finger hatten weitermachen und dem verzehrenden Gefühl hinterherjagen wollen, das mich die Welt um mich herum vergessen ließ.
Es widerstrebt mir, dass ich mehr davon will, denn so fühle ich mich schwach, so als würde ich die Kontrolle verlieren.
»Ich muss los.« Ich bin im Begriff, mich umzudrehen.
»Warten Sie!« Zahra springt von ihrem Stuhl auf.
»Was?« Ob sie weiß, dass die Zeichnung von mir stammt?
Verdammt.
Sie winkt mich zurück. »Die Signatur fehlt.«
»Wo?«
»Auf der Zeichnung.«
Ich erstarre und wähle meine Worte so bedacht wie möglich. »Und?« Sehr schlau.
»Wer immer sie angefertigt hat, verdient Anerkennung für die Arbeit. Das ist nur fair.« Sie senkt den Blick zum Boden.
Interessant. Es ist das zweite Mal, dass sich zeigt, wie schwer es ihr fällt, Menschen zu vertrauen. Liegt es daran, dass Lance Baker eine ähnliche Idee wie sie eingereicht hat? Oder ist etwas anderes in ihrer Vergangenheit vorgefallen?
Doch statt stolz darauf zu sein, dass ich sie richtig eingeschätzt habe, macht sich ein unangenehmes Gefühl in meiner Brust breit. Man kann mir vieles nachsagen, aber ich bin kein Dieb.
Ich verdränge die Empfindung. »Den Künstler kenne ich aus der Animationsabteilung. Es war schnell hingekritzelt, also muss die Person nicht namentlich erwähnt werden.«
»Können Sie mir die Nummer geben, damit ich mich bedanken kann?«
Ich runzele die Stirn. »Die Person möchte anonym bleiben.«
»Okay, wie wäre es, wenn Sie dann dem Künstler stattdessen meine Nummer geben. Wenn er mir nicht schreiben will, muss er das nicht tun. Kein Problem.« Sie stößt den Atem aus.
Eine dunkle Haarsträhne fällt ihr vor die Augen. Sie streicht sie sich hinter das Ohr, in dem sie eine Reihe ungewöhnlicher Ohrringe trägt.
Ich trete einen Schritt vor, um mir ihre anderen Entwürfe anzusehen, doch ich weiche zurück, als sie tief einatmet,
Mein Ächzen bleibt mir zum Glück im Hals stecken. »Und was versprechen Sie sich von einem Austausch mit dem Künstler?«
Sie sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Sind Sie immer so zynisch, was die Absichten anderer Leute angeht?«
»Ja.«
Sie verdreht die Augen. »Seine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, bedeutet ja nicht, sich in philosophischen Diskussionen zu ergehen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
Sie beugt sich lachend über ihren Schreibtisch und bietet mir eine gute Aussicht auf ihr festes Hinterteil, während sie etwas auf einem Haftzettel notiert. Hitze breitet sich von meiner Brust in Körperregionen aus, die besser nicht involviert werden sollten.
Aus irgendeinem Grund leide ich scheinbar unter einer Art Krankheit, die dazu führt, dass ich mich in ihrer Gegenwart wie ein Irrer auf Sexentzug aufführe. Ich trommele mit den Fingern gegen meinen Oberschenkel, um meine Hände bei mir zu behalten.
Du solltest ein Auge auf ihre Absichten haben, nicht auf ihren Körper.
Irgendetwas stimmt mit ihr nicht. Vielleicht ist ihre Nettigkeit nur gespielt, und hinter der Fassade verbirgt sich etwas ganz anderes. Ich kann nicht glauben, dass sie nicht mit dem Gedanken gespielt hat, zu melden, dass ich meine Position ausgenutzt und sie geküsst habe. Jeder in ihrer finanziellen Lage würde das tun.
Sie dreht sich um und reicht mir den neonpinken Haftnotizzettel. »Hier.«
Nimm ihn nicht an. Geh einfach weg, bevor du einen riesigen Fehler begehst.
Ehe ich mich davon abhalten kann, greift meine Hand automatisch nach dem Zettel.